Im Rhythmus des Laufens. Florian Jäger

Im Rhythmus des Laufens - Florian Jäger


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Tomaten, Karotten und Rote Beete für die Eisenzufuhr. Bei jedem Bissen Lachs fühle ich nicht nur die Zartheit des Fischfleisches, ich spüre regelrecht, wie die Regeneration in meinem Körper voranschreitet; wie die Eiweiße und Fettsäuren mich dabei unterstützen, schon am nächsten Tag wieder alles geben zu können. Für einen Moment schließe ich genüsslich die Augen.

      Lachs-Luxus. Eine Ausnahme, die ich mir angesichts des hohen Fettanteils nur nach wirklich harten Einheiten erlaube. Ich tanze Tango mit meiner Psyche, in wechselnder Führungsrolle. Manchmal tragen die sehnsuchtsvollen Gedanken an das Essen durch ein gesamtes Training. Lachs, wahlweise auch Kaiserschmarrn. Nie schmeckt mir Essen besser als nach einem fordernden Training.

      Als Nachtisch gibt es Magerquark mit Banane und Walnuss – nicht zu viel, auch wenn es die guten Fette sind. Ich überlege, noch ein Stück Schokolade zu essen, vertage das aber aufs Wochenende.

      „Super“, sagt Lydia, „nun habe ich ein schlechtes Gewissen, mir ein Stück zu nehmen.“

      Zum Glück tut sie es trotzdem.

      Aus dem Ratgebersatz „Marathon muss nicht nur Verzicht sein“ höre ich als zentrale Botschaft: „Marathon ist Verzicht.“ In jeder Trainingsphase stürze ich mich in eine Gladiator-Attitüde und Verzichts-Heroismus. Morgens Haferflocken, Obst, streng rationierte Krümel Knuspermüsli; mittags ein Sonderdeal mit der Kantine: Kartoffeln, zweierlei Gemüse, keine Sauce, manchmal Couscous-Salat, mit ein, zwei Bröckchen Schafskäse; abends nicht selten Brot – aber nicht zu viel, kurz vorm Schlafengehen brauche ich die Energie der Kohlenhydrate kaum – oder Linsen-, Tofu-, Eiergerichte. Beinahe immer dabei: Magerquark und Rohkost.

      Das Essen von rohen Karotten hat sich mittlerweile zur Antwort auf alle möglichen Herausforderungen des Lebens entwickelt. Es ist wahr, wenig spendet mir so viel Trost wie das Knacken des Möhrenbruchs.

      Das Ziel dabei ist es, möglichst schnell zu einem fitten Körper zu kommen, fit gleich fettarm und funktionstüchtig – Phänotyp hager und sehnig. Dazu versuche ich, auf Genussmittel zu verzichten, konzentriere mich auf die entscheidenden Nährstoffe.

      Ich lese von einer Studie, in der Ratten die Einnahme ihrer gewohnten Nahrungsmittel entzogen wurde, ihnen stattdessen die Nährstoffe in Rohform gespritzt wurden. Alle Versuchsratten starben.

      Manchmal gehe ich abends noch mit einem kleinen Resthunger ins Bett, verlasse mich darauf, dass die Träume ihre Rolle als Hüter des Schlafs erfüllen und ich, um nicht aufzuwachen, in meinen Träumen die fehlende Nahrung aufnehme.

      Was ich mittlerweile merke, selbst Essbedürfnisse und -gewohnheiten sind spiralenförmig angelegt, wirbeln in die eine oder andere Richtung. Mache ich keinen Sport, spüre ich automatisch ein erhöhtes Bedürfnis, mich ungesund zu ernähren. Ich habe dann nicht nur mehr Lust auf Süßes und Fettiges, ich finde auch, eine Tüte Chips, Bier und ein paar Kekse auf der Couch passen einfach gut zu dem Lebensstil, den ich da gerade führe. Beginne ich dann – aus welchem Anlass auch immer – damit, wieder Sport zu treiben, ändern sich meine physiologischen Bedürfnisse automatisch mit. Ich habe wieder mehr Lust auf Kartoffeln und Quark, Gemüse, Tofu, Linsen, Fisch, logisch, ich brauche schlicht mehr Nährstoffe, etwas Reales. Der Körper merkt das, er fordert das ein; innere Prozesse, die den Appetit steuern. Und plötzlich ist auch der Lifestyle einer gesunden Ernährung wieder verdammt attraktiv, Fett, Zucker, all das Klebrig-Gemütliche hingegen verpönt.

      So einfach ist das.

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      Wir räumen die Teller ab und lassen uns auf die Couch fallen: erstmal runterkommen. Ich hänge da, völlig erschöpft, aber auch irgendwie leutselig, stolz auf das Durchgestandene, entrückt optimistisch. Als ob ich gerade eine große Prüfung bestanden hätte und das Glück darüber mitsamt dem Im-Mittelpunkt-Stehen noch weiter auskosten wollte. Rein aus Vernunftgründen geht’s dennoch ins Bett. Einer der wichtigsten Faktoren für eine gute Regeneration: viel und gut schlafen.

