Im Rhythmus des Laufens. Florian Jäger

Im Rhythmus des Laufens - Florian Jäger


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Winter im Rückspiegel, klirrend kalte Läufe durch New York. Harlem am Sonntagmorgen, Gospel und Jazzfrühstück; Familien, die eng zusammenstehen, bis zu den Kleinsten in Anzug und Kleidchen. Wandbilder, Branntweinhände, Menschen, die an dampfenden Gullys stehen. Das Leben findet auf der Straße statt. Die Kälte friert mir den Atem ein, brennt sich hindurch bis zur Lunge; Nasenluft, feine Kristalle am Oberlippenbart. Ich flüchte mich zum Aufwärmen in ein Bankgebäude, wo ich warme Aufnahme in die Gruppe der Wartenden finde.

      „Damn cold, eh?“

      Lauf zu den Innennähten Brooklyns. Auf den dunkelgelben, dickbereiften Schulbussen hebräische Schriftzeichen. Ich laufe auf den menschenleeren Straßen, Shabbat. Am späten Nachmittag treten die Ersten aus den Synagogen und Reihenhäusern, Männer in schwarzen Mänteln, mit dunkelbraun glänzenden Schtreimeln aus Zobelschweifen oder Grisfuchsfellen, die sie in leichter Beugung mit der linken Hand dem Wind zum Trotz festhalten. Ihre Schritte sind klar bemessen, das Ziel ihres Weges traditionell und rituell bedingt. Ich laufe, gegen den Wind, solange ich kann und suche mir dann eine Subway-Station.

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      Während der Trainingspausen bewegen sich die Erinnerungen.

      In Japan laufe ich am liebsten in der Dämmerung. Ich statte in Nara dem Daibutsu, dem großen Kosmischen Buddha, einen Besuch ab. Würde er sich in der um ihn herum gebauten Halle aufrichten, sicher stieße er sich den Kopf. Ob er die frische Luft vermisst? Ab und zu besuchen ihn Vögel, und die Nara-Hirsche schmiegen sich zahm an ihn, wärmen seinen Leib aus 450 Tonnen Kupfer.

      Am Hokkedo-Tempel mache ich Treppenhüpfen, abwechselnd nehme ich jede Stufe und jede zweite Stufe mit, dann eine Schleife am Mannaoshi-Jizoson-Tempel entlang bis zur Bar am Scheitelpunkt. Ein Tanuki, ein Marderhund, steht dort auf zwei Beinen, hält mir auffordernd die Sake-Flasche hin, grüßt mich keck, zwei Finger am Strohhut.

      Im Garten meines Hostels, einem traditionellen japanischen Haus, fließt das Wasser über stumme Steine. Ist es auf der Ebene angekommen, wird es über ein unsichtbares Rohr zurück zu den obersten Steinen gepumpt. Ein Kreislauf. Nach einiger Zeit des Schauens lerne ich, die Steine zu unterscheiden; vom Wasser verstehe ich nur, dass es fließt.

      Abends schiebe ich die Shoji zu, die mit Papier bespannte japanische Schiebetür; matte Schatten, alles Äußere legt seine Deutlichkeit ab.

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      Die Erinnerungen tragen nicht weit, man bricht ein mit ihnen auf dünnem Eis. Die Erinnerungsbänder müssen ständig neu belaufen werden.

      Die Reiselust lässt nie lange auf sich warten, noch einmal verschiebe ich den Trainingseinstieg: Fernlauftour im Schwarzwald, über den Westweg. Zusammenstauchen der Wanderetappen, es läuft sich einfach: immer dem roten Quader auf den Holzschildern nach. Am ersten Tag 75 Kilometer, der Laufrucksack anschmiegsam, ein Schlafsack, Verpflegung und Dostojewskis Der Idiot – 900 Seiten Datscha-Gefühl, Spaziergänge und schleichender Wahnsinn. Brunnen und Waldquellen füllen mir die Wasserblase, der undurchlässige Fichtenwald bedrückt mich bis zu dem Gefühl, hier oben alles Lebendige zurückgelassen zu haben.

      Als es dunkel wird, die Suche nach einem Schlafplatz, die dicht aneinandergerückten Nadelbäume, das unruhige Gehölz; es lädt mich nicht ein. Ich erreiche eine unbeleuchtete Herberge, verschlossen. Auf der Rückseite ein weiterer Eingang, ich trete ein, laufe über den Flur; hinter einer zweiten Tür höre ich einen Fernseher. Ich klopfe. Der Gastwirt, verärgert, mehr noch überrascht, nimmt sich meiner an. Er erklärt mir den Weg zu einer versteckten Hütte, unten am Karsee. Ich muss ihm versprechen, es niemandem zu verraten. Im letzten Licht des Tages komme ich an: Wie ein verloren gegangener schwarzer Knopf liegt der See da, unergründlich tief zwischen steilen Karwänden, die der Sonne nur den Mittagsbesuch gewähren. Die Hütte steht offen, weite Öffnungen für Tür und Fenster, deren Einbau nie beabsichtigt war; innen Seitenbänke aus fünf faustbreiten, runden Holzstäben, Spuren hinterlassende Druckpunkte auf dem müden Läuferkörper. Ich sitze am Tümpel und esse Pumpernickel und Räuchertofu.

