Im Rhythmus des Laufens. Florian Jäger

Im Rhythmus des Laufens - Florian Jäger


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wie der konditionierte Hund dem fahrenden Lichtpunkt in einem nächtlichen Hunderennen.

      42 Runden liegen noch vor mir, insgesamt 50-mal soll ich das Oval des Mommsenstadions in Berlin-Grunewald umrunden – nicht unten auf der 400-Meter-Tartanbahn, wie man es eigentlich tut, nein, auf dem schmalen Stück außen um die Tribünen, als wäre dies eine anerkannte Strecke für besondere Läufe. Egidijus sagt, außen herum sei besser. Auf dem Oval der Tartanbahn würde man ja auf Dauer verrückt werden. Ich laufe die 500 Meter der Außenbahn, 50 Mal. Ob ich verrückt dabei werde, kann ich nicht beurteilen.

      Bis Runde 25 zähle ich aufwärts. Danach arbeite ich die Runden im Countdown ab. Ich schaue hinunter ins Stadion. Filip, Matt und Nikolai bewegen sich nicht. Was machen die denn, haben die schon Feierabend? Ich laufe weiter. Nachdem wir letzte Woche in der späten Dämmerung beinahe im Dunkeln liefen, zeigt sich der Platzwart heute kooperativ: Die großen Stadionlichter gehen an, erst als schwacher Schein, dann als immer helleres Leuchten.

      Alle paar Runden wartet mein Trainer Egidijus auf den obersten Stufen der Tribüne, unbarmherzig, wirft mir irgendeine Zahl zu, die ich auf den nächsten 300 Metern einzuordnen versuche. Wenigstens habe ich dadurch etwas zu tun.

      Ich versuche, gleichmäßig weiterzulaufen, versuche, das Vergehen der Zeit zu beschleunigen: Jede Runde schaue ich an der Einbiegung zur Haupttribüne einmal auf die große Stadionuhr. Der Zeiger dreht sich ähnlich langsam wie die Rundenzahl sich reduziert.

      Von oben sehe ich, wie die anderen sich umziehen, Matt und Nikolai verabschieden sich. Filip bleibt noch ein paar Runden.

      Er ruft mir etwas zu: „Come on, Flo, don’t give up.“

      Ich ärgere mich, weil ich das nicht vorhatte.

      Glücklicher Nebeneffekt: Das Ärgern gibt mir Energie. Je näher ich der letzten Runde komme, desto deutlicher spürbar wird der benötigte Energieaufwand. Er bewegt sich nicht linear, viel eher ist es so, als würde er sich von Runde zu Runde potenzieren. Der Körper baut ab, er schreit nach Nährstoffen, nach Sauerstoff, nach Erholung. Jetzt trägt der Kopf den Körper, bis ins Ziel. Ich stoppe, erleichtert.

      Egidijus, der verzögert aufschaut und fragt: „Waren das schon 50?“

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      Ich erlebe kaum mehr Unmittelbarkeit als in den letzten Momenten eines anstrengenden Trainings oder eines Wettkampfs: Ich muss bloß laufen, sonst nichts, jede Aktion ruft eine Reaktion hervor. Das Weiterrollen meiner Beine bestimmt über die Zeit: Sie wird angehalten, konserviert, sobald ich die Ziellinie erreiche. Zeit wird zu etwas sehr Konkretem, wenn sie auf einer Stoppuhr festgehalten wird; im Training und Wettkampf bekommt sie eine fassbare Bedeutung.

      Die auf der Uhr festgehaltene Zeit ist – im besten Fall – ein Gradmesser des Erfolgs. Weitere sind, überhaupt Zeit zum Laufen gefunden zu haben und dadurch die Zeit zum Laufen gebracht zu haben.

      An manchen Tagen schleppe ich mich zum Training, angezählt vom Arbeitstag, bin schon vor dem Warmlaufen erschöpft. Dann ist der erste Erfolg, auf die Bahn zu treten, der zweite durchzuhalten und der dritte, mich einem übergeordneten Ziel anzunähern. Durch Wettkämpfe, Zeitträume, sozialen Ansporn bildet sich ein feingliedriges Zielkonstrukt, das bis in die kleinste Ebene eines Trainings reicht und Wirkung aus ihr zieht.

      Die Unmittelbarkeit: Der Erfolg ist genauso greifbar wie die Qual auf dem Weg dorthin.

      Und manchmal ist auch die Qual selbst schon Erfolg, an Tagen, die in spröder Belanglosigkeit dahingegangen sind, an denen sich die Existenz abgenutzt anfühlt. Dann ist der maßvolle Schmerz eine willkommene Empfindung – er fühlt sich bedeutungsvoll an.