      Schnell findet Lydias Atem einen gleichmäßigen und ruhigen Rhythmus. Ich liege da, müde, doch an Schlaf ist nicht zu denken. Das Adrenalin wirkt nach, die körpereigenen Hormone, die mich warnen: Bleib wachsam, die Gefahr ist nicht gebannt, irgendetwas kommt da noch. Ja klar, aber doch sicher nicht mehr heute. Oder? Dazu die Britzelbeine, etwas Wunderbares, weil Lebendiges: Es arbeitet in meinen Waden, alienhaft bewegen sich Muskelstränge, drängen unter der Hautoberfläche hervor, kleine Delfine, die springend und spielend Touristen auf einem Ausflugsboot unterhalten. Ich schaue ihnen gerne zu, wie sie kommen, gehen, überraschend auf- und abtauchen, merke, wie sie ihre sanften Sprünge unter meiner Haut vollziehen. Die Muskeln versuchen, sich nachträglich an die eben geforderten Leistungen anzupassen. Unbedingt wollen sie es beim nächsten Mal richtig machen, besser.

      Irgendwann schlafe ich ein. Im Schlafen werde ich dann selbst zum Delfin: Ein Auge und eine Gehirnhälfte bleiben wach, stets bereit. Das ist der Kompromiss.

      Ich wache dreimal auf in der Nacht, um mich, durchgespült durch das späte und wiederholte Wasserhumpen-Stürzen, zu entleeren. Am nächsten Morgen bin ich gerädert. Nur mühsam komme ich in Tritt auf meinem Zehn-Kilometer-Regenerationslauf zur Staatsbibliothek Ost nahe der Friedrichstraße.

      Ich zwinge mich dazu, aufmerksam an der Dissertation zu arbeiten, bedränge mich, zu schreiben, zu lesen, zu denken. Immer wieder schweifen meine Gedanken ab. Durch die Müdigkeit gnädig gebe ich den Abschweifungen jede Stunde ein bis zwei Minuten nach. Ich spüre den Körper, das Körperrumpeln nicht, bis ich aufstehe und sich mein Körper in Einzelteilen zur Treppe aufmacht. Die Treppe der Bibliothek ist das zentral im Raum angelegte Portal, jeder, der sich zu ihr hin oder von ihr fort bewegt, wird von den anderen aufmerksam beäugt. Dichtes Arenaflimmern: Für die soziale Akzeptanz ist es unablässig, hier eine gute Figur zu machen. Ich greife nach dem Geländer und frage mich, ob die anderen das Heroische in meinen kantigen Bewegungen erkennen.

      Oder bloß einen Humpelnden sehen. Einen vorschnell Gealterten.

      Meine Dehnübungen am Tisch verschleiere ich durch das Fallenlassen und Aufheben einer Papierseite.

      Die Verabredung zum Mittagessen sage ich ab. Zu anstrengend.

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      Der Marathon ist immer da: Er hockt im Halbschatten des Unbewussten, geiernd auf den richtigen Moment, ins Licht zu rücken; eine kleine Nachlässigkeit, eine Lücke zwischen zwei Konzentrationszügen, und er überspringt die Gleise hinüber zur Seite des Bewussten, seine Gegenwärtigkeit umso deutlicher machend, als er es direkt ausschreit: „Ich bin da, ständig.“

      Manchmal erscheint er auch als der blinde Passagier, den man, einmal entdeckt und akzeptiert, aus den Gedanken ziehen lässt – der sich jedoch bei jeder Fahrkartenkontrolle wieder in die Erinnerung drängt.

      Es hat etwas Teuflisches, wie sich der Marathon in verschiedenen Wesen äußert: als Gedanke an das gestrige Training, als plötzlicher Schmerz, als wundervolles fernes Ziel, als wundervolles nahes Ziel, als Druck, als Aufgabe, als gedankliche Vorstellung eines körperlichen Aktes, als etwas, das nach Optimierung verlangt.

      An manchen Tagen schaffe ich es, die Gedanken in den Abend zu schieben, auf das Aufwärmen für das Tempotraining oder einen regenerativen Lauf.

      Filip sagt, es kann kaum etwas Besseres passieren, zwei große Projekte, intensive Arbeit und Marathon, zur selben Zeit.

      „Es ist doch ganz einfach, Flo, du kannst die Disziplin und die Konzentration aus dem einen ins andere mitnehmen. Schau mal, so bist du darauf eingestellt, die Sachen aktiv voranzutreiben. Gleichzeitig hast du wenig Raum und Zeit, zu hinterfragen. Optimal. Du bist doppelt diszipliniert, die Rhythmen stabilisieren sich gegenseitig. Ist doch geweldig, Flo, voller Fokus.“

      Ich weiß nicht.

      Es ist schwer, gegen diese Logik zu argumentieren. Trotzdem will ich schreien, Filip, ich bin erschöpft, doppelt erschöpft und nur halb anwesend; weder beim Laufen noch beim Arbeiten bin ich voll da.

      „Eh, Flo, du bist doch hier, läufst, verbesserst dich – was jammerst du.“

      Im Grunde hat Filip recht, voller Fokus: Wenn ich eh schon beim Training bin, kann ich dort auch alles


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