Machtergreifung. Ferdinand Schwanenburg

Machtergreifung - Ferdinand Schwanenburg


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reagierte nicht darauf, was seine Freundin zu ihm sagte. Es roch verbrannt, und vom Herd stieg Rauch auf. »Himmel, die Eier!«, stieß er hervor.

      Laut fluchend stürzte die Philosophin zum Herd.

      Die Aufregung war Hans-Jürgen Lehmann anzumerken, während der Fahrt rutschte er die ganze Zeit unruhig auf dem Beifahrersitz hin und her. Endlich kam die Zugbrücke zur Pfalz in Sicht. »Ich verehre Barbarossa seit Jahren, lese alles von ihm«, sagte er zu Friedrich Sehlings, als sie durch den Torbogen auf den Hof fuhren, »er ist ein großer Denker. Sehlings parkte den Wagen. Kaum waren sie ausgestiegen, rannten auch schon zwei Männer der Diskrepanten Bewegung in Hosenträger-Uniform auf die beiden zu, nahmen militärische Grundstellung ein und salutierten.

      »Guten Tag, Herr Lehmann«, rief der eine. »Wir heißen Sie als Ehrengast auf der Pfalz herzlich willkommen. Dürfen wir Sie ins Haus geleiten?«

      Lehmann wusste gar nicht, wie ihm geschah, und blickte Sehlings ungläubig an. Dann trottete er ihm und den beiden Uniformierten hinterher. Sie führten die Gäste in die Bibliothek, wo zwei Gläser mit Wasser für sie bereitstanden. »Vielleicht möchten Sie eine kleine Erfrischung«, rief der zweite Uniformierte. »Sie hatten ja eine lange Fahrt. Ihr Gepäck werden unsere Kameraden auf Ihre Stuben bringen. Der Vortrag geht gleich los.«

      Während sie ihr Wasser tranken, wollte sich Lehmann in der schummrigen Bibliothek, die nur vom Kaminfeuer beleuchtet wurde, etwas umsehen. Er kam aber nicht weit. Ohne dass ihn jemand hätte hereinkommen hören, stand plötzlich Barbarossa mitten im Raum. Herzlich willkommen«, rief der Rauschbärtige mit pathetischer Stimme. »Ich begrüße einen aufrechten deutschen Mann auf meiner Pfalz.« Er trat näher und streckte Lehmann die Hand entgegen. »Ich freue mich besonders, dass gerade Sie heute unser Ehrengast bei meinem Vortrag sind und Sie einige der besten Kameraden meines Jüngerkreises kennenlernen dürfen.« Kurz und wortlos schüttelte er auch Friedrich Sehlings die Hand, dann rief er: »Es ist Punkt 16 Uhr, wir sollten beginnen. Pünktlichkeit ist eine deutsche Tugend, die hier noch gepflegt wird.«

      Im selben Augenblick schlug auch schon die alte Standuhr vier Mal. Die beiden Uniformierten öffneten die Tür zum Pfalzsaal, stellten sich rechts und links kerzengerade auf und warteten. »Meine Herren …«, sagte Barbarossa, zu Lehmann und Sehlings gewandt: »Ich bitte Sie, mir zu folgen.« Er schritt durch die Tür in den Pfalzsaal, dahinter Lehmann, dann Sehlings.

      Auf den Stühlen im Pfalzsaal saßen rund fünfzig junge Anhänger der Diskrepanten Bewegung in ihrer typischen Hosenträger-Uniform. »Achtung!«, schrie einer der Männer. Blitzschnell erhoben sich alle und nahmen militärische Grundstellung ein. »Barbarossa, ich melde Ihnen 51 Angehörige der Diskrepanten Bewegung in den Pfalzsaal zum Vortrag über die Bolschewistische Revolution eingerückt.«

      Jetzt ergriff Barbarossa das Wort: »Guten Tag, deutsche Männer! Guten Tag, deutsche Frauen!«

      »Guten Tag, Barbarossa«, schallte es im Chor zurück.

      Barbarossa gab Handzeichen, dass sie sich setzen sollten. Er führte Lehmann zu einem Tisch, der vorn als eine Art Logenplatz aufgestellt war. Auf einem großen Schild stand: »Ehrengast Hans-Jürgen Lehmann«. Sehlings ging nach hinten und setzte sich wie üblich auf einen Stuhl außen in der letzten Reihe. Von hier aus konnte er sich das Theaterstück ansehen, das speziell für den heutigen Abend inszeniert worden war. Für einen einzigen Zuschauer: Hans-Jürgen Lehmann.

      Mit lauter, klarer Stimme begann Barbarossa zu reden: »Deutsche Männer und Frauen! Ich begrüße euch heute sehr herzlich zu meinem Vortrag. Doch bevor ich beginne, möchte ich unseren heutigen Ehrengast begrüßen, den aufrechten Deutschen Hans-Jürgen Lehmann.«

      Die Männer und Frauen begannen zu klatschen. Lehmann erhob sich zögernd und machte eine kleine Verbeugung.

