Im Rhythmus des Laufens. Florian Jäger

Im Rhythmus des Laufens - Florian Jäger


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nahen Wiesen und Büsche dunkelgrün in der Dämmerung, die Hügel sanft, kontrastarm die Baumkronen im sich nach oben verengenden Halbrund. Über allem liegt ein Dunst, der sich mal in Schleiern an die Horizontgrenze hängt, mal sich verdichtet zu etwas ungreifbarem Schwerem, durch das nur hier und da ein alleinstehender Baum durchdringt. Ich beschwöre es nicht, doch das Wort „zauberhaft“ kommt mir in den Sinn. Märchenstimmung, das erste Mal Rennsteiggefühl.

      Und wie.

      Für einen Moment lehne ich mich hinein, in die Kurven, die Steigungen, in die nebelverdichtete Mystik des Thüringer Waldes.

      Durch die Pinkelpause haben uns die nachfolgenden Busse überholt. Als plötzlich letzter Bus sammeln wir die Verspäteten ein, wodurch wir uns selbst verspäten: 45 Minuten vor dem Start biegen wir auf Oberhofs Betonwiese ein, das große Parkplatzareal zwischen Altstadt und Startgelände. Es ist keine Zeit mehr, sich in die jeweils 20 bis 30 Personen starken Dixi-Klo-Schlangen einzureihen. Ich suche mir ein Fleckchen am Waldesrand. Abprotzen, wie der Schriftsteller und Läufer Günter Herburger es liebevoll umschrieb und wie auch Lydia und ich es als Teil einer codierten Insidersprache verwenden.

      Es geht nicht anders: Hinterher erweist mir das traditionsreiche Programmheft des Rennsteiglaufs großen Dienst.

      Vor mir leuchten die gelben Posttüten, die Kleiderbeutel; im Pulk werde ich zum Start geschoben. Der Altersdurchschnitt hängt bei Mitte 40, hier und da ein jüngeres Gesicht. Frauen mit Kurzhaarfrisuren, die jüngeren mit Zopf und rötlichem Schimmer blass werdender Färbung. Tatsächlich sehe ich auch zwei mit Zigarette im Mundwinkel. Voranschieben der Versammlung, gemächlich wie ein verkaufsoffener Sonntag.

      Dass es beim Rennsteiglauf weniger um eine ambitionierte Zielzeit als eine gesellschaftlich verordnete – und von den Krankenkassen begrüßte – Bewegungs- und Frischluftkur geht, wird unzweifelhaft vermittelt an den markigen Sprüchen auf einigen Läufershirts: „In der Ruhe liegt die Kraft – Rennsteiglauf, du wirst geschafft!“; sehr deutlich, und von zweifelhaftem Metrum: „Nicht die Zeit, die ich laufe, macht mir am meisten Spaß, sondern die Zeit, in der ich laufe!“; mein Favorit: „Runstig wie das wilde Schwein, muss ein Rennsteigläufer sein!“; und beinahe philosophisch: „Wir laufen, um zu leben, aber leben nicht, um zu laufen!“

      Der Rennsteiglauf ist besonders. Den Rennsteig läuft man, weil es Vater, Mutter, Nachbarin, Kollege, Freundin auch schon getan haben. Den Rennsteig läuft man, um dabei zu sein, zu wissen, dass man dabei war, darüber zu sprechen. Für viele heißt Rennsteig: Loslaufen und Ankommen zugleich. Sie wollen ein Teil dieses Ganzen sein. Sie finden hier etwas, das sie sonst oft vergeblich suchen. Genau darum geht es.

      Überraschend: Die Kleiderbeutel werden ungeordnet in fünf, sechs Postlieferwagen geschmissen, die am Anfang der Startblöcke bereitstehen.

      Im Gehen tut sich eine Rechenaufgabe auf: Wie viele Freiwillige braucht es, um 10.000 Sportlerbeutel zu sortieren?

      Der breite Weg am Waldrand ist durch rot-weißes Absperrband in Startblöcke unterteilt. Ein paar Helfer in leuchtenden Westen passen auf, dass sich jeder im zugeordneten Block, erkennbar durch die an der Brust befestigte Startnummer, einordnet. Der Weg nach vorn ist wie das Durchwandern eines Trainingsjahres: beinahe linear steigende Fitness der Teilnehmenden. Es wird ein wenig gedrängelt, der Startblock 1 auf der Startnummer ist wie ein VIP-Ausweis; Absperrband, das hochgehalten wird, neugierige Blicke.

      Ich halte die Augen offen nach einem Bekannten von mir. Er startet trotz Muskelfaserriss, weil ihm in diesem Jahr die Ehre zukommt, im Jubiläumsclub der treuesten Rennsteigläufer zu starten. Die Traditionsläufer – ein Teil von ihnen ist hier schon vor 40 Jahren gelaufen – werden sich en bloc bewegen, „zusammen“ und „ankommen“ sind die Stichwörter ihrer Losung. Ein Altherrenclub um die letzten lebenden Gründerväter – der wahre Star des Rennsteiglaufs.

