Im Rhythmus des Laufens. Florian Jäger

Im Rhythmus des Laufens - Florian Jäger


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mich abwesend sein lassen – nicht der Umstand, dass das andere auch existiert. Es kommt darauf an, beides auseinanderzuhalten, jeweils nur eins zu sein: Wenn ich trainiere, bin ich Läufer, wenn ich in der Bibliothek bin, dann als Wissenschaftler und Schreiber.

      Bin ich im „Weder noch“ – im Bett, beim Essen, auf Wegen, mit Freunden –, schwirrt mein Geist im Zwischenraum. Oft greift er sich dann an den Vorstellungen fest, die ihm am meisten Halt versprechen: Träume von schnellen Läufen und weiten Strecken. Vorstellungen, die sich real anfühlen, weil nur das Training, ein paar Wochen Zeit, mich noch von ihnen trennt.

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      Ganz abstreifen lassen sich die Zweifel nicht. Brutal ist es, wenn ich merke, dass die Arbeit meine Laufleistung einschränkt. Wenn ich nicht im Maximum trainieren kann – wofür das Ganze? Es fühlt sich an wie Selbstsabotage. Für Momente erliege ich wehrlos dem „Ganz oder gar nicht“-Druck. Und schon habe ich nicht zwei große Projekte, die einander ergänzen, sondern zwei, die sich gegenseitig bedrohen. Ist es wirklich so kompliziert?

      Profiläufer haben das Problem nicht, bei ihnen sind Arbeit und Laufen eins. Nachdem Filip von einem Höhentraining in Äthiopien zurückgekehrt ist, erzählt er schelmische Geschichten von westweltlichen Aussteigern, die günstig wohnen, von Tag zu Tag leben, von Tag zu Tag laufen; er erzählt von Amateuren und Profis, die sich gezielt sechs, acht, zwölf Wochen vorbereiten, um im nächsten Lauf noch eine Minute rauszuholen; er erzählt von dem niederländischen Profiläufer, der in der achten Woche das Laufen gründlich satt hat, ständig meckernd längst nicht mehr einem eigenen Ziel zuläuft; der weitertrainiert, Tag für Tag, zwei- bis dreimal; der trainiert, weil es sein Job ist.

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      Durch das Laufen lerne ich, dass es vier verschiedene Arten von Müdigkeit gibt: eine des Kopfes, auf den Körper bezogen: „Ich kann nicht mehr“; eine des Kopfes, um sich selbst kreisend: „Ich will nicht mehr“; eine des Körpers, auf den Kopf bezogen: „Ich werde nicht mehr“; und eine des Körpers, auf sich selbst bezogen: „Es geht nichts mehr“. Beinahe in jedem Lauf meldet sich eine von ihnen zu Wort.

      Kreist der Kopf willensentleert um sich selbst, trösten ihn die Beine, die einfach weiterlaufen; der stummgestellte Kopf verliert seine Wirkkraft, die monotonen Körperbewegungen dröhnen laut. Droht der Körper dem Kopf mit Kündigung, ist es am Kopf, zu trösten: „Gleich geschafft, nur noch ein kleines Stück, wirklich.“ Der Körper ist naiv, er lässt sich besäuseln, ausbeuten, bis der Kopf sein Ziel erreicht.

      Manchmal ist der Kopf stur und der Körper erschöpft. Einer spricht sein Missfallen laut aus, der andere fühlt sich ermutigt. Sie verbünden sich, rebellieren, steigern sich in eine Kaskade, an deren Ende ich langsam laufe oder stehe. Was bleibt denn da überhaupt noch, das weiterlaufen will?

      An manchen Tagen bin ich dem Marathon machtlos ausgeliefert.

      Lydia, die sich am Frühstückstisch beschwert: „Wann reden wir einmal über etwas anderes als den Marathon und dein Training?“

      Die Marathonvorbereitung beeinflusst auch das Sexleben: Ständig zwickt irgendetwas, der Körper ist angespannt, oder ich bin erschöpft. Anfangs hadern wir noch, wagen zarte Versuche; im Laufe der Vorbereitung gewöhnen wir uns daran und peilen insgeheim die Zeit nach dem Marathon an.

      An manchen Tagen wache ich mit kaltem Schweiß am ganzen Körper auf; an den Oberschenkelinnenseiten und den Waden verdichtet er sich zu einer Art fettem Talg.

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      Ich schalte das Licht an meinem Arbeitsplatz aus. Ein paarmal ist der Marathon in den Bibliotheksnachmittag eingebrochen, hat sich an der Eingangskontrolle vorbeigeschlichen. Wir finden einen Kompromiss: Ich suche nach Studien, die sich mit dem Thema Marathon auseinandersetzen. Studien, die sich mit Laktatschwellen beschäftigen, dem Einfluss von Barfußlaufen auf den Laufstil, der Güte von mit Wasser gestrecktem und mit Salz versetztem Apfelsaft nach einem Lauf. Ich konsumiere die Studien in Form von kurzen Artikeln, die für Sportmagazine geschrieben sind: Einzeluntersuchungen, denen ich folge, als wären es unumstößliche Wahrheiten.

