Machtergreifung. Ferdinand Schwanenburg

Machtergreifung - Ferdinand Schwanenburg


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war reiner Zufall, dass Florentine Fischer auf Hans-Jürgen Lehmann stieß. Sie war auf der Fahrt zu einem Termin in einer kleinen Provinzstadt. Unterwegs stellte sie fest, dass ihr die Papiertaschentücher ausgegangen waren, und sie fuhr den erstbesten Supermarkt an. Am Eingang fiel ihr ein Schild auf: »Klauende Asylanten bitte draußen bleiben«. Ihre journalistische Neugier war geweckt.

      Sie fragte an der Kasse nach dem Inhaber des Ladens. Ein paar Sekunden später stand vor ihr ein schlanker, hochgewachsener Mann, geschätzt Mitte vierzig, mit stechenden, stahlblauen Augen. Offensichtlich trieb er regelmäßig Sport, er hatte einen athletischen Körper. Als sie sich als Redakteurin des Demokratischen Beobachters vorstellte, bezeichnete er sie als linke System-Journalistin, doch zeigte er keinerlei Scheu, der jungen Frau aus Berlin seine Weltsicht mitzuteilen. »Wir müssen uns doch mal ehrlich machen. Wer in der dritten oder vierten Generation in Deutschland lebt und einen deutschen Pass hat, ist deshalb noch lange kein Deutscher. Das sind Invasoren in unsere Ethnie. Wenn Sie mich fragen: Deutscher ist nur, wer für das Jahr der Reichsgründung 1871 vier deutsche Großeltern nachweisen kann.«

      Trotz seiner merkwürdigen Vorstellungen machte der Mann großen Eindruck auf die Journalistin. Er war ein Charismatiker. Der Mann hatte Geschichte und Biologie studiert, wollte Gymnasiallehrer werden. Doch nach dem Referendariat änderte er seine Pläne: »Statt einer Laufbahn in unseren links-grünen Umerziehungsanstalten habe ich das Lebensmittelgeschäft meiner Eltern übernommen«, erklärte er mit sanfter Stimme. »So habe ich mir die Freiheit erhalten, zu sagen, was ich denke. So wurde ich nicht vom System zwangsentmannt.«

      »Bingo«, dachte die Journalistin. Es war gerade ein paar Tage her, dass sie ihr Chefredakteur zu sich gerufen und erklärt hatte: »Mir reicht es mit den Stiefel-Nazis und den Trash-Nazibräuten à la BDM-Marie. Ich möchte den ganz normalen deutschen Next Door-Nazi im Blatt haben.«

      Die blonde Journalistin saß mit ihrem Block auf den Knien vor dem Schreibtisch des Chefredakteurs und schrieb mit: »… Next Door-Nazi«.

      »Es scheint in Deutschland doch mehr völkisch denkende Menschen zu geben, als wir wahrhaben wollen«, fuhr der Chefredakteur fort. »Machen Sie eine Porträt-Serie über die Völkischen in Deutschland. Fahren Sie durchs Land und spüren ein paar dieser bürgerlichen Nazis auf.«

      Die junge Journalistin sagte nichts und schrieb fleißig mit. Sie wusste, dass ihr Chef nicht zuhörte, wenn er monologisierte. Oft diktierte er seinen Mitarbeitern die Story direkt in den Block. Sie hatte nichts dagegen, das sparte einem enorm viel Arbeit.

      »Der Hausding ist ja wohl auch einer von diesen bürgerlichen Biedermännern und Brandstiftern. Der soll brauner sein, als wir alle denken«, redete sich der alte Journalist in Fahrt. Seine junge Kollegin rutschte verlegen auf dem schwarzen Ledersessel hin und her, ihr wurde mulmig. »Der hatte doch hohe Posten in der Verwaltung inne. Wie kommt der eigentlich zur Deutschlandpartei? Das sollten Sie mal recherchieren.« Die Journalistin hörte auf mitzuschreiben. »Was wissen wir eigentlich über den, über seine Familie? Was macht so ein Typ Sonntagnachmittags? Trifft der sich zum Kaffee und Kuchen mit anderen Nazis?«

      Dr. Florentine Fischer wurde rot, drückte sich tiefer in den Sessel. Doch der Chefredakteur sah sie gar nicht mehr, so sehr war er in seinem Redeschwall. »Da haben wir Milliarden für Programme gegen rechts ausgegeben! Heerscharen von Akademikern, eine ganze Antifaschismusindustrie lebt von solchen Projekten. Und alles hat nichts genützt.«

      »Ich kümmere mich darum«, hakte die junge Journalistin ein, stand schnell auf und verdrückte sich aus dem Raum.

      Und nun stand er vor ihr, in einem Lebensmittelladen in der Provinz, das Paradebeispiel des braunen Bürgers von nebenan. Die Journalistin konnte ihr Glück kaum fassen.

      Der Text, den sie noch am selben Tag verfasste, gefiel dem Chefredakteur außerordentlich, er lobte die Autorin vor der versammelten Redaktion. »Sie haben das mit viel Einfühlungsvermögen geschrieben. Genau so einen wollte ich haben! Und was für ein höflicher Kerl: Er hat auf das Schild vor seinem Geschäft sogar extra ›bitte‹ geschrieben.« Der Text kam unverändert ins Blatt mit der Überschrift: »Der nette Nazi von nebenan«.

