Machtergreifung. Ferdinand Schwanenburg

Machtergreifung - Ferdinand Schwanenburg


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heilige Deutschland.« Die drei stießen miteinander an.

      Friedrich Sehlings hatte sich die ganze Zeit vornehm zurückgehalten, er war höchst zufrieden mit dem Ablauf des Abends. Dass Lorenz Meyer und der Leiter des Newsrooms bereits einen detaillierten Fahrplan zur Gründung des Deutschen Herzens samt Logo und Corporate Design ausgearbeitet hatten, behielt er lieber für sich. Ihnen hatte bisher nur der richtige Mann an der Spitze gefehlt. Der war nun gefunden und in die Spur gesetzt. Jetzt brauchte Sehlings nur noch den Marschbefehl zu geben für die »Operation Bolschewiki«.

      Florentine Fischer blickte auf ihr Handy und gab die Adresse des »Alten Fritz« auf der Seite des Online-Kartendiensts ein. Vor dieser Pressekonferenz war sie noch nie in Kaulsdorf gewesen. Sie hatte sich in der Zeit verschätzt und kam zu spät. Am Eingang drückte ihr eine junge Frau in einem himmelblauen T-Shirt mit einem großen blutroten Herzen auf Brusthöhe einen Jutebeutel in die Hand. Der Saal des »Alten Fritz« war restlos überfüllt, sie musste an der Wand stehen. Das ärgerte sie. Die anderen Vertreter der Hauptstadt-Leitmedien saßen ganz vorne, direkt vor dem Tisch, an dem Marie Köster und Hans-Jürgen Lehmann Platz genommen hatten. Hinter ihnen war ein großes himmelblaues Rollup mit einem großen blutroten Herz in der Mitte. Ebensolche Fahnen hingen an den Wänden.

      Seitdem sie vor knapp zwei Jahren, damals noch als Jung-Redakteurin, die Berichterstattung über die gerade gegründete Deutschlandpartei übertragen bekommen hatte, war viel geschehen. Die Partei war nicht nur als zweitstärkste Kraft in den ersten Landtag eingezogen, mit ihrem Onkel als Fraktionschef. Sie zog in ein Landesparlament nach dem anderen ein. Nun stand die Bundestagswahl an, und alle Demoskopen sagten voraus, dass sie auch in den Berliner Reichstag kommen würde.

      Keiner ahnte bei ihrer Gründung, dass diese Partei so viel Erfolg haben würde. Alle dachten, das Ganze sei nur ein Strohfeuer – und dass die Deutschlandpartei genauso schnell wieder in der Versenkung verschwinden würde wie all die anderen Versuche in der Geschichte der Bundesrepublik, eine Partei rechts von der Christpartei zu etablieren. Ein alter Kollege, der im Berliner Büro des Demokratischen Beobachters für die Sozialpartei zuständig war, sagte damals zu ihr: »Na, Kindchen, da hast du dir ja einen echten Rohrkrepierer andrehen lassen.«

      Florentine Fischer griff in den Jutebeutel und zog die Pressemappe hervor, ebenfalls himmelblau mit blutrotem Herz. Sie blickte auf den ebenfalls himmelblauen Jutebeutel, der jedoch anders bedruckt war: Statt des blutroten Herzens war in dessen Mitte das blutrote Schattenrisskonterfei von Hans-Jürgen Lehmann zu sehen, darunter in dicker weißer, gotischer Schrift die Worte: »Der aufrechte Deutsche«.

      Die Journalistin griff noch einmal in den Jutebeutel. Irgendetwas Schweres war noch darin. Es war ein himmelblauer Kaffeebecher, ebenfalls mit dem blutroten Konterfei Lehmanns und der gleichen Aufschrift. Offenbar standen die Anhänger der Deutschlandpartei auf Personenkult, dachte sie.

      Da begann auch schon die Pressekonferenz. Erst sprach Lehmann, dann Marie Köster. Florentine Fischer war ziemlich irritiert, und ihren Kollegen ging es ebenso. Hans-Jürgen Lehmann sprach nämlich gar nicht von der Deutschlandpartei und dem Deutschen Herzen, um dessen Gründung es an diesem Vormittag gehen sollte, sondern von der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands, er sprach von Menschewiki und Bolschewiki und auch von Lenin.

      Die Redakteurin des Demokratischen Beobachters hatte zu wenig Ahnung von der Russischen Revolution und vom Kommunismus, als dass sie verstand, worauf Lehmann eigentlich hinauswollte. Der frisch gewählten stellvertretenden Vorsitzenden des Deutschen Herzens, Marie Köster, schien es ebenso zu ergehen. Während Lehmann dozierte, spielte sie demonstrativ mit ihren blonden Zöpfen, bis sie endlich mit ihrem Statement an der Reihe war. Ihre Kernaussage verstanden die Journalisten sofort: Sie pries das Deutsche Herz als Verkörperung des Völkischen in der Deutschlandpartei und schloss mit den Worten: »Wir dürfen auch vor der Idee einer Spaltung der Partei nicht zurückschrecken, wenn die Bürgerlichen nicht machen, was wir Völkischen wollen.«

      Es war fast schon ein Running Gag in der Deutschlandpartei: Immer wieder forderte irgendeiner die Spaltung oder kündigte sie mit großen Worten an. Mal wollten sich die Völkischen von den Bürgerlichen, mal die Bürgerlichen von den Völkischen trennen. Das wunderte die Journalistin nicht, sie wusste ja, wie groß die Bandbreite der Positionen in dieser jungen Partei war: Sie sog alles auf, mochte es noch so widersprüchlich sein.

