Im Rhythmus des Laufens. Florian Jäger

Im Rhythmus des Laufens - Florian Jäger


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Wissenschaftsbetrieb fühle ich mich fehl am Platz, ich denke, spreche, fühle anders als meine Kolleginnen und Kollegen. Ich gehöre dort nicht hin. Das muss man mir nicht sagen, das spüre ich. Und dennoch komme ich nicht weg von all dem – ich wüsste nicht, wohin.

      Wie soll ich ändern, wenn ich nicht weiß, zu was ich ändern soll?

      Bewegen muss ich mich, in irgendeine Richtung muss ich gehen.

      Die ersten Schritte gehe ich geduckt. Um mich die klare Luft des morgendlichen Bergortes Yamanashi.

      Der Fuji liegt da, nah. Konkret und eindeutig hebt sich seine Bergspitze ab, das breite Plateau, das von hier unten den innenliegenden Krater nur vermuten lässt. Ich stehe auf dem Fußweg einer Stadtbrücke, links von mir die flachen Absperrpoller zur Schnellstraße, rechts ein dreigliedriges Geländer. Die Ampel leuchtet Grün auf die leere Straße; japanische Schriftzeichen, die Wege für andere weisen. Vor mir liegt als einzige Erhebung weit und breit, freistehend, der Vulkan. Davor nur ein paar Häuser, ein brauner Kastenwagen, ein Hund, der mich von seiner Hütte wie vom Thron anschaut, und eine Reihe an Strommasten, in gleichmäßigem Abstand. Ich zähle, 13 Kabel. So viel Energie.

      Das Ziel liegt klar vor mir, ich muss nur darauf zugehen. Aufrechter nun, beschleunige ich meinen Schritt.

      Immer besser gelaunt lasse ich die noch schlaftrunkene Kleinstadt hinter mir und setze die ersten Schritte in den Wald. Der Pfad, den ich betrete, stammt aus der Edo-Zeit, in der die Tokugawa-Shogune die Insel vom Rest der Welt abschotteten. Im 17., 18. und 19. Jahrhundert war der Yoshidaguchi-Weg ein vielgenutzter Pilgerpfad.

      Eine Allee führt mich zum roten Tor des Sengen-Schreins. Ein steinerner Junge mit platter Mütze, der mir wahlweise frech oder ermutigend zulächelt; meine Ausrüstung auf dem Boden zur ersten Pinkelpause.

      Im Shinto-Glauben ist der Fuji ein heiliger Berg, Wohnort zahlreicher Gottheiten, über allen die Konohanasakuya-hime, „die wie Baumblüten herrlich-blühende Prinzessin“. Ihr Symbol ist die Kirschblüte, das Feinfühlige und Süße des Lebens. Es ist gut, dass sie hier ist, aufmerksam, dass sie die verschwitzten und verschmierten Wanderer empfängt.

      Es gibt eine Glaubensgemeinschaft, die sich einzig der Anbetung des Fuji verschrieben hat, die Fujiko. Einmal im Jahr besteigen sie gemeinsam ihren Berg. Auf Saibokus, Holztafeln, schreiben sie ihre Wünsche auf, Gesundheit, beruflicher Erfolg, Liebesbeziehungen. Dann werfen sie die Tafeln in ein großes Feuer, aus dem das schnell brennende Holz in grauen Schwaden fortsteigt; die Pilger hinterher. Der Yoshidaguchi-Pfad ist gesäumt von Schreinen, die kontemplativ und nach festen Riten begangen werden.

      Warum begibt sich jemand auf Pilgertour?

      Reinigung. Läuterung. Hoffnung.

      Loswerden, Annehmen, Wunsch zur Änderung.

      Der Weg vor mir ist verwachsen, Blättergrün, unter dem ich mich wegbeuge, manchmal nur mühsam erkennbare Spur. Der Pfad scheint von der Zeit abgelöst, ausgetauscht durch moderne Moden. Die ab und zu auftauchenden bemoosten Steinfiguren und Torbögen verstärken den Eindruck. Es ist mein Glück: Die Einsamkeit und das Unwegsame werden für mich zum Wert, der mich in meiner Bewegung trägt.

      Ich weiß sehr wohl: Über mir, in etwa 2300 Metern, warten Scharen an Wanderern, die bis zur Baumgrenze, der vierten Station, in Bussen hochgekarrt werden, über eine befestigte Straße; die das Loslaufen aussparen. Von dort schlängeln sie sich die Vulkanpfade hinauf, in Strömen. Eine andere Art von Energie, eine andere Art des Pilgerns. Mittlerweile hat mich hoher Wald verschluckt, zwischen 20 bis 30 Meter hochragenden Bäumen bin ich selbst noch keinen Meter in die Höhe gegangen.

      Der Fuji-san hat viele Übersetzungen, „endloser Berg“, „reicher Krieger“, „Blume“, „Regenbogen“. Wie kann etwas, mit nur einem Wort bedacht, so viele unterschiedliche Namen haben?