      Dann begann Barbarossa mit seinem Vortrag: »Wladimir Iljitsch Lenin war ein sehr geschickter Kommunikator. Obwohl sie eigentlich die Minderheit waren, nannte sich sein radikaler Flügel der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands einfach Bolschewiki, also Mehrheitler. Ihre Gegner nannten sie Menschewiki, die Minderheitler …«

      Von seinem Platz in der letzten Reihe sah Sehlings, wie Lehmann auf Wolken schwebte. Endlich durfte er einer Vorlesung eines seiner geistigen Helden beiwohnen, er machte sich sogar Notizen. Sehlings unterdrückte ein Gähnen, den Vortrag Barbarossas konnte er inzwischen schon fast wörtlich mitsprechen.

      Es gab Zeiten, da konnte er mit dem Pathos, mit dem Barbarossa sich zu umgeben suchte, besser umgehen. Beide kannten sich jetzt schon mehr als 30 Jahre. Als sie das erste Mal bei einer Wanderfahrt aufeinandertrafen, waren sie beide gleichaltrige Jungs auf der Suche nach einer rechten Identität. Sie mochten sich, freundeten sich an, gründeten einen Literaturzirkel. Schnell war die Arbeitsteilung klar. Barbarossa, damals noch mit einem schütteren Ziegenbärtchen, war mehr der intellektuelle Charismatiker, Sehlings mehr der Macher, der die intellektuellen Denkspiele Barbarossas in Handlungen umsetzte und der die Jünger des Rauschbärtigen so führen konnte, dass sie auch ihm willig folgten.

      Einer dieser Jünger benutzte einmal aus einer Laune heraus für Friedrich Sehlings den Spitznamen »Commander«, was ihm jedoch sofort einen Rüffel Barbarossas einbrachte: »Ein deutscher Mann darf keine Spitznamen aus der amerikanischen Militärkultur tragen. Im deutschen Militär heißt das Kommandeur.« Seit dieser Zeit trug Friedrich Sehlings den Spitznamen Kommandeur.

      Nach dem Vortrag führte Barbarossa Lehmann und Sehlings in die Bibliothek, Sie nahmen in den schweren, braunen Ledersesseln vor dem lodernden Kamin Platz. Ein Serviermädchen mit streng nach hinten geflochtenem Zopf, in weitem Rock, Schnürmieder und Schnürstiefeln brachte drei große steinerne Krüge Bier herein. Die drei Männer ergriffen die Krüge.

      Lehmann war ganz beglückt. »Ich bin seit Langem ein großer Anhänger von Ihnen«, rief er. »Aber was ich heute hier erlebt habe, hat mich wirklich überzeugt.«

      »Sie kennen meine Schriften und Bücher«, ergriff Barbarossa das Wort. »Dann wissen Sie ja auch, dass ich ein großer Kritiker der Deutschlandpartei bin. Sie ist, wie alle Parteien, ein waberndes Schleimgebilde, wie eine Qualle, nicht fassbar, nicht greifbar, ohne Geist. Es ist etwas Ekelhaftes.«

      Lehmann nickte demonstrativ. Was Barbarossa sagte, war auch seine Ansicht.

      »Es herrschen die Karrieristen, es herrschen die Postenjäger«, fuhr der Rauschbärtige mit theatralischer Stimme fort. »Es herrschen die, für die Politik nur ein Zeitvertreib ist. Die Partei wird von Männern dominiert, denen jegliches Verständnis für den deutschen Geist fehlt. Männer, die unser heiliges Deutschland längst aufgegeben haben für ihre eigenen geistlosen Ambitionen.«

      Lehmann nickte immer heftiger mit dem Kopf.

      »Erlauben Sie mir, dass ich eine sehr vereinfachte Form der Lenin’schen Theorie auf Ihre Partei anwende. Zu den Menschewiki gehört die Mehrheit in der Deutschlandpartei. Sie wollen Reformen, sie wollen Posten im Parlament und in den Regierungen und hoffen so, das Blatt umzuwenden. Aber das wird nicht funktionieren. Wir brauchen einen Umsturz, eine Revolution. Doch das geht nur mit einer Kaderpartei. Wenn Sie Erfolg haben wollen, müssen Sie die Deutschlandpartei zu einer Kaderpartei umbauen.«

      Lehmann hing förmlich an den Lippen Barbarossas. Der strich sich den Rauschebart und fuhr fort: »Was Sie brauchen, sind geschulte Berufsrevolutionäre, die Ihr Handwerk verstehen. Sie brauchen uns. Ich möchte Ihnen gerne meine Männer und Frauen der Diskrepanten Bewegung zur Verfügung stellen. Sie werden die bolschewistische Kerngruppe sein, mit der Sie die Deutschlandpartei zu einer Revolutionspartei umbauen können. Man könnte sie Deutsches Herz nennen, denn sie ist das Herz der neuen nationalen und sozialen Bewegung. Auch der Führer hat sich damals eine solche Organisation geschaffen.«

      Bei der Erwähnung des Wortes »Führer« leuchteten Hans-Jürgen Lehmanns stahlblaue Augen. Lehmann war wie berauscht von den Ideen Barbarossas, und ebenso berauscht war Barbarossa, dass er jemanden gefunden hatte, bei dem seine Revolutionsfantasien auf fruchtbaren Boden fielen.

      Ruckartig


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