Im Rhythmus des Laufens. Florian Jäger

Im Rhythmus des Laufens - Florian Jäger


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      Der Weg schlängelt sich weiter den Gipfel empor. Nicht besonders schön, nicht besonders anspruchsvoll; dunkelbraunes Vulkangestein, straffe Seile als Halt und Grenze. Gerade der richtige Schwierigkeitsgrad. An den Hütten, die den Weg alle paar Hundert Meter aufwärts säumen, liegen kleine Plateaustücke. Ich halte nur kurz an. Zwischen Wasserkocherträgern balancierend schiebe ich mir abwechselnd Cranberries und Salznüsse in den Mund, aus halb vollen Händen, immer das, was mein Körper gerade braucht. Das spüre ich jetzt genau.

      Nach sechseinhalb Stunden Wandern und Laufen erreiche ich den Gipfel. Natürlich erkenne ich ihn daran, dass keine Wege mehr höher führen, nur noch im Kreis. Aber sicher auch daran, dass direkt vor mir ein Kaffeeautomat steht, einfach so, am Rand des Vulkankraters; mit Kabeln, die im Nichts verschwinden.

      Es ist gut so. Nach den Stunden anstrengender Besteigung habe ich tatsächlich unglaubliche Lust auf Kaffee. Woher wussten die das? Warmer Dampf steigt aus dem braunen Plastikbecher.

      Die Toilette ist am äußeren Kraterrand gebaut, unmittelbar neben dem Weg. Die einzelnen Kabinen sind durch dünne Holzwände unterteilt und mit Stroh ausgelegt; zwischen Dach und Kabinenkante kann man ein Stück Himmel erkennen. Dreimal komme ich wieder, dreimal zahle ich brav bei der älteren Dame im Kassenhäuschen.

      Es ist kalt und windig hier oben. Die modernen Pilger ziehen sich die nächste Schicht Funktionskleidung über.

      Auch längst nachdem ich den Becher in einem der Mülleimer versenkt habe, lässt mich der Kaffeeautomat nicht los. Überall in Japan sind diese Maschinen zu finden, überall, wo auch nur ein wenig Vorstellung besteht, dass ein Mensch sich einmal an diesen Ort vorwagen könnte; überall. Die Vending Machines sind ein Symbol der Freiheit: Jeder kann sich so einen Automaten als eigene kleine Unternehmung anschaffen. In Tokyo sind allerdings mittlerweile wohl alle – bereits ständig erweiterten – Plätze belegt. Hier auf dem Fuji könnte ich mir noch zwei oder drei Örtchen vorstellen. Und sicherlich auch reges Interesse am typischen Sortiment, Elektrolytgetränke, Regencapes und Leberwurst-KitKats.

      Wie wach ich bin, meine Beine tänzeln am Kraterrand, als wäre ich Drahtseilartist, und sie sind geübt in dem, was sie da tun. Ich verzichte auf eigentlich obligatorische Gipfelfotos, drehe eine Runde mit Blick abwechselnd auf das rot-schwarze Kratergestein mit den dazwischen schimmernden gelben Blüten und in die mir mittlerweile hoch gefolgten Wolken. Der Fuji-san bedeckt sein Gesicht, fast frigide; wo wir uns nun schon so gut kennen. Vielleicht will er Raum schaffen für die nächsten Ankommenden, vielleicht ist es Zeit für einen Abschied. So laufe ich den Berg wieder hinab.

      Es gibt zwei Wege am Fuji, einen für den Aufstieg, einen für den Abstieg; Berührungen Entgegenkommender sind ausgeschlossen. Bei näherer Betrachtung ergibt auch die Wahl der Wege ästhetisch und psychologisch Sinn: der Aufstieg mit kürzeren Wegen und Wenden, steilerem Gefälle; einige Unwegsamkeit, Felsbrocken, so belassen, womöglich künstlich angereichert. Der Abstieg zwar länger, aber auf breitem Weg und mit geringem Gefälle: hochgradig unspektakulär. Er zeigt an: Du hast dein Abenteuer schon hinter dir, es geht nach Hause, in aller Gemütlichkeit.

      Wäre man über diesen Pfad schon hinaufgestiegen, das Gipfelerlebnis wäre blass geblieben: zu gering die Herausforderung, zu wenig wäre die Besteigungslust entfacht.

      Ich verweigere mich dieser Unterscheidung von Hin- und Rückweg. Ich beginne, bergab zu laufen, ich renne, bei jedem Schritt beide Füße für einen langen Moment in der Luft.

      Die Stöcke, die beim Aufstieg meinen Körper stützten, mir Auftrieb und Tempo verliehen, schützen mich nun vor allzu hoher Geschwindigkeit und Kontrollverlust. In den Kurven ramme ich den äußeren Stock in die Erde und stoße mich seitlich zurück in die Bahn. Staub wirbelt auf. Es raschelt laut. Kleine Steinchen, die größere anstoßen, rollen meinen Füßen nebenher, der Klang aneinanderstoßender Hartkörper, ab und zu einer, der meinen Knöchel trifft. Kleine Kiesel fallen in den Abgrund; japanische Paare, die sich erschrocken wegducken.

