Im Rhythmus des Laufens. Florian Jäger

Im Rhythmus des Laufens - Florian Jäger


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eintönige Fassaden, herausragende Satellitenschüsseln, eine mittagsleere Stadt.

      Ich gebe auf, akzeptiere das Unvertraute, setze mich auf eine öffentliche Bank und warte auf den Nachmittag.

      Alle in meiner Familie haben rote Autos, das war schon immer so. Ich erkenne den roten Honda Civic meiner Mutter sofort, springe auf und hinein; kurzer Check-in in der Unterkunft, dann weiter zum Abholen der Startunterlagen nach Oberhof. Erstes Kribbeln in der Magenkuhle.

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      Oberhof: Lotto Thüringen Arena, Biathlon, und das zum 20. Jahrestag der DDR am 7. Oktober 1969 eröffnete Panorama-Hotel, Sehnsuchtsort in Sprungschanzenform. Werbe- und Verkaufsstände, Intersport, TEAG, Thüringer Waldquell, Salomon, Läuferinnen und Läufer, die in ihren Sportinsignien, Laufschuhen und bedruckten Sportanzügen, schlendern, alle irgendetwas in der Hand, Starterbeutel, Bratwurst, Cola, so kraftsparend schlendern, dass man ihnen die Sportlichkeit kaum abnehmen will.

      In mir wächst das Bedürfnis, mich aus diesem Massendruck zu entfernen. Ich spüre sie fast körperlich, die Boviscopophobie, „die Angst, als Herdentier angesehen zu werden“. Eine herausfordernde Phobie für einen Läufer. Ein Spaziergang im Wald als Erste-Hilfe-Maßnahme; barfuß über den Matsch, ab und zu kitzelt ein Kiesel.

      Am Abend fahren wir zu unserer Unterkunft in Ilmenau: ein platter Bau, Garagen, die zu Ferienzimmern umgebaut wurden. Gegenüber ein Partyraum, den man mieten kann. Heute: Feier zum 50. Geburtstag, ein großes Plastikschild, „Geschlossene Gesellschaft“.

      Die Zimmereinrichtung: hinter dem Bett Tapetenposter einer in der Savanne untergehenden Sonne, knallig rot-gelbe Bettdecken auf dünnen Schaumstoffmatratzen und Frotteelaken, auf den Regalen schwarze Giraffen in Groß und Klein, Krieger mit Speeren. Ein Schauer, der mir, Wirbel für Wirbel, den gebeugten Läuferrücken hinunterrinnt.

      Beim Italiener in der Innenstadt üben sie sich in Improvisation: Weil der eigentliche Gastraum bereits gefüllt ist, sitzen wir auf Plastikstühlen im Flurbereich, passgenau gequetscht zwischen Eingangstür – dunkles Braun, zwei grobe Diamantkassetten, schwere Zwischenkämpfer und Wetterschenkel im TGL-Standard – und Treppe zur Anliegerwohnung. Die Unterseiten der Stufen verschwinden ins Unbekannte; ich stelle mir den unter Knarzschritten rieselnden Staub vor. Um uns kleine Grüppchen von Läufern, man erkennt einander an den Schuhen. Auf den Tischen der anderen Bier und Pizza, besonders beliebt Hawaii, Salami und Vier-Käse. Der Königsweg des Self-handicappings, der gekonnten Herbeiführung einer Ausrede für einen Leistungseinbruch am nächsten Tag: „Ihr habt ja gesehen, wie viel ich getrunken habe …“

      Im Bett lese ich noch ein paar Einschlafseiten aus Max Frischs Tagebüchern. Ich finde Entspannung in den melancholischen Gedanken. Die Savanne glüht im hellen Leuchtstoffröhrenlicht. Nur langsam weicht das mulmige Gefühl, und der Herzschlag beruhigt sich.

      Das alles soll das berühmte Rennsteiggefühl sein?

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      Natürlich ist der Rennsteiglauf einzigartig. Es gibt wohl keinen weiteren Lauf, der neben einem eigenen Lied, „Ich bin ein lust’ger Wandersmann, so völlig unbeschwert“, und einer Hymne, „Hei, hei, hei, ho, der Rennsteiglauf. Hei, hei, hei, ho, wir sind gut drauf“, auch mit einem Walzer, „Doch bevor der Startschuss fällt, da singt die ganze Welt“, aufwarten kann. Rennsteiglauf, fester Termin im Jahreskalender singfreudiger Laufgruppen.

      Nach zwei Jahren Testläufen wurde der Rennsteig 1973 zum ersten Mal auf annähernd offiziellen Pfaden belaufen, durch die vier Laufavantgardisten, Frischtluftfreunde und Orientierungsläufer, Hans-Georg Kremer, Hans-Joachim Römhild, Wolf-Dieter Wolfram und Jens Wötzel, alle vier damals an der Universität Jena. Der Weg bekannt – eben den Fernwanderweg Rennsteig entlang –, Länge, Dauer und konkreter Zielort ungewiss. Das heißt: Loslaufen und mal schauen, wie weit wir kommen.

      Die mobile Verpflegungsstation damals, für ermüdete Entdecker: ein Wartburg, der im nahe liegenden VEB Automobilwerk Eisenach gefertigte Personenkraftwagen, den die Steigungen und Kurven ähnlich mühten wie die Läufer. Bei etwa 100 Kilometern Laufstrecke dann die gemeinsame Entscheidung der Läufer: Eigentlich reicht’s ja. Die Strecke war vermessen.

