Machtergreifung. Ferdinand Schwanenburg

Machtergreifung - Ferdinand Schwanenburg


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gepflegt: Egal, um welche Wahl es sich handelte: Er öffnete eine Flasche guten Rotwein und schaute sich die Wahlberichterstattung im ersten Programm an, bis spät in die Nacht. Ganz früher saß er mit seinem Vater und seinem Sohn vor dem Fernseher, mehr oder weniger einträchtig. Dann wurden die Zeiten stürmischer. Sein Vater und sein Sohn verbündeten sich gegen ihn. Die Wahlabende im Hause Sehlings wurden zum Kampfplatz der Ideologien.

      Heute saß der alte Sehlings allein in seiner Münchner Altbauwohnung. Diese Wahl war anders als die Wahlen zuvor. Sein Sohn stand auf Platz zwei der Liste einer Partei, die der Vater rundheraus ablehnte. Für ihn war es eine Nazipartei. Dennoch fieberte er mit. Dass sein Sohn in den Landtag einziehen würde, war klar. Seit Wochen hatten die Meinungsforscher der Deutschlandpartei gute Ergebnisse vorhergesagt, sie bei mindestens zehn Prozent angesiedelt. Die Affäre um die »Provinzpack«-Äußerung des Umweltministers hatte sie in den Umfragen noch einmal um ein paar Prozente klettern lassen.

      Doch die Umfrageinstitute lagen alle daneben. Mit einem so guten Abschneiden der neuen Partei hatte keiner gerechnet. Die Deutschlandpartei wurde mit 24 Prozent zweitstärkste Kraft im Landtag und war damit der Christpartei mit ihren 27 Prozent dicht auf den Fersen. Die Ökopartei erhielt 19, die Sozialpartei 17 und die Linkspartei 13 Prozent. Die einzige mögliche Regierungsbildung bestand in einer sogenannten Kenia-Koalition aus Schwarz, Grün und Rot. Die Vertreter der anderen Parteien waren sprachlos, ja geschockt. Der grauhaarige Bundeschef der Ökopartei fand aber bald eine Sprachregelung, der sich die Politiker der anderen Parteien anschlossen: »Die Wahl ist ein Sieg für die Demokratie. Dreiviertel der Wähler haben sich für demokratische Parteien entschieden.«

      Nach der zweiten Hochrechnung griff der alte Sehlings zum Telefon und wählte die Nummer seines Sohnes: »Hallo Friedrich, herzlichen Glückwunsch. Ich bin stolz auf dich.« Er kannte den Fleiß seines Sohnes, wusste, welchen Anteil er an dem Wahlerfolg hatte.

      »Danke, Vater«, sagte Friedrich Sehlings schmallippig. Damit war das Gespräch auch schon beendet. Sehlings stand inmitten seiner johlenden Anhänger auf der Wahlparty der Deutschlandpartei. Er war gerührt, hatte feuchte Augen. Er dachte an sein Elternhaus, an seine Mutter, an seinen Vater, an seinen geliebten Großvater.

      Später am Abend stieß der Co-Vorsitzende Dr. Martin Müller zur Wahlparty. Er kam direkt von den Hauptstadtstudios der TV-Anstalten, wo er den Journalisten nach Bekanntgabe der ersten Hochrechnungen Rede und Antwort stand. Diesmal war er nicht allein, sondern in weiblicher Begleitung, mit der er Händchen haltend Einzug hielt.

      Friedrich Sehlings starrte gebannt auf die Frau an Müllers Seite. Nichts um ihn herum bekam er noch mit, nicht den Applaus, nicht Müllers Siegesrede, nicht das spontane Absingen der Nationalhymne. Er sah nur noch die schöne Frau, die da neben dem Bundesvorsitzenden auf der kleinen Bühne des Festsaals stand. »Mit einer solchen Frau … Mit ihr an meiner Seite könnte ich«, murmelte er erregt vor sich hin.

      Ihre Gestalt war makellos. Sie war schlank, hatte lange, naturblonde, wunderbar glänzende Haare, zu einem Pferdeschwanz gebunden, der keck wippte, wenn sie sich bewegte. Sie trug ein enges schwarzes Cocktailkleid mit einem recht gewagten, aber auch sehr geschmackvollen Dekolleté, dazu hatte sie schwarze High Heels an, auf denen sie sich mühelos bewegte. Sie musste so Mitte dreißig sein, schätzte Sehlings. Sie strahlte Intellektualität aus. Sie war eine Augenweide.

      Abrupt wurde er aus seinen Gedanken gerissen. »Hallo Herr Sehlings, wollen wir nicht zusammen ein Sektchen schlürfen?« Sehlings blickte in das überschminkte Gesicht und die geistlosen Augen von Marie Köster, die vor ihm stand. »Ich habe mich ja noch gar nicht richtig dafür bedankt, dass Sie mich in den letzten Wochen so toll unterstützt haben. Dass Sie mich in die Partei geholt haben.« Mit diesen Worten riss sie ihn fest an ihren massiven Körper. Er rang nach Luft und versuchte sich zu befreien. Endlich ließ sie ihn los, während sie weiter auf ihn einredete. Sehlings hörte nicht zu, seine Augen suchten die Frau an Müllers Seite.