      Ich habe keine Angst vor Überschwang – ich will ja da runter.

      Auf 2300 Metern verabschiede ich mich von den Massen, und mit der Nachmittagssonne geht es in den Wald. Ich rechne: Halte ich mein Tempo, schaffe ich es gerade vor Einbruch der Dunkelheit zurück in meine Bergkleinstadt.

      Ein letzter Blick von oben auf die Baumwipfel. Woran erkennt man, dass etwas Neues beginnt?

      Der Weg wird immer anstrengender, er zieht sich; Müdigkeit schlägt durch, das Auf und Ab, beinahe 3000 Meter rauf und runter; nicht spurlos, nicht spurlos. Ich löse mich auf: Ich kann meinen Sinnen nicht mehr trauen, es ist windstill, und alles bewegt sich im Wald, die Baumstämme beginnen zu wandern, unbekanntes Etwas zischt durch das Gebüsch. Meine Rezeptoren stehen unter Dauerfeuer, es dauert, bis die Verarbeitung gelingt, und ich denke, das kann ja gar nicht sein. In meinen Ohren herrscht Negativrauschen, hohler Nacheffekt der Höhe; ab und zu das Fiepen der Zikaden, deren Geburtsrufe auch ihre Todesschreie sind.

      Vielleicht bewege nicht ich mich durch den Wald, sondern der Wald sich an mir vorbei, durch mich hindurch.

      Gerade bricht die Dunkelheit an, als ich von hinten durch das rote Tor des Sengen-Schreins auf die Allee mit den hohen Bäumen trete; dahinter die flimmernde Kleinstadt mit ihren flachen beigen Häusern, den hellen Straßen und Stromleitungen. Mein Blick gewinnt an Festigkeit. Es ist nicht mehr weit.

      Ich bin so erschöpft, dass ich nichts will. 44 Kilometer, 3000 Höhenmeter; zwölf Stunden unterwegs, beinahe ununterbrochen.

      Als ich am Hostel ankomme, steht dort der Glatzköpfige auf der Türschwelle, die Arme in die Seiten seines Kimonos gestemmt. Aufmerksam schaut er mich an. Ich reiche ihm die Stöcke. Er nickt bloß. Zufrieden, wie mir scheinen will.

      Ich habe keinen Hunger. Ich bin so erfüllt, dass ich nichts will. Ich lege mich in die untere Ebene des Doppelstockbetts. Es ist 19 Uhr.

      Am nächsten Morgen sitze ich mit dem Glatzköpfigen am Frühstückstisch. Wir essen Reis mit Eiern und Natto, einer klebrigen Masse aus fermentierten Sojabohnen. Wir spülen nach mit pechschwarzem Kaffee.

      Der Glatzköpfige schaut mich an, kneift ein Auge zusammen: „Running up mountains, eh. Must be exhausting. And kind of dangerous, I’d assume.“

      Ich schüttle den Kopf, lächle ihm zu.

      Was soll ich sagen, er weiß es ja schon.

      Klar ist es gefährlich, sich zu ändern.

      Ich sitze im Bus zurück nach Tokyo, spüre die Erschöpfung körperlich wie geistig. Die Leere ist angenehm.

      Als ich vom Dach der Tokyo Busstation einen Blick auf den 150 Kilometer entfernten Gipfel des Fuji werfe, kommt es mir unglaublich vor: Unglaublich, dass ich einmal einer gewesen bin, der nicht dort oben war, der nicht spontan dort hinauf- und hinuntergelaufen ist.

      Ich koste den stärker werdenden Muskelkater aus, ich habe ihn liebgewonnen, er bezeugt das Erreichte. Schief lächelnd kaufe ich mir im 7-Eleven auf dem schmalen Grünstreifen zwischen zwei verkehrsreichen Straßen eine Zwölferpackung Maki-Sushi. Ich esse den rohen Fisch zwischen Gedanken an den nächsten Lauf und Abgasdämpfen wartender Toyotas.

Das trostvolle Knacken des Möhrenbruchs

      In der achten Runde senken sich meine Augen dem Boden zu, wie um der trügerischen Hoffnung zu entgehen, die ein aufrecht gerichteter Blick birgt. Der Körper trägt den Kopf dabei, so gut er kann. Gedanklich gehe ich schon die nächste Runde durch, immer das Gleiche: der enge Durchgang zwischen Säulen und Treppe des Sportheims, der begraste Weg am Metallzaun, über mir aufragend die Flutlichter.

      In der Peripherie meines linken Auges nehme ich die schwarz-grünen Salming-Schuhe meines Trainers wahr, Egidijus; darüber blonde Härchen, eine rote Adidas-Hose. Die Oberkante meines Blickfelds endet an Egidijus’ Hand, in der in natürlicher Verlängerung die Stoppuhr erscheint, ein längliches Sechseck mit unzähligen Knöpfen und Funktionen, mit denen Egidijus die Zeiten unserer ganzen Trainingsgruppe gleichzeitig und für jede Runde einzeln aufnimmt.

      „Jawoll, sieht gut aus.“

      Ich


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