Im Rhythmus des Laufens. Florian Jäger

Im Rhythmus des Laufens - Florian Jäger


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      Vorn hält sich der spätere Sieger, Samson Tesfazghi Hayalu vom SV Sömmerda, noch bedeckt hinter dem tempomachenden Tom Thurley. Gemeinsam mit einem dritten Läufer setzen sie sich vom Feld ab. Ich sehe, wie sie Schritt für Schritt im Wald verschwinden. Meiner Kräfte unsicher halte ich mich mit einem gemäßigten Tempo zurück, bleibe heimelig verborgen in einer Gruppe unter den ersten 20. Ich bin froh, dass ich in den letzten Wochen wenigstens etwas habe trainieren können, wenn auch weit weniger, als ich geplant hatte. Schon die ersten Steigungen überraschen mich, der Puls ist noch nicht angekommen im Hochleistungsmodus, stottert haltlos einen zu schnellen Rhythmus, der Atem, der sich haspelnd darin verfängt. Der Kopf vergisst die Beschwerden des Körpers in dem Moment, als er merkt, dass wir uns, gemeinsam, Stück für Stück an die Vorderen saugen. Er prescht voraus. Dem Körper bleibt nichts, als sich den Erfordernissen anzupassen.

      Insgesamt ist die Strecke – soweit habe ich mich doch informiert – ganz verträglich: etwa 282 Meter aufwärts, sogar 391 Meter abwärts. Luxus. Der höchste Punkt, Plänckners Aussicht auf 973 Metern, kurz vor der Hälfte. Ab dann quasi nur noch abwärtsrollen.

      Es geht tiefer in den Wald, gemischtes Grün, dünne, diszipliniert aneinandergereihte Kiefern, hier und da aufgelockert durch eine Buche oder den hell gefleckten Saum einer Birke; Wanderer, die uns von einem benachbarten Weg zuklatschen. Nach circa fünf Kilometern fühle ich mich wohl im Rennen, nach zehn Kilometern habe ich mich, einen Läufer nach dem anderen passierend, an die Vorderen herangetastet. In einer Vierergruppe laufen wir jetzt ständig wechselnde Überholmanöver.

      „Acht, neun, zehn“, zählt ein älterer Herr mit beigem Camperhut am Streckenrand und hält uns den erhobenen Daumen entgegen; kommt, weiter.

      An der Verpflegungsstation greife ich zum Trinkbecher. Das Wasser schwappt, und mir bleibt nur ein Minischluck. Nach 20 Minuten hin und her setze ich mich von den drei Kameraden ab, mache die nächsten Meilensteine in Sichtdistanz aus. Der Weg ist nun kurviger, auch steiler und steinreicher. Meine schlanken Adidas Takumi Ren sind kompromisslos: Sie drücken und quetschen sich über Wurzeln, Matsch und Geröll, nie lange genug am Boden, um dem Fuß die manipulierende Erholung des Umknickens einzuräumen.

      Nur noch fünf vor mir, drei davon uneinholbar enteilt. Ich fühle mich gut, frei, weder Druck noch Müdigkeit laufen mit, nur die Lust am Auf und Ab. Der Fünftplatzierte, ein kaum Volljähriger in rotem Shirt, rückt in Berührungsweite. Ich fühle mich schnell, schnell in einer Form, die nicht im Widerspruch zur Geduld steht: Es dauert, bis ich den rot Gekleideten überhole. Beinahe einen Kilometer hält er noch Schritt. Ich bin mir sicher: bloß das letzte Winden eines Geschlagenen.

      Wichtig: bei all dem kein einziger Blick auf die Uhr. Rennsteigliche Zeitunabhängigkeit.

      Es rollt gut bergab – schon vorbei am Vierten. Für einen Moment spüre ich bewusst den waldig-weichen Boden unter meinen Füßen. Ein paar Hundert Meter später ein Hecheln am Ohr. In einer Kurve drehe ich leicht den Kopf. Der schon Geschlagene im roten Shirt ist wieder da. Mann, was für ein entschlossener Blick; wir beide in Wahnsinnstempo, auch bergab kein Ausruhen, Beschleunigung. Ein sturer Kopf, der das Murren des Körpers missachtet. Klare Botschaft an die Beine: Hier geht’s um was.

      Ohne dass wir es in diesem Moment bewusst reflektieren, folgen wir den Pfaden des Sportpädagogen und Mitbegründers des Turnens, Johann Christoph Friedrich GutsMuths, Namenspatron des GutsMuths-Rennsteiglaufs. Körperliche Bildung, Wettkampfcharakter und der Blick in die umgebende Natur als Heilmittel gegen gesellschaftlichen Verfall. Guts-Muths selbst zeigte sich von Rousseau inspiriert, der das Spazierengehen in die Aufklärung brachte, der dadurch womöglich erst eine Aufklärung ermöglichte. Zumindest eine ganzheitlich gedachte und gesunde.

      Nun also wir beide im Duell, drei vor uns, 10.000 hinter uns, alle in GutsMuthscher Tradition über Deutschlands ältesten und meistbegangenen Fernwanderweg.

      „Gut Runst!“, würden wir hören, wenn wir dafür noch Ohren hätten, „Gut Runst“ grüßen sich traditionell die Rennsteigwanderer. Runst von rennen, wie Brunst von brennen und Kunst von kennen.