      Zum Tagesabschluss laufe ich in gemütlichem Tempo von der Bibliothek nach Hause. Der Marathon läuft neben mir.

      Auf die Party des Freundes am Abend verzichte ich, ich kenne das: Die Alkohol trinkenden anderen kommen mir Nüchternem albern vor; ich langweile mich unter den Beschwipsten. Wenn ich keiner von ihnen sein kann, bleibe ich lieber zu Hause.

      Der Marathon reist überallhin mit, er hat einen festen Platz im Gepäck und eine klare Meinung.

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      Alkohol und Marathon, das ist ein Thema.

      Der Ägypter Abdel-Kader Zaaf hatte sich am 27. Juli 1950, mitten während der Tour de France, wegen Erschöpfung einen Moment unter einem Baum ausruhen müssen, irgendwo zwischen Perpignan und Nîmes. Zum Wachwerden träufelten ihm ein paar Zuschauer Wein auf die Zunge. Es half ihm tatsächlich auf die Beine, er düste los. Leider in die falsche Richtung.

      Mehr als 65 Jahre nach dieser Episode höre ich ein Radiointerview. Die Interviewte, eine große Managerin, die kurz vor ihrem zehnten Marathon steht, schnaubt verächtlich: Längst habe sie das abgestellt, das allzu amateurhafte „in der Trainingsphase auf Alkohol verzichten“. Anschließend zählt sie ihre Lieblingswodkamarken auf.

      Marathon und Alkoholverzicht. Es ist ja so: Nach den ersten herausfordernden Wochen sinkt das Bedürfnis von ganz allein.

      Trotz Alkoholverzichts arbeite ich auch in der Marathonzeit einmal wöchentlich in einem Weinladen: Statt zu trinken, schwenke ich die Weine ausgiebig, halte meine Nase tief ins Glas. Es muss wunderlich aussehen.

      Manchmal sitzt auch dort im Laden der Marathon und sortiert Weine. Er klimpert mit den Flaschen, beißt beherzt von einer Möhre ab, streckt sich.

      „Weißt du“, sagt er kauend, „wenn ich dich hier so sehe … Vielleicht solltest du doch lieber in einem Quarkgeschäft arbeiten.“

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      Es dauert noch ein paar Wochen, bis ich den Marathon endlich abschüttle – indem ich ihn laufe. Im Verhältnis zur Vorbereitung ist der Lauf selbst bloß ein Wimpernschlag.

      Vielleicht macht gerade das ihn so bedeutsam.

Zwischenläufe I image

      Meist endet das Training im Herbst, mit dem als Hauptlauf auserkorenen Marathon. Das Laufen bekommt dann eine andere Bedeutung: Es verliert an Dringlichkeit, Pointiertheit und Struktur. Es löst sich dabei nie ganz auf – es ändert bloß seinen Seinszustand.

      Waldläufe in der Märkischen Schweiz, das Lichtspiel der Bäume, dunkelgraue Stämme auf dem Feldweg, das Schwirren und Klingen der Birkenblätter. Laufen auf Sandpfaden, blättergesäumte Weggabelungen, einladende Wanderschilder statt monotoner Runden im eng gewordenen Stadion. Ich laufe darüber hinweg, vermesse die Tiefe des Waldes. Es ist frühmorgens, die Sonne schlängelt sich durch die Baumreihen, kitzelt mir die Nase. Ich niese mit beiden Beinen in der Luft.

      Wie laut der Wald ist, wenn man ihn lässt. Im Morast der Senke bleiben meine Füße kleben, es ploppt und platzt, wenn ich sie heraushebe. Einmal stolpere ich, weil der Körper den trägen Beinen davonprescht. Tschilpen die Vögel leiser oder lauter, wenn ich stehen bleibe? Sie interessieren sich kaum für mich. Immer wieder Wege, die an Hochsitzen, auf Lichtungen oder im Sumpfigen enden. Einmal laufe ich im Kreis, merke es erst, als ich schon mitten auf der zweiten Runde bin. Knittern und Knacken der Sandfichten. Orientierung am Sonnenstand, über bekannte und unbekannte Wege auf groben Pflastersteinen am Dorfbeginn; wie ausgespuckt.

      Zwei Kraniche auf dem Weg vor mir, vertraut und stolz dicht nebeneinander. Als ich mich nähere, schnellen ihre Flügel breit zur Seite, beinahe stoßen sie sich: Absprung, Aufflattern, Segeln, Niederlassen. Hundert Meter weiter dasselbe. Sie gleiten zwischen den hohen Bäumen, ich laufe, ohne sie aus den Augen zu lassen; sie gleiten dahin, ohne mir davonzufliegen.

      Auf dem fernen Feld


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