      Das Stadion ist ein Ort des Wissens. Ich lerne bei Egidijus mehr, als ich überhaupt an existentem Wissen erahne, die elementaren Unterschiede der Trainingssysteme in Ost- und Westeuropa, Gemeinsamkeiten von Marathonlaufen und Balletttanzen. Egidijus hat mir eine Reihe virtueller Trainer und Betreuer abgelöst, denen beinahe jeder recherchefreudige Laufanfänger einmal begegnet: dem berüchtigten „Countdownplan“ von Peter Greif, „[Der Plan] ist hart, fordert viel und ist extrem gefährlich – vor allem für Ihre Bestzeit“; der „Laufbibel“, dem „Standardwerk zum gesunden Laufen“; und Herbert Steffnys „Großem Laufbuch“, samt den Fotos von Steffnys unvergleichlichen Wuschellocken. Mit Egidijus habe ich endlich einen Trainer aus Fleisch und Blut gefunden. Nebeneffekt: jemanden, der bemerkt, wenn ich mal etwas abkürzen möchte, der darauf reagiert.

      Eigentlich hatte ich nach Erreichen einer neuen Bestzeit beim Berlin-Marathon, 2:39:46, mit dem intensiven Laufen aufhören wollen.

      Egidijus tippte sich bloß mit dem Zeigefinger an die Stirn: „Einmal Läufer, immer Läufer.“

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      Mir bleiben 10,5 Wochen bis zum Marathon. Eng bemessen für einen, der gerade erst wieder ins Training einsteigt – und für einen, der sich einredet: Ich habe Großes vor. Immerhin nichts Neues: Für meinen ersten Marathon, im Herbst nach der Fuji-Belaufung, habe ich sechs Wochen trainiert, für die folgenden acht und zehn. Zwischendurch mehrmonatige Laufabstinenzen. Meine Laufroutine besteht aus dem totalitären Diktat eines „Ganz oder gar nicht“. Während ich beides will, ertrage ich weder das eine noch das andere als Dauerzustand.

      Aus dem „Gar nicht“ heraus ist es dann jedes Mal irgendein nicht vorherzubestimmender Impuls, ein Zufall, eine Unzufriedenheit, eine attraktive Möglichkeit, und es heißt: Jetzt ist Marathonzeit.

      Filip, der schlaksige Belgier und unverzichtbare Laufkamerad, fragt nach jedem Marathon: „Na, Flo, wie lang geht’s dieses Mal in den Winterschlaf?“

      Wie er das sagt, in seinem flämischen Akzent, klingt das wie die süßeste Verlockung, die auf der Welt vorstellbar ist.

      „There is a time for everything.“ Alles hat seine Zeit.

      Natürlich gibt es da dieses immerwährende Ziel, das auch da ist, wenn ich nicht trainiere: irgendwann den Marathon unter 2:30 laufen. Die magische Marke.

      Die Wiederholungen des Trainings sind selbstverordnete Zwangshandlung, das Laufen ein Wahn, von dem ich nicht lassen kann. Das Gefühl, einen Sinn zu haben, die konkrete Ahnung, wie ich diesem zutragen kann. Marathonmonate sind Sucht, sie bestimmen mein Leben vollumfänglich; sie sind Therapie: Sie geben mir einen klaren Fokus; nicht zuletzt Illusion: das Gefühl von Plan und Kontrolle.

      Der Wahn wird sichtbar, wenn meine Ziele und der Weg dorthin sich sehr von denen anderer unterscheiden. Indem ich abweiche, meine Zeit und Mühen nicht in den nächsten Karriereschritt oder materielle Anschaffungen investiere.

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      Als ich mich nach dem 50-Runden-Dauerlauf auf mein Fahrrad schwinge, krampfen meine Waden. Ich strecke die Beine durch. Geduldig warte ich auf den Moment, wenn sich die Verhärtungen lösen, und radle dann in fixem Tempo am Grunewald entlang durch den Tunnel der S-Bahn-Station; vorbei an den Botschaften von Kuwait, Katar und Benin, Villen von Familiendynastien, die ihr Geld in Industrie oder Anwaltschaft gemacht haben; kreuze die Straßen am Wilden Eber – der kleinen Bronzestatue, die Paul Gruson in den 1920er-Jahren schuf; heute markanter Punkt während des Berlin-Marathons: ein Gewusel an Menschen, herausgeputzt in Grunewald-Schick und mit Weinglas-Armen; Kinder, die mit Glücksgesichtern kleine Hände zum Abklatschen ausstrecken. Die letzte Steigung meines Nachhausewegs, vom Friedrich-Wilhelm-Platz zur Feuerbachstraße, ziehe ich noch einmal an, plötzlich energetisiert vom nahen Ziel. Als ich ins Treppenhaus trete, krampfen meine Waden erneut. Alles hat seine Zeit. Jetzt ist die Zeit für Salz.

      Weil ich zu faul bin, meinen Schlüssel herauszuholen, klopfe ich an die Tür.

      Lydia, mit der ich seit einem Jahr in der kleinen Wohnung in Berlin-Friedenau wohne, öffnet verspielt die Tür nur einen Spalt.

      „Na, hast du dich verlaufen?“ Sie zwinkert mir zu.

      Ich weiß nicht, was ich antworten soll, und bin sehr froh, als sie die Tür komplett aufzieht.

      Ich stürze geradeaus in die Küche und trinke drei volle Ladungen Wasser aus einem bunt beklebten Weizenglas, eine Erinnerung an den Mittelrhein-Marathon.


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