      Das registrierte BDM-Marie. Ihr gerade noch freudestrahlender Blick verfinsterte sich schlagartig. »Schauen Sie sich nur dieses Flittchen an«, sagte sie mit verächtlichem Blick. »Den Typ Frau kenne ich. Die hüpft von einem Bett ins nächste. Die macht für den Müller doch nur die Beine breit, weil er der Parteivorsitzende ist. Macht macht eben sexy«, sagte sie verächtlich.

      Sehlings starrte BDM-Marie an. Eine solche tiefgehende Analyse hatte er von dieser Frau gar nicht erwartet. Bevor er etwas sagen konnte, hatte Marie Köster ein neues Opfer entdeckt, ließ Sehlings stehen und drückte schon den nächsten Mann an ihren üppigen Busen. Sehlings Augen suchten wieder die Frau neben Müller. Dann kam einer seiner Jungs auf ihn zugelaufen. Sehlings wurde gebraucht. Er war der Lenker im Hintergrund, der Zeremonienmeister des Abends. Für das Anhimmeln der schönen Frau war jetzt keine Zeit. Die Mission rief.

      Sich Gedanken über die Schönheit an Müllers Seite konnte sich Sehlings erst wieder spät am Abend machen. Der Festsaal des Landgasthofes hatte sich schon fast geleert. Da vernahm er den Befehl des Obersts: »Sehlings, bringen Sie uns mal drei Sekt.« Der Rausch der Wahlergebnisse und wahrscheinlich auch der Genuss von einigen Gläsern Schaumwein hatten den Oberst vergessen lassen, dass er nicht im Offizierskasino war und Sehlings keine Ordonnanz, sondern frisch gewählter Abgeordneter eines deutschen Landtages.

      Sehlings drehte sich um. Normalerweise hätte er auf den Befehl des Obersts gar nicht reagiert, doch dann sah er, dass der mit Müller und seiner blonden Schönen zusammenstand. Wortlos befahl er den jungen Mann in Hosenträger-Uniform, der sich wie sein Schatten immer zwei, drei Meter hinter ihm befand, zu sich. »Bring uns mal vier Gläser Sekt!« Sofort zischte der Mann los.

      Sehlings ging zu der Dreiergruppe und stellte sich dazu, allerdings nahm keiner Notiz von ihm. Die drei redeten einfach an ihm vorbei.

      »Frau Dr. Erdmann-Benz und ich haben uns im Fitnessstudio kennengelernt«, erzählte Müller stolz.

      »Sehr interessant«, erwiderte der Oberst.

      »Sie ist Philosophie-Dozentin an der Uni. Sie hat mich in ihr Seminar eingeladen«, gab Müller mit der Frau an seiner Seite an.

      »Interessant, interessant«, wiederholte der Oberst. Er hatte wohl tatsächlich schon ein paar Gläschen zu viel intus, mutmaßte Sehlings.

      Dann kam Sehlings’ Schatten mit dem Sekt. Die vier stießen miteinander an, ohne dass einer der drei anderen Sehlings weiter beachtete. Der hörte jetzt zum ersten Mal die klare Stimme der Frau, die er so unverhohlen anstarrte.

      »Ich unterrichte die Philosophie politischer Theorie und gebe gerade ein Seminar zur Demokratietheorie. In meinen Augen fehlt der Tagespolitik einfach die theoretische Durchdringung«, bemerkte die Schöne.

      »Interessant, interessant«, warf der Oberst ein.

      »Deshalb habe ich Martin gebeten, in meinem Seminar einen Gastvortrag zu halten. So können wir voneinander lernen«, fuhr sie fort. Dabei tätschelte sie Müllers Arm und blickte ihn verliebt an.

      »Die Deutschlandpartei ist die Partei des demokratischen Aufbruchs in der Mitte der Gesellschaft in Zeiten der Abklärung«, dozierte die Philosophin weiter. »Und was wir jetzt brauchen, statt noch mehr Aufklärung, ist eine Abklärung.«

      »Sehr interessant«, sagte der Oberst erneut. Sehlings hatte den Eindruck, dass der Oberst überhaupt nicht verstand, was die schöne und intelligente Frau da redete, waren doch dessen Augen fest auf den tiefen Ausschnitt der blonden Frau geheftet.

      »Angelika hat nach ihrem Philosophie-Studium über irgendetwas mit Postdemokratie promoviert«, mischte sich jetzt Müller wieder ins Gespräch ein und sah seine Begleiterin zärtlich und mit einem Schuss Lüsternheit an. »Sie nimmt gerade das akademische Großprojekt in Angriff, die Gesamtausgabe der Schriften ihres Doktorvaters im Suhrkamp Verlag zu lektorieren«, erklärte Müller dem Oberst.

      »Woher kommt der Doppelname?«, fragte der Oberst unverblümt. »Sind Sie etwa verheiratet?«

      Diese plumpe Anspielung überhörte die Philosophin geflissentlich. »Den Namen Erdmann-Benz gibt es seit dem 19. Jahrhundert, mit der Heirat zweier Industrie-Dynastien. Das waren meine Ururur-Großeltern. Das Unternehmen ist noch heute im Familienbesitz.«


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