Machtergreifung. Ferdinand Schwanenburg

Machtergreifung - Ferdinand Schwanenburg


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hörte ihn, sie ignorierten ihn noch immer. Eine solche Gefährtin hatte er sich in seiner Kindheit und Jugend immer an seiner Seite gewünscht. Eine Schwester, mit der er gegen die grüne Spießigkeit des Elternhauses rebellieren konnte. Eine Freundin, der er seine jugendlichen Wünsche und Träume anvertrauen konnte. Das war ihm nicht vergönnt. Er musst sich seine Verbündeten außerhalb des Elternhauses suchen, außerhalb seines familiären Milieus, außerhalb der gesellschaftlichen Klasse, in die er hineingeboren wurde.

      Noch in der Nacht setzte sich Sehlings in seiner Bibliothek vor den Laptop und lud die Doktorarbeit der schönen Philosophin herunter. Das Feuer im Kamin knisterte. Er druckte sie aus, 245 DIN-A4-Blätter. Dann setzte er sich in einen der Lehnsessel, goss sich einen Cognac ein, lehnte sich zurück und studierte das Deckblatt: Parteipolitische Machtmechanik in Zeiten der Abklärung: Ein Beitrag zu einer Dialektik der Postdemokratie – Inauguraldissertation zur Erlangung des Doctor philosophiae von Magistra Artium Angelika Erdmann-Benz.

      Er blätterte um und las den ersten Satz der Arbeit: »Die Aufklärung war ein Großprojekt der europäischen Zivilisation …« Er las weiter. Im Schein des Feuers und seiner Leselampe studierte er die Doktorarbeit. Die Buchstaben verschwammen mit dem Bild der schönen Philosophin. Sie ging ihm nicht mehr aus dem Kopf.

      Friedrich Sehlings hatte ein Frauenproblem. Er stand auf intellektuelle Frauen aus gutem Hause. Das war ein Überbleibsel seiner bildungsbürgerlichen Vergangenheit. Schon in seiner Jugend zog es ihn zum Typ sittsame höhere Tochter, zu jenen bildungsbeflissenen Mädchen, die den Salon seiner Mutter besuchten. Mit einigen von ihnen war er auch ausgegangen. Sie wollten mit ihm über Jean-Paul Sartre und die französische Literatur sprechen, er mit ihnen über die Helden der SS. Sie zierten sich, wiesen ihn zurück. Sie standen mehr auf die verweichlichten Künstler, die bei den Abenden in seinem Elternhaus im Mittelpunkt standen.

      Er hasste diese feminisierten, antifaschistisch gesinnten Männer, suchte die Revolte. Ausgerechnet der von seiner Mutter so geliebte Bertolt Brecht setzte ihn aufs richtige Gleis. Sein Deutschlehrer erzählte einmal, dass sich der Dichter seine graue Arbeiterkluft aus bestem Material maßschneidern ließ. Die Brille im schlichten Kassengestell-Design war furchtbar teuer, der Proletarier-Look reine Inszenierung. Brechts Spiel mit den Identitäten gefiel dem jungen Sehlings. Er schor sich die Haare, änderte seinen Kleidungsstil, legte sich eine Brille wie Bert Brecht zu, eine Zeit lang trug er sogar einen Oberlippenbart wie der Arbeiterdichter.

      In seinem Lieblingsbuch, Fests Hitlerbiografie, las er, dass die Trägerschicht der faschistischen Bewegungen das Kleinbürgertum war. Friedrich Sehlings wollte dazugehören. Er wollte auch Kleinbürger werden. Wie Brecht sich als Proletarier inszenierte, so versuchte er es fortan als rechter Kleinbürger. Er wechselte das Milieu, engagierte sich bei der Jugendorganisation der Christpartei, trat in eine arg konservative Pennäler-Verbindung ein, wurde Mitglied bei völkischen Wandergruppen. Er liebte die Lagerfeuerromantik, wo junge Männer noch Männer sein, sich noch über Männerthemen in Männersprache unterhalten durften.

      Dort fand er einen Freund, der das gleiche Faible hatte wie er, der an die gleiche Mission glaubte. Sie gründeten einen Literaturzirkel, diskutierten mit anderen Jungs linke und rechte Theoretiker, schwelgten in Revolutionsfantasien. Die Mädchen, die Sehlings in den rechten Kreisen kennenlernte, waren handfester. Sie zierten sich nicht, protestmännliches Gehabe törnte sie erst richtig an. Sie verstanden es, wenn er von der SS erzählte, wünschten sich doch viele von ihnen so einen Helden zum Mann. Mädchen vom Typ BDM-Marie gab es dort viele. Doch die begehrte er nicht.

      Er las die ganze Nacht, jedes kluge Wort der Doktorarbeit der schönen Philosophin, bis ihn in seinem Lehnsessel, mit dem Stapel Kopien auf seinem Schoß, die Augen zufielen. Sein schläfriger Blick fiel auf den SS-Dolch seines Großvaters. Was hätte sein Vorfahr jetzt an seiner Stelle getan? Wie konnte er Dr. Angelika Erdmann-Benz für sich gewinnen? Wie konnte er sie seinem Erzrivalen Dr. Müller ausspannen? Mit diesen Fragen im Kopf schlief der frischgebackene Landtagsabgeordnete der Deutschlandpartei in seinem Lehnsessel ein.