      Beim Hinausgehen fiel Florentine Fischers Blick auf den Papierkorb am Ausgang. Er war gefüllt mit den Jutebeuteln mit Lehmanns Konterfei. Offensichtlich hatten die meisten der versammelten Journalisten keine Verwendung für solcherlei Fanartikel. Sie überlegte kurz, ob sie ihren Beutel dazuwerfen sollte, dann besann sie sich und stopfte ihn in die Tasche ihres Trenchcoats.

      Für die folgenden Wochen war der Terminkalender von Florentine Fischer dichtgepackt. Der Bundestagswahlkampf war in der heißen Phase, und zusammen mit ihrem Fotografen klapperte sie die Veranstaltungen der Deutschlandpartei ab. An diesem Tag waren sie auf dem Weg in ein Provinznest, wo Dr. Adalbert Hausding auf dem Marktplatz eine Rede halten sollte.

      »Halt mal bitte an«, rief der junge Mann auf dem Beifahrersitz.

      Florentine Fischer lenkte den Kleinwagen an den Rand der Landstraße. Der Fotograf griff nach der Kamera und sprang aus dem Auto. Er hatte ein ausgezeichnetes Auge für Symbolbilder. Wenn er ein passendes Motiv erspähte, dann gab es nichts, was ihn aufhalten konnte. Auch nicht der kalte Nieselregen, der durch die offene Beifahrertür hineindrang. Die junge Frau fröstelte.

      Am Straßenrand schoss der Mann unzählige Fotos von einem Laternenmast, aus den verschiedensten Winkeln. Er diente als Halter für drei überdimensionierte Wahlplakate der Deutschlandpartei. Im Hintergrund, einige hundert Meter entfernt, war ein verlassenes und halbverfallenes Fabrikgebäude zu sehen, eine perfekte Kulisse.

      Nach zehn Minuten saß der Fotograf wieder im Auto. Der Wagen rumpelte auf der mit Kopfstein gepflasterten Straße, umstanden von pittoresken Alleen, über die Schlaglöcher. »Warum nur muss die Deutschlandpartei ihre Wahlveranstaltungen immer in irgendwelchen gottverlassenen Käffern machen?«, murmelte die Journalistin leise fluchend vor sich hin. »Warum nicht einmal bei uns im Prenzlauer Berg?«

      »Na, weil sie dort kein Schwein wählt«, sagte der junge Mann. »Hier ist Deutschland!« Er wies mit der Hand durch die Windschutzscheibe auf die endlosen Äcker, die sich rechts und links der Allee erstreckten. »Ist dir eigentlich aufgefallen, dass wir bisher noch kein Wahlplakat gesehen haben, dass nicht von der Deutschlandpartei stammt? Sieht fast so aus, als hätten die anderen Parteien die Leute hier aufgegeben.«

      Florentine Fischer überlegte. Der Mann hatte recht. Seit sie den Berliner Speckgürtel verlassen hatten und auf dem platten Land unterwegs waren, dominierten die Plakate der Deutschlandpartei mit den immer gleichen Motiven und Slogans: »Islamfreie Schule«, »Konsequent abschieben«, »Heimat bewahren«, »Sicherheit für unsere Frauen und Töchter«, »Geld für Rente statt für illegale Migranten«.

      Nach einer weiteren Dreiviertelstunde Autofahrt standen sie auf dem Marktplatz eines kleinen Städtchens. Die Polizei hatte den Marktplatz weiträumig abgesperrt, junge Polizisten lungerten in ihren Einsatzwagen herum. Ein paar Jungs in Hosenträger-Uniformen schmückten eine kleine Bühne mit Wahlplakaten, probierten die Mikrofone aus.

      Es war noch reichlich Zeit, bis die Veranstaltung begann. Die Journalistin flüchtete vor der Kälte und dem Nieselregen in ein Café am Rande des Platzes. Sie setzte sich an das große Fenster, um das Geschehen im Auge zu behalten. Der Fotograf begrüßte derweil einen Kollegen, einen ungepflegten Mann, den sie auf etwa sechzig schätzte, mit einem langen Pferdeschwanz aus dünnem, grauem Haar. Er trug eine ausgebleichte Fotografenweste und hatte zwei Kameras mit riesigen Objektiven umgehängt. Florentine Fischer hatte den Mann schon oft bei Veranstaltungen der Deutschlandpartei gesehen.

      »Wer ist denn der Typ?«, fragte sie ihren Fotografen, als er das Café betrat.

      »Das ist Woody«, erwiderte er. »Der macht seit dreißig Jahren Fotos von Nazis und Rechten, reist durch ganz Europa von Veranstaltung zu Veranstaltung. Er hat ein riesiges Archiv und weiß extrem gut Bescheid.«


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