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      Der Rennsteiglauf-Halbmarathon hat sein eigenes Ordnungssystem: Für einen der vorderen Startblöcke qualifizierst du dich nicht wie üblich über die in anderen Läufen erreichten Zeiten, du qualifizierst dich ausschließlich über in früheren Rennsteigläufen – genauer: innerhalb der letzten drei Jahre – erbrachte Leistungen. Das heißt, jemand, der den Rennsteig nicht schon mindestens einmal gelaufen ist, hat prinzipiell wenig Chancen auf den Sieg.

      Du musst dich hier verdient machen, explizit hier, an keinem anderen Ort der Welt kannst du das.

      Manchmal lernt man auf die harte Tour. Diskussionen und große Aufregung am Vortag bei der Startnummernausgabe. Ich hatte meine Schwester im Ohr, die zwei Jahre zuvor den Rennsteig gelaufen ist, gestartet aus Block 5: Kein Durchkommen, wo kein Bein ist, ist Wurzel. Am Info-Schalter zeige ich verzweifelt die Zeiten aus anderen Läufen vor, nervös, penetrant; letztlich auch unbarmherzig, die so festverwachsenen Regeln strapazierend. Als immer mehr Leute zu uns herüberschauen, willigt der Mann auf der anderen Seite des Schalters schließlich ein; wortlos tauscht er die Nummer meines Startblocks von 4 auf 1.

      Die 45 Minuten seit Aussteigen aus dem Bus sind weniger schnell vergangen als befürchtet. Ich mache mich warm vor der Startlinie, wie immer der vorsichtige Gang um den Messteppich herum – wer weiß, ob der nicht doch schon scharf gestellt ist.

      Aufgeregt sein, ein Ziehen durch den Solarplexus.

      Antesten, die Gerade noch auf Beton runter, dann links in den Wald, noch vor dem Start ein erstes Erkunden des Streckenverlaufs. Grundsätzlich lasse ich mich von einer Laufstrecke gerne überraschen, entscheide mich gegen den zweifellosen Vorteil der Streckenkenntnis und für den Unterhaltungswert der Überraschung. Doch hier bin ich neugierig: Wann geht es denn in den Thüringer Wald? Ich meine, so richtig.

      Mitten im Hopserlauf treffe ich Tom Thurley, einen Mittzwanziger aus Potsdam mit hohen Wangenknochen und freundlichem Lächeln. Ich kenne ihn aus der Berliner Laufszene und mache direkt einen Favoriten in ihm aus. Bin gespannt, wie er sich auf den Steigungen schlägt.

      Bin gespannt, wie ich mich auf den Steigungen schlage.

      Rechts geht sanft eine Wiese hinunter, eine Bobbahn, eine Holzhütte, aus der Musik dringt. Mit noch frischem Atem fange ich sie ein, die Vor-Lauf-Après-Ski-Atmosphäre.

      Die Startaufstellung. Vor mir die Elite des Laufes: Ein paar Körper, die ich eben noch auf Lauffähigkeit abchecke, das linke Auge dabei zugedrückt, wie bei einem, der’s ganz genau wissen will. Es gibt wenig offensichtliche, konkrete Parameter. Die Dicke der Beinmuskeln, die Geschwindigkeit eines Warmmach-Spurts oder der angenommene Preis der Laufkleidung sind im Grunde Nicht- oder irreleitende Informationen. Oft sind die ausschlaggebenden Merkmale eher die Rundheit des Laufstils, das Selbstverständnis im Auftritt, die nach innen gerichtete Konzentration.

      Ich sehe einige Jungspunde aus der Sportschule von Oberhof, Ski- und Bergbegeisterte, Jungs mit Kurzhaarfrisuren und glatten Waden, die Mädels mit geflochtenen Zöpfen.

      Und dann ist es endlich so weit. Das Rennsteiglied ertönt, für viele der Höhepunkt des Erlebnisses: 10.000 Menschen, die schunkeln und singen. Sogar die in der ersten Reihe: Für einen Moment sind wir alle Thüringer.

      Wir können nicht anders, klar wollen wir dazugehören.

      Countdown und Startschuss durch Ministerpräsident Bodo Ramelow. Es knallt eine Sekunde zu früh: die Angst des Politikers, den richtigen Moment zu verpassen.

      Bis in die letzten Reihen hallt da noch der Gesang nach, als würde der Körper auf den kommenden Kilometern nicht durch die Beine, sondern die Stimme bewegt.

      „Ich wandre ja so gerne

      am Rennsteig durch das Land,

      den Beutel auf dem Rücken,

      die Klampfe in der Hand.

      Ich bin ein lust’ger Wandersmann,

      so völlig unbeschwert.

      Mein Lied erklingt durch Busch und Tann,

      das jeder gerne hört.“

      Die Meute kommt in Gang. Wirbelnde Beine vor mir, versuche ich ganz innen, waldseitig, durchzudringen. Die ersten 500 Meter halten die Laufschüler


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