      Dr. Adalbert Hausding betrat sein neues, geräumiges und repräsentatives Büro im Landtag, das Büro des Fraktionsvorsitzenden. Er setzte sich an seinen Designer-Schreibtisch aus Glas und Edelstahl. Hinter ihm an der schneeweißen Wand hing ein Porträt von Charles Maurice de Talleyrand, dem französischen Staatsmann und Diplomat, der während der Französischen Revolution, der Napoleonischen Kriege und des Wiener Kongresses wirkte. Er diente insgesamt sechs verschiedenen französischen Regimen, und stets hatte er dabei hohe Ämter inne. Er galt als Meister des Opportunismus und der Anpassungsfähigkeit. Hausding hatte sich einst intensiv mit ihm befasst und auch einige Aufsätze über ihn veröffentlicht.

      Die Büros und Möbel, die Computer und auch die Fernseher, die in jedem Büro hingen, stellte die Landtagsverwaltung den Fraktionen. Die Ausstattung war stets die gleiche, keine Fraktion wurde bevorzugt behandelt. Die Vorsitzenden erhielten stets die größten Büros, auch sie, was Größe des Raums und die Zahl der Fenster betraf, völlig identisch. Sie hatten auch Anrecht auf einen Schreibtisch, der ein paar Zentimeter breiter war als der der normalen Abgeordneten. Ebenso standen den Fraktionsvorsitzenden ein Konferenztisch mit sechs Stühlen sowie eine Sitzgruppe mit vier schwarzen Ledersesseln mit Edelstahlgestell zu, geschaffen von dem Designer, der auch den Schreibtisch ersonnen hatte. Dazu ein niedriger, quadratischer Glastisch, ebenfalls mit einem Gestell aus Edelstahl.

      Normale Abgeordnete hatten für ihr Büro nur Anrecht auf zwei Edelstahlsessel und einen wiederum um einige Zentimeter schmaleren Glastisch. Den konnten sie allerdings auf schriftlichen Antrag gegen drei Stühle und einen höheren Konferenztisch eintauschen, damit sie in ihren Büros Besprechungen abhalten konnten. Über die genaue Einhaltung der Vorschriften wachte die Landtagsverwaltung. Die Abgeordneten hatten auch das Recht, an den weißen Wänden »Raumschmuck ihrer Wahl« aufzuhängen, wie es in der Raumnutzungsanweisung hieß, die in einem dicken Ordner eingeheftet war, den die Landtagsverwaltung den hundert Abgeordneten per Post nach Hause schickte, noch bevor die Fraktionen sich konstituierten.

      In diesem Ordner stand alles, was der neue Abgeordnete wissen musste. Aber auch Parlamentarier der anderen Fraktionen, von denen einige bereits in der fünften Legislaturperiode im Parlament saßen, bekamen die Ordner zugeschickt. Auch sie mussten den Erhalt mit einem vorausgefüllten Formular quittieren. In dem Ordner waren noch andere Insignien der Macht: der Landtagsausweis und eine Bahncard Erster Klasse. Damit konnten die Abgeordneten in ihrem Bundesland jederzeit jeden Zug kostenlos nutzen.

      Wer eigene Bilder in seinem Büro aufhängen wollte, musste dazu einen schriftlichen Antrag bei der Landtagsverwaltung stellen. Denn nur den Hausmeistern des Landtages war es erlaubt, in die Wände des Landtagsgebäudes Nägel einzuschlagen. Bei der Einsatzplanung der Hausmeister galt die Reihenfolge des Eingangs des entsprechenden Formulars im Büro des Landtagspräsidenten. Der wurde mit einem Datum-Zeit-Stempel genau dokumentiert. Parlamentarismus bedeutete, wie die neuen Abgeordneten der Deutschlandpartei schnell feststellten, zuallererst einmal Bürokratie.

      Dr. Adalbert Hausding hatte in seinem Büro nur das Porträt des französischen Staatsmanns aufhängen lassen. Das hatte er vor Jahrzehnten auf dem Flohmarkt erworben, seitdem begleitete es seine Karriere als Staatsbeamter. Bei jedem Dienstpostenwechsel, bei jeder Beförderung zog es mit um. Nach seiner Pensionierung war es zunächst auf den Dachboden der Vorstadtvilla gewandert, die Hausding bewohnte. Bei seinem Einzug in den Landtag wurde es entstaubt und wieder in Dienst gestellt.

      Das Porträt Talleyrands war das erste Bild überhaupt, das die Hausmeister aufhingen. Sie scherten sich nicht um die festgelegte Reihenfolge. Sie alle hatten die Deutschlandpartei gewählt, einige waren sogar Parteimitglieder. Weiter hatte der Fraktionsvorsitzende keine persönlichen Dinge mit in den Landtag gebracht. Für ihn sollte es nur eine Zwischenstation sein. In nicht allzu ferner Zeit war Bundestagswahl. Dr. Adalbert Hausding wollte dorthin, wo es wirklich um etwas ging, wo wirklich Politik gemacht wurde. Er wollte ins Regierungsviertel nach Berlin.

      Vor Hausding auf dem Schreibtisch lag ein riesiger Stapel mit Bewerbungsmappen. Große Lust, ihn durchzuarbeiten, hatte er nicht. Es waren 25 Bewerbungen auf die Position des Fraktionsgeschäftsführers, des Verwaltungschefs


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