Machtergreifung. Ferdinand Schwanenburg

Machtergreifung - Ferdinand Schwanenburg


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      Es war bereits dunkel, als Friedrich Sehlings die Pfalz erreichte. Über der Landschaft lag zäher Nebel. Im Licht der Scheinwerfer erspähte Sehlings die Zugbrücke, die über den Graben auf die Anlage führte. Er lenkte den Wagen darüber und durch den Fachwerktorbogen auf den Hof. Barbarossa hatte an diesem Wochenende zu einem seiner exklusiven Deutschen Salons auf die Pfalz geladen.

      Was von Barbarossa und seinen Anhängern die Pfalz genannt wurde, war ein altes Gehöft mit ausgedehnten Scheunen, Stallungen und Remisen und einem großen Fachwerkhaus im Zentrum. Einsam stand der alte Bauernhof in der kargen, menschenverlassenen Landschaft.

      Der Graben umschloss die ganze Anlage, die nur über die hölzerne Zugbrücke erreichbar war. Die einzelnen Gebäude gruppierten sich um einen großen Hof mit Kopfsteinpflaster. Drumherum standen mächtige jahrhundertealte Eichen. Wenn es nötig war, ließ sich das Anwesen komplett abriegeln. Investoren hatten das halbverfallene Gehöft vor einigen Jahren gekauft und daraus ein Zentrum für Barbarossas Deutsche Salons gemacht. Teilnehmen konnte nur, wen Barbarossa höchstpersönlich eingeladen hatte, für das Seminar und die Unterkunft musste eine ordentliche Summe berappt werden. Viele warteten jahrelang vergeblich auf eine Einladung.

      Genauso wie die Pfalz Teil einer großen Inszenierung war, war es auch deren Besitzer. Hochaufgeschossen und schon von Jugend an immer eine kerzengerade, straffe Haltung einnehmend, mit großen hervortretenden Augen, einer spitzen Nase, lockigem roten Haar und Bart erinnerte er an den legendären Stauferkönig Friedrich Barbarossa. Bereits auf dem Gymnasium beschäftigte er sich mit dem Mittelalter und pflegte einen exzentrischen Lebensstil. Mit den Jahren baute er diesen Spleen zu einer Attitüde aus und stilisierte sich selbst zu einer Art Kunstprodukt. Sein rotes Ziegenbärtchen ließ er nach dem Vorbild des Barbarossa-Denkmals auf dem Kyffhäuser zu einem langen Rauschebart wachsen. Er las sehr viel, darunter ausgefallene, vor allem rechtsgerichtete Denker und Publizisten. Seine Sprache entwickelte sich zu einer Mischung aus dem knarrenden, abgehackten Kommandoton des Kasernenhofes und intellektueller Verstiegenheit, wie man sie von rechtsintellektuellen Denkern wie Ernst Jünger, Oswald Spengler oder Martin Heidegger kannte, die er verehrte. Das ließ seine Erscheinung noch entrückter erscheinen.

      Barbarossa polarisierte. Für die einen war er ein hochintelligenter Charismatiker, für die anderen einfach nur ein skurriler Spinner. Bereits als Jugendlicher hatte er einen Kreis von Gleichgesinnten um sich geschart, eine Art Literaturzirkel, in denen Texte zum Mittelalter, zur Nationalstaatswerdung Deutschlands und rechte, aber auch vereinzelte linke Autoren gemeinsam gelesen und diskutiert wurden. Die Gemeinschaft einte die Liebe zu einem versunkenen heroischen Deutschland, eine Vorliebe für alles Militärische, der Glaube, dass Deutschland eine Mission in der Weltgeschichte habe und dass es an ihnen sei, diese Mission im Namen Deutschland zu erfüllen.

      Mit seinen Deutschen Salons zog Barbarossa neue Anhänger heran, die er in seinen Jüngerkreis integrierte. Er nannte diesen Kreis »Diskrepante Bewegung«. Rund zwei Dutzend junger Männer, meistenteils Studenten, Burschenschafter, junge Offiziere oder Reserveoffiziere der Bundeswehr, waren an diesem Wochenende auf die Pfalz gekommen. Zweieinhalb Tage ließen sie sich über die Welterklärungsansätze und Revolutionsvisionen Barbarossas unterrichten.

      Das Seminar hatte bereits begonnen, als Friedrich Sehlings in den Pfalzsaal trat, der nur durch Kerzenlicht beleuchtet war. Geräuschlos setzte er sich in die letzte Stuhlreihe. Barbarossa stand kerzengerade und mit ernster Miene vor dem brennenden Kamin an der Stirnseite des Saals. Er trug einen Anzug aus grobem, dunkel-grauem Stoff, vor dem sich sein feuerroter Bart abhob. Das Jackett war bis an den Hals zugeknöpft. Es glich der Kluft, die der frühere nordkoreanische Diktator Kim Jong-Il immer trug.