      Es heißt, die Aussprache japanischer Schriftzeichen wandelt sich, und mit ihr die Bedeutung der Zeichen. Es ist nur ein kleiner Schritt zu dem Gedanken, dass sich mit der Bedeutung der Zeichen auch das Wesen des Bezeichneten ändert. Vielleicht entwickeln sich die Namen von etwas zu etwas anderem. Vielleicht haben sie nie etwas Konkretes gemeint. Vielleicht erscheinen sie dem Betrachter als Kippfigur, die spontan ihre Gestalt wechselt, werden zu einem „Mal so, mal so“.

      Meine Haare schon nass von der hohen Luftfeuchtigkeit wird der Wald dichter. Er nimmt mich auf. Ein paar zaghafte Schritte, ein Schnuppern: der Geruch von japanischen Rotkiefern. Zuletzt ein kurzer Blick auf den Weg hinter mir. Dann laufe ich los. Laufe einfach los, Waldwege hinauf, enge Kurven entlang, über Wurzeln, unter Ästen, an wuchernden Sträuchern vorbei; meine Beine, die unentwegt durch die Luft schwingen. Es läuft sich gut.

      Mischwald nun, mal heller, mal dunkler, eine Aussicht taucht vor mir auf, zwingt mich zum Stehenbleiben. Ich schaue hinunter, ohne zurückzuschauen – so gewunden sind die Wege, dass ich längst den geografischen Überblick verloren habe, nicht mehr weiß, wo ich gestartet bin. Wanderer begegnen mir, eine Kindergruppe, die wohl kaum heute zum Gipfel steigt; sie grüßen herzlich, „Konnichiwa“, mit leichter Verbeugung, auch ich, selbst in der Bewegung. Wir lassen die Zeit gegeneinander laufen: Die Beine bewegen sich voran, der Oberkörper beugt sich herüber.

      Ich laufe einfach immer weiter.

      Nach etwa vier Stunden erreiche ich die vierte Station – den größten Teil der horizontalen Wegstrecke habe ich geschafft, dazu 1500 Höhenmeter. Ich stehe nun auf 2300 Metern, warte auf den hinterherhinkenden Atem und schaue auf Menschen, die aus Bussen steigen, die sich in feinporiger Funktionskleidung aneinanderreihen; dicke Handschuhe, Selfies vor den ersten Wanderschildern. Für einen Moment werde ich Teil ihres wattegebauschten Aufbruchs. Wie Wattebäusche legen sich auch die Schleierwolken um uns, nicht unschön. Sanft stupsen sie uns auf das Wesentliche. Da geht’s lang.

      Keine Sorge, das hatte ich nicht vergessen. Weiterlaufen.

      Unterwegs begegne ich Kraxelnden, 60-, 70-, 80-jährig. Einmal im Leben auf den Fuji. Seit der Busstation tragen viele der Wanderer Sauerstoffgeräte, die aussehen wie auf den Rücken geschnallte Wasserkocher; auch Jüngere, die ihrer Ausdauer nicht trauen, eine Frau, die für eine andere die Sauerstoffflasche trägt, ein Schlauch, der von ihrem Rücken hinüber zum Mund der anderen reicht. Drumherum Kinder, die die Aufregung der Erwachsenen spüren, die mehr zu ihnen als hoch zum Gipfel schauen. Die Menschenmenge verdichtet sich auf dem schmalen Weg.

      Die Japaner sagen: „Wer einmal auf den Berg Fuji steigt, ist weise. Wer ihn zweimal besteigt, ist ein Narr.“ Vielleicht ist es gut so, diese sprichwörtliche Reglementierung, vielleicht müssten sie sonst weitere Wege in den Vulkan hauen.

      Die größten Schlangen sind am Fuji-san nachts zu erwarten: Der Sonnenaufgang vom Fuji betrachtet gilt als „legendär“, als „einmalig“. Ich stelle mir das vor wie in den Tempeln von Angkor Wat, in Machu Picchu oder an der Golden Gate Bridge: Du reckst den Kopf hinter den Menschenmassen und stimmst ein in das sich jeden Tag wiederholende kollektive „Ah“, einfach, weil du hier bist, weil du früh aufgestanden bist, weil du gelesen hast, wie besonders es ist. Hinterher beschreibst du es dann selbst als toll, weil du fürchtest, durch Zweifel deine Erfahrung zu schmälern. Vielleicht kommt daher die nebelumwundene Schüchternheit des Fuji – eine Provokation, eine Zumutung an das störungsfreie Erleben.

      In der Schlange zu gehen, fühlt sich an wie Stillstehen. Mich hält es nicht lange in der artigen Reihe, auf die Stöcke gestützt, stoße ich mich ab vom Boden und an den anderen vorbei. In großen, breiten Schritten ziehe ich mich in Richtung Spitze.

      Die Koordination der Körperteile klappt immer besser, auch hier, wo es vulkansteiniger, gerölliger und steiler wird. Mein Atem geht schwer, der Puls schnell; der Kopf schwirrt leise – doch das Dauerlächeln überzeichnet alles. Je schneller ich werde, umso stiller wird es. Ich rausche im Sinne des Berges.

      Als ich die Wolkengrenze erreiche, entlädt sich mein Glück in Tränen. Es hinterlässt Schlieren auf meiner von Schweiß und Staub angebräunten Haut.

      Der Fuji ist ein Anfang. Das ahne ich im Hochschwingen.

      Natürlich ist es nicht das erste Mal, dass ich laufe – aber Loslaufen ist anders


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