      Friedrich Sehlings stand am Herd in der engen Küche seines Bahnwärterhauses und rührte in der braunen Soße. Er trug eine Schürze mit der Aufschrift »Kommandeur der Küchenbrigade«. Sie war ein Geburtstagsgeschenk seiner beiden Freunde Herbert und Dr. Lorenz Meyer. Sie hatten den Spruch extra für ihn aufsticken lassen.

      »Wir sind deine Küchenbrigade, so hieß bei uns das Küchenpersonal«, erklärte der gelernte Koch Herbert seinem Freund. »Bei der Bundeswehr kommandiert ein Kommandeur ja auch eine Brigade.« Überall sonst war Herbert es, der kochte. Aber hier unterwarf er sich gerne den Befehlen seines Freundes, wie er es sonst auch immer tat. Herbert und Lorenz Meyer saßen am Küchentisch. Der eine kümmerte sich um den Nachtisch, braune Schokoladencreme. Der andere bereitete den Salat vor.

      Lagebesprechung der Küchenbrigade: So hatten die drei Freunde ihre gemeinsamen Kochabende im Bahnwärterhäuschen des Kommandeurs schon immer genannt, lange vor der Gründung der Deutschlandpartei. Nach dem Essen gingen sie stets in Friedrich Sehlings’ Bibliothek. Bei einem guten Cognac am knisternden Kamin schmiedeten sie Pläne für die nächsten Etappen ihrer Mission.

      Friedrich Sehlings mochte Herbert sehr, stets war der ihm treu ergeben. Er beneidete seinen Kameraden aber auch in zweierlei Hinsicht. Trotz seiner Beleibtheit und seines nicht sehr günstigen Aussehens hatte Herbert einen Schlag bei den Frauen. Doch da war noch etwas anderes: Herbert war ein wirklicher Kleinbürger. Er war in diese Gesellschaftsschicht hineingeboren, lebte die kleinbürgerlichen Werte, hatte sie verinnerlicht. Sehlings dagegen rutschte, wenn er unachtsam war, aus seiner Rolle raus. Dann ließ sich seine bildungsbürgerliche Herkunft nicht verleugnen.

      Wie Herbert war auch Dr. Lorenz Meyer einer von Friedrich Sehlings’ Schläfern, die er mit einem Anruf reaktivieren konnte, wenn sich eine neue Gelegenheit auftat. Dabei war er das genaue Gegenteil von Herbert: Er war Ideologe, wog jeden Satz, den er sagte, sorgfältig ab und sagte niemals ein Wort zu viel. Er verfolgte unbeirrt seinen Weg, Abweichungen und Verirrungen gab es nicht. Er wollte nicht auffallen, weder durch sein Äußeres noch durch sein Verhalten. Er war unnahbar. Manchmal auch für Sehlings und Herbert. Nur wenige kannten seine Schwächen. Er war ein »Mann ohne Eigenschaften«, wie Dr. Adalbert Hausding ihn einmal gegenüber Sehlings bezeichnet hatte.

      Als Sehlings Meyer das erste Mal begegnete, war der ein 15-jähriger, hochintelligenter Gymnasialschüler auf der Suche nach seiner Identität. Es war bei einem Tag der Offenen Tür in der Kaserne, in der Sehlings als Fallschirmjäger diente. Meyer trat an den Feldwebel heran mit den Worten: »Sie sehen aus wie ein Mann aus einer früheren deutschen Epoche, den ich sehr verehre.« Da war der Entschluss gefasst, den jungen Mann unter seine Fittiche zu nehmen, er wurde sein Mentor und führte ihn in seine rechten Kreise ein.

      Der Mentor erkannte sehr schnell die Intelligenz, das strategische Denken und die Arbeitsleistung des jungen Mannes. Sehlings schlug Meyer vor, nach dem Abitur die Laufbahn der Reserveoffiziere einzuschlagen und zur Fallschirmjägertruppe zu gehen. Vor seiner Abreise zur Offizierbewerberprüfzentrale ermahnte er ihn noch, bloß nicht seine Weltanschauung durchblicken zu lassen. Das war aber gar nicht nötig. Schon als Schüler hatte Lorenz Meyer das Tarnen und Täuschen so internalisiert, dass außerhalb des engeren Kreises der Gesinnungsgenossen keiner wusste, was er eigentlich dachte. Sein Jugendzimmer war so spartanisch eingerichtet, dass es an eine Gefängniszelle erinnerte. Keine Popstars an der Wand und auch keine Bilder von Panzern und Soldaten der Wehrmacht wie damals in Sehlings’ Jugendzimmer. Sogar die Bücher, die er las, verschloss Meyer nach dem Lesen schnell wieder in seinem Schrank.

      Bei all ihren biografisch bedingten Unterschieden verbanden Friedrich Sehlings, Lorenz Meyer und Herbert drei Eigenschaften: der unverrückbare Glaube an ihre Mission, eine nicht zu unterschätzende Skrupellosigkeit bei ihrer Durchsetzung und ein instinktives Gespür für Organisation. Das machte sie zu einer verschworenen Gemeinschaft. Sie konnten sich aufeinander verlassen.

      Auf dem Küchentisch lag die Ausgabe des Demokratischen


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