      »Ihr sollt die Avantgarde sein«, rief Barbarossa. »Ihr seid als intellektuell und theoretisch geschulte Männer die Elite der nationalen Bewegung.« Die Stimme Barbarossas war laut und pathetisch. »Eure Aufgabe wird sein, als Berufsrevolutionäre die völkische Bewegung anzuführen, um unsere Mission zu erfüllen und ein neues Deutschland zu erschaffen. Der erste Schritt wird es sein, eine Partei neuen Typus zu erschaffen. Die ersten Kundschafter sind bereits am Werk.«

      Barbarossa hatte Sehlings unter den Zuhörern bemerkt und warf ihm einen Willkommensblick zu. Sehlings nickte zurück. Den Vortrag kannte er bereits, er hatte ihn in den letzten Jahren schon oft gehört. Bereits als Schüler hatte Barbarossa Lenins Schrift Was tun? aus dem Jahr 1902 studiert und sich mit dessen Theorie der Kaderpartei beschäftigt. Danach waren für eine Revolution eine straff organisierte Kaderpartei mit Berufsrevolutionären und eine Parteielite notwendig. Nur eine solche »Partei neuen Typus«, wie Lenin sie nannte, sei berechtigt und in der Lage, die Führungsrolle zu übernehmen und die Massen zum Kommunismus zu erziehen. Von so einer Partei träumte auch Barbarossa, nur war ihr zu erreichendes Endziel nicht der Kommunismus.

      »Die Kommunisten hatten eine Mission: eine ideale Gesellschaft. Die Berufsrevolutionäre mussten den Proletariern auf die Sprünge helfen, um sich ihrer Klasse bewusst zu werden. Heute müssen wir den Deutschen auf die Sprünge helfen, sich ihrer Auserwähltheit als Volk bewusst zu werden.«

      Sehlings ließ seinen Blick über den Saal schweifen, eine größere Bauernstube. In dem eisernen Kronleuchter an der Decke, bestehend aus massiven Eichenbalken und grob bearbeiteten Holzbohlen, brannten Dutzende von Kerzen. Sie und der Kamin waren die einzigen Lichtquellen. In der Ecke stand eine Ritterrüstung, die im flackernden Schein des Kerzenlichts glänzte. An den nur mit Kalk geweißelten Wänden hingen Schwerter und andere Mittelalter-Devotionalien. Der Raum wirkte düster und heimelig zugleich.

      Auf massiven Holzstühlen mit hohen, geschnitzten Rückenlehnen und strohgeflochtenen Sitzflächen saßen die zwei Dutzend Männer, alle zwischen zwanzig und dreißig. Die meisten trugen weiße Hemden, blutrote Krawatten und Hosenträger, dazu schwarze Stoffhosen mit Bügelfalte. Ihre schwarzen Lederschuhe waren blank geputzt.

      »Wir erleben gerade ein Fatum, das eigentlich Unabwendbare doch noch abzuwenden und unser Land wieder heroischen Zeiten zuzuführen«, sprach Barbarossa und breitete die Arme aus. »Wir müssen die Gunst der Stunde nutzen. Sie ist der Funke. Aus dem Funken wird eine Flamme, aus der Flamme ein Flächenbrand«, sagte der Rotbärtige. Im Saal war es mucksmäuschenstill.

      »Der Funke wird zünden«, fuhr er mit ruhiger Stimme fort, in der dennoch stets etwas Kommandomäßiges lag. Die im schummrigen Pfalzsaal Versammelten verstanden die Doppeldeutigkeit seiner Worte: Der Funke war auch die Zeitschrift, die Barbarossa herausgab, zunächst als Papierausgabe, seit Kurzem auch in einer Internet-Version.

      Der Name war sehr bewusst gewählt: Iskra, russisch für Funke, hieß die Zeitschrift, die Lenin zu Beginn des 20. Jahrhunderts herausgab. Genau wie Lenin mit seiner Zeitschrift die verschiedenen Strömungen der Arbeiterbewegung in Russland versammelte, wollte Barbarossa mit dem Funken die verschiedenen rechten Strömungen in Deutschland sammeln. Sie war das Zentralorgan der Rechtsintellektuellen in Deutschland und Pflichtlektüre für seine Jünger.

      »Jetzt müssen wir die kritische Masse erreichen, damit daraus ein Flächenbrand wird«, führte Barbarossa weiter aus. In seiner Stimmung lag jetzt Euphorie. So nahe wie jetzt war er seinem Traum einer Oktoberrevolution von rechts noch nie gekommen.

      »Bevor wir die Macht ergreifen können, müssen wir die kulturelle Hegemonie erringen«, dozierte Barbarossa, auf die Theorie des italienischen Marxisten Antonio Gramsci anspielend. »Wir werden die Machtergreifung nicht durch bloßen Zwang erreichen. Wir müssen die Deutschen davon überzeugen, dass wir sie in die beste aller möglichen Welten führen. Dann werden sie uns freiwillig folgen.« Die Zuhörer hingen gebannt an den Lippen Barbarossas. »Bevor wir das verhasste System darniederringen, müssen wir erst die Schulen und Theater, die Kirchen und die Kinos erobern. Wir müssen die Köpfe der Menschen erobern. Vor dem blutigen Systemwechsel kommt die schleichende Kulturrevolution.« Barbarossa machte eine Pause und suchte erneut den Blickkontakt mit Sehlings in der letzten Reihe. »Damit bereiten wir den Flächenbrand vor.«

       KAPITEL 3

      Der


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