      1975 gab es den ersten offiziellen Wettkampf, Taschenlampenstart um 1 Uhr nachts. Modifizierte lange Strecke, 50 Meilen, sprich 82 Kilometer: im Ziel 692 Männer, zehn Frauen. Kurze Strecke, 38 Kilometer: im Ziel 108 Frauen, ein Mann. Der Rennsteiglauf. Zunächst vom DDR-Sportverband nicht anerkannt, in der wachsenden Laufbewegung Weiterentwicklung zum Symbollauf, DDR-weites Kulturgut und Pilgerort der Hobbyläuferszene.

      Ganz zeitgemäß ist der Rennsteiglauf heute, mit Angeboten für jeden: Lotto Thüringen-Supermarathon, 73,9 Kilometer, der Hauptlauf, der Mythos; Intersport-Marathon, 42,2 Kilometer, gelaufen; Intersport-Marathon, 42,2 Kilometer, gewalkt, gewandert; Thüringer Energie Halbmarathon, 21,2 Kilometer; Köstritzer Wanderung, 17 Kilometer; Thüringer Waldquell Nordic Walking Tour, 17 Kilometer; Bauerfeind Rennsteig-Junior-Cross und ein Wettbewerb „für Menschen mit geistiger und psychischer Erkrankung“. Der Rennsteiglauf. Vorzüglich platziert im Laufkalender: genügend Abstand nach den großen Frühlingsmarathons, noch ausreichend Zeit bis zu den aufreibenden Bergläufen des Sommers.

      Damals wie heute Frischluftkur. Damals wie heute unter den Läufern die Vorfreude auf den Geschmacksvergleich der unterschiedlichen, meist magenverträglichen Haferschleime an den Verpflegungsstationen. Schon Monate vor dem Lauf herrscht reger Austausch in Online-Foren und sozialen Medien. Eindeutiger Konsens des letzten Jahres: der erste enttäuschend, der leicht rötliche am bekömmlichsten. Und dieses Jahr?

      Als Teil der Startunterlagen erhalten die Läufer einen Gutschein für ein Köstritzer Bier nach dem Zieleinlauf.

      Thüringische Foltermethode: Laufstart um 7:30 Uhr, Shuttle ab Ilmenau um 5:15 Uhr. Mein Wecker klingelt um 4:30 Uhr. Auf meinem Handy blinkt eine „Viel Glück“-WhatsApp-Nachricht von Lydia, die dieses Mal in Berlin geblieben ist. Ans gemeinsame Aufstehen gewöhnt, fehlt sie mir an diesem Morgen. Die Nachricht hat sie um 1:30 Uhr geschrieben, vor drei Stunden, als sie ins Bett gegangen ist. Wie fern unsere Welten in diesem Moment liegen.

      Nach dem unfreiwilligen Miterleben des 50. Geburtstags – Chartmusik, ein paar DDR-Klassiker, Nina Hagen, Citys Am Fenster, trinkende, schwadronierende Menschen hinter dünnen Vorhängen, angestrahlt von Partyleuchtern und glimmenden Zigaretten – treffe ich in der Küche auf drei Sorben aus der Oberlausitz, die hier auf Montage sind. Man grüßt sich durch knappes Nicken. Kalte Dusche, Kaffee und dünn bestrichene Weizenbrötchen zum Mitnehmen. Nummer eins, Tomatenaufstrich, Nummer zwei, Honig. Los.

      Etwa 90 bis 100 Gestalten der Dämmerung, nur das zarte Glühen gieriger Laufschuhe. Der erste Shuttlebus, die Ungeduldigen, darunter ich, drängen hinein, die Erfahrenen warten mit altklugen Sprüchen auf den nachfolgenden: „Es gibt genug Platz für alle.“

      Gemütlicher Reisebus, das Uniforme der Funktionskleidung, gemeinsamer Zielort: Plötzlich bilden wir eine Reisegruppe, so etwas wie eine Gemeinschaft. Zu müde und ohne Alternativen, um meine Boviscopophobie auszuleben, ergebe ich mich in die Bustour als Teil einer Erfahrung, die weit größer ist als ich und meine Zeit.

      Vereinzelt sehen wir eifrig winkende Läufer am Straßenrand, denen der Busfahrer durch einen nach hinten zeigenden Daumen cool verdeutlicht: Da kommt noch einer, nehmt doch einfach den. Die Läuferinnen und Läufer im Bus, die meisten zwischen 40 und 50, viele überausgerüstet für den Halbmarathon, für den wir uns angemeldet haben. Ich zähle neun Laufrucksäcke mit prallen Wasserblasen, die an die mit dünnem Stoff bezogenen Sitzschalen pressen, bei jedem Huckel lustig blubbern.

      Manche Läufer haben die Augen geschlossen, andere tauschen Räuberpistolen der letzten Jahre aus, sprechen darüber, wer von den – anscheinend regional bekannten – Veteranen dieses Mal wieder mitläuft. Ein Typ muss so dringend pinkeln, dass er nach vorn stürmt und den Busfahrer bittet, anzuhalten. Das Murmeln der Läufer, als er aus dem Bus springt, kopfschüttelnde Blicke auf den nicht fern an einem Baum Lehnenden; Johlen, als er zurück in den Bus hüpft, erleichtert lächelnd, als hätte er nun das Schlimmste hinter sich. Beim Zurück-durch-die-Reihen-Gehen erhält er hier und da einen Schulterklopfer.

      Während


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