      An der Kreuzung, an der wir in Richtung Schmiedefeld einbiegen, baumelt ein durchgelaufener Wanderschuh über einem Ast.

      Ich schaffe es nicht, den Jungspund abzuschütteln. Lästig wie eine Wespe treibt er zur Eile: irgendwie reagieren. Schließlich wird sein Hecheln stabiler, dann höre ich es gar nicht mehr. Einen Kilometer vor dem Ziel zieht er an mir vorbei. Der sich langsam entfernende rote Tupfer, die beginnende Qual auf dem Doppelverbundpflaster, plötzlich härterer Tritt. Vereinzelt Rentner, die aus ihren Gärten schauen, endlich das Ankündigen der Erlösung: die mikrofonverzerrte Stimme des Zielsprechers, die aus irgendeiner Liste meinen Namen vorliest.

      Der peitschende Applaus auf der Zielgeraden erzeugt ein Gefühl, das dem Gliederzucken und Muskelzwicken einen Sinn abringt; meine Mutter fiebernd unter ihrer Sonnenbrille, ich mit erhobenen Armen auf der Ziellinie.

      Fünfter Platz beim Rennsteig-Halbmarathon; fast freundschaftliches Abklatschen mit dem, der eben noch mein Konkurrent war. Ein kaum 19-Jähriger, der mir auf dem letzten Kilometer noch viele Sekunden abgenommen hat.

      Aufgeregt strahlt er mir entgegen: „Ich habe gedacht, du bist direkt hinter mir, das hat mich angetrieben wie der Teufel.“

      Ich weiß nicht, was ich darauf sagen soll, schließlich gebe ich ihm als Älterer pflichtbewusst Tipps, wie er beim Abwärtslaufen noch schneller werden kann.

      Erster wurde Samson, Zweiter Tom und Dritter Mike, ein Anfangfünfziger aus dem Harz, der mich im Jahr zuvor schon beim Havellauf geschlagen hat. Mike ist ehemaliger Marathon-Senioren-Europameister, auf seiner Homepage gibt er einen Körperfettanteil von 7,2 Prozent an.

      Noch immer im abgesperrten Finisherbereich quatsche ich, die Hand voll mit Bananenscheibchen, über den Rennverlauf und sein gerade absolviertes Höhentraining in Kenia. Dann wird er weggerufen, zum Finisherfoto mit seiner teils thüringischen Familie. Ich hänge noch ein wenig im Zielbereich ab, eine offene, etwa 60 Quadratmeter große Fläche, die sich vorerst nur langsam füllt. Später wird hier kaum Platz zum Treten sein.

      Es gibt Vita Cola, mit dem Extrakick Zitronensäure.

      Ein kurzer Augenschlag, und ich lande in nostalgisch verbrachten Sommerurlauben an der Ostsee in den 1990er-Jahren, meine Eltern, die im Supermarktregal nach etwas greifen, das „anders ist“: kein Lebensmittel, sondern Lebensgefühl. Dennoch das alljährliche Resümee: Es schmeckt einfach nicht mehr wie früher.

      Wieder im Hier mache ich mich auf in Richtung Ausgang. Beziehungsweise: Eingang.

      Neben dem Zielbereich liegt das Festgelände. Und wenn beim Rennsteiglauf das gemeinsame Singen des Rennsteigliedes der erste eigentliche Höhepunkt ist, ist das gemeinsame Beisammensein, das Feiern im Anschluss, der nächste. Das Festgelände ist gut gefüllt, obwohl bisher erst ein paar Handvoll Läufer des Halbmarathons angekommen sind, noch keiner der anderen Disziplinen. Angehörige tummeln sich bei strahlendem Sonnenschein auf der Festwiese und an den Ständen. Jetzt schaue ich auf die Uhr. Es ist 9:55 Uhr.

      Auf der anderen Seite des Zielareals befindet sich die Postwiese. Wie Adonisröschen recken sich die gelben Kleiderbeutel der Sonne zu. Ich wate durch ein Feuchtgebiet zu den noch die LKWs ausladenden Helfern; die Beutel liegen vor mir in Hunderterreihen.

      90 Minuten. Das ist die Antwort auf die Rechenaufgabe vom frühen Morgen. Pfeifend wate ich zu meiner Mutter zurück, die etwas erhöht dasteht und fasziniert den Kopf samt Sonnenbrille schüttelt.

      Wir klingen ein in den Volkstaumel. Entlang des Zielareals und der Festwiese führt ein dichter Gang mit Ständen. Lange bevor man den ersten der insgesamt vier Bratwurststände erblickt, liegt dunstig der Bratgeruch in der Luft. Original Thüringer, der hiesige Exportschlager schlechthin; authentisch verformt und auf großem Rost gegrillt, nur gedreht, nicht gehoben, alles händisch und handschuhfrei. Handwerk. Drückendes Dilemma für einen sich fleischlos Ernährenden. In der Vorstellung schwanke ich hin und her zwischen verurteilenden Blicken meiner Berliner Peergroup und dem verständnislosen Kopfschütteln meiner bewusstthüringischen Oma. Aus irgendeinem Grund läuft auch mein Trainer Egidijus mir in die Vorstellung,


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