      Nachts läuft zweimal etwas Schweres über meinen Körper; ich schüttele es bloß ab, wische es weg wie einen Albtraum. Ich bin zu erschöpft, um schlecht zu schlafen. Später liege ich doch wach: Es kratzt und knarzt. Ich schalte meine Stirnlampe ein, schiele aus zusammengekniffenen Augen auf die fette Ratte in der Ecke der Hütte. Sie mümmelt an einem Taschentuch.

      Ich versuche, die Ratte zu verscheuchen, aber sie bleibt; sie hat recht: Ich bin hier der Eindringling. Ich packe meine Sachen, esse noch im Dunkeln am Tümpel eine Portion kalter Haferflocken und mache mich im ersten Licht auf die zweite Tagestour des Westwegs; es ist dunstig.

Im Bratwurstdunst

      Renn-steig. Renn-steig. Renn-steig.

      Ich sitze im verwaisten Regionalexpress, drücke mir die Nase an der Scheibe platt, während ich die Silben wie magische Worte vor mich hin hauche: Beim „Renn“ sauge ich die Luft tief ein, beim „steig“ lasse ich sie langsam fahren; ein dunstig-milchiger Nebel beschlägt die Scheibe. Meine Pupillen ziehen mit den Landschaften hinter dem Fenster mit, im gleichförmigen Rhythmus eines Diaprojektors suchen sie da draußen Fixpunkte, um sich an ihnen Stück für Stück vorzuhangeln. Zarte, dunkel bewaldete Schluchten tauchen auf, alles dicht vor den Augen verschwimmend, erst die ferneren Bäume nehmen plastisch Figur an. Renn-steig. Da, irgendwo vor mir liegt er, verborgen im Dicht des Thüringer Waldes.

      Der weiche Bahnsitz lädt zum Abschweifen ein. Ein Augenschließen, und schon bin ich Kind, sitze zu Hause im niedersächsischen Braunschweig am runden Esstisch aus dunkler Esche. Die Sonne scheint ungeniert durch die breiten Velux-Fenster, vorbei am zeitgegerbten Holz der Rahmen, fällt in Mosaiken auf die vertraute Kopie des Kandinsky-Bildes Jaune, Rouge, Bleu. Noch ungeduscht und in sportwarmem Jogginganzug berichte ich meinem Vater von den eben erlebten Bundesjugendspielen. Er schaut mich an; ein Lächeln huscht über sein Gesicht, die Wangen erwärmen sich daran, seine Augen, sie glimmen. Da ist etwas, eine belebende Erinnerung. Und dann folgt seine Geschichte vom Rennsteiglauf, die ich im Lauf der Jahre noch unzählige Male hören werde.

      Sie handelt von einer knatternden „Schwalbe“, die sich Berge hochmüht, von viel zu viel Bieren am Vorabend, von Zu-spät-an-den-Start-Kommen; einer trotz allem noch zur Hälfte gerauchten Zigarette, einem Startritual. Sie handelt vom Überholen, Hunderte, für die der Vorbeilaufende kein Auge hat. Die Geschichte endet jedes Mal gleich: „(…) hatte ich vielleicht einen Muskelkater danach, oh, oh. Das musst du dir mal vorstellen: ohne Training. Aber irgendwie war’s klar, keine Frage, da läufste mit.“

      Ich öffne die Augen. Die Orte streifen an mir vorbei wie vergehende Jahre. Ich reise nicht nur an einen Ort, ich reise in der Zeit. Reise mit der Geschichte.

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      Auch wenn sie nicht läuft, kennt auch meine Mutter den Rennsteiglauf. Mit ihr bin ich am Nachmittag verabredet, ein gemeinsamer Ausflug wie früher. Obwohl wir beinahe ein Dreivierteljahr vor dem Lauf die Suche begonnen haben, gab es keine Unterkunft mehr in Oberhof, Schmiedefeld oder in einem der kleinen Rennsteigdörfer dazwischen, denen heute noch der Schiefer ein von anderen Mittelgebirgsgegenden unterscheidbares Aussehen verleiht. Das blaue Gold, dessen matter Schimmer auf Dächern in kaum befahrenen Gegenden wenig bewundert wird.

      Nur in Ilmenau, in dem noch vor dem Ersten Weltkrieg Kurgäste – nicht selten dabei die Weimarer Prominenz – zwischen thüringischen Nadelwäldern, Bergbaubrüchen und Porzellanmanufakturen faulenzten, war online noch ein Schlafplatz verfügbar gewesen. Hier wird am nächsten Morgen ein Shuttlebus abfahren, der mich zum Startort bringt.

      Ankunft in Ilmenau. Als der Zug vor meinen Augen ausfährt, stehe ich still in einem Gefühl der Verlassenheit; zwei Stunden zu verbringen bis zur vereinbarten Treffzeit, dabei große Anstrengungen vor dem morgigen Lauf vermeiden. Ohne Orientierung spaziere ich vom Bahnhof los, insgeheim auf der Suche nach mir Vertrautem: malerische Orte, wie ich sie von Besuchen in Weimar und Jena kenne, feudale Architektur, ein nettes Gartenhaus mit grünen Fensterläden, Büsten vergangener geistiger Größen. Oder das liebgewonnene Typikum südthüringischer Kleinstädte: aus den erdgeschössigen Fenstern lehnende, von weißen Häkelgardinen und blassrosa Orchideen


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