Stone Butch Blues. Leslie Feinberg

Stone Butch Blues - Leslie Feinberg


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wenn ein Bus in die Richtung fuhr und wollten wissen, warum ich nicht drin saß. Ich wanderte umher, frühstückte, trank Kaffee und lief weiter herum. Mittags ging ich ins Kino. Als ich aufwachte, war ich zu spät dran für die Arbeit.

      Eddie warnte mich davor, noch ein einziges Mal zu spät zu kommen.

      „Du siehst fürchterlich aus“, flüsterte Gloria.

      „Vielen Dank.“ Ich überlegte. „Hey, Gloria, weißt du noch, wie du mir von der Bar erzählt hast, in die dein Bruder immer gegangen ist? In Niagara Falls?“

      Gloria zuckte zusammen. „Ja, und?“

      „Kennt er solche Bars hier in der Stadt?“ Sie zuckte die Achseln. „Es ist wichtig, Gloria. Ehrlich, ich muß es wissen.“

      Gloria sah ganz nervös aus. Sie wischte sich die farbverschmierten Hände an ihrer Schürze ab, als wollte sie ihre Hände in Unschuld waschen. In der Pause drückte sie mir ein Stück Papier in die Hand.

      „Was ist das?“ Auf dem Papier stand das Wort Abba’s.

      „Ich habe meinen Bruder angerufen und gefragt, wo er immer hingeht.“

      Ich lächelte breit. „Weißt du, wo das ist?“

      „Soll ich dich vielleicht auch noch hinfahren?“

      „Schon gut.“ Ich hob ergeben die Hände.

      „Ich dachte ja nur.“ Ich rief die Auskunft an und bekam die Adresse. Nach der Schicht wusch ich mich und zog mich um. Ich betrachtete den Ring an meinem Finger. Er paßte genau. Ich schwor, ihn niemals abzulegen. Vielleicht war die Zeit gekommen, wo der Ring mir das Geheimnis verriet, wie ich überleben konnte. Ich machte mich eilig auf den Weg zum Abba’s, doch dann lungerte ich unschlüssig draußen herum und rauchte. Ich hatte genausoviel Angst, hineinzugehen, wie damals bei Tifka’s. Nur schleppte ich diesmal alles, was ich besaß, in zwei Kissenbezügen mit mir herum. Wo sollte ich hingehen, wenn ich hier abgewiesen wurde?

      Ich holte tief Luft und ging hinein. Es war proppenvoll. Die Anonymität trug zu meiner Selbstsicherheit bei. Ich schob mich zur Bar vor. „Ein Genny“, rief ich der Barfrau zu.

      Sie sah mich scharf an. „Zeig mal deinen Ausweis.“

      „Bei Tifka’s haben sie mich nie danach gefragt“, protestierte ich.

      Sie zuckte die Achseln. „Dann trink doch dein Bier dort“, sagte sie und wandte sich ab. Ich schlug mit der Faust auf den Tresen.

      „Harter Tag, Kid?“ fragte mich eine der Butches an der Bar.

      „Harter Tag, fragst du?“ Mein Lachen klang schrill. „Ich bin aus der Schule geflogen, von zu Hause abgehauen, hab keine Wohnung und werde auch noch meinen Scheiß-Job verlieren, wenn ich kein Dach über’m Kopf finde und mich nachts rumtreiben muß, statt zu schlafen.“

      Sie schürzte die Lippen, nickte und trank einen Schluck von ihrem Bier. „Du kannst eine Weile bei uns wohnen, wenn du willst“, sagte sie beiläufig.

      „Willst du mich verarschen?“

      Sie schüttelte den Kopf. „Du brauchst ’n Schlafplatz, oder? Meine Freundin und ich haben noch eine kleine Wohnung über der Garage. Da kannst du bleiben, wenn du willst, mußte selbst wissen.“ Sie winkte der Barfrau. „Meg, gib dem Kind ein Bier, ja, auf meine Rechnung.“

      Wir stellten uns vor.

      „Jess, und weiter?“ fragte sie.

      „Jess. Nur Jess.“

      Toni schnaubte. „Und das reicht dir, was?“

      Meg knallte ein Bier vor mich auf die Theke.

      „Danke für das Bier, Toni.“ Ich prostete ihr mit der Flasche zu. „Kann ich heute abend noch einziehen?“

      Toni lachte. „Ja, ich denk schon. Wenn ich nicht zu besoffen bin, den Schlüssel ins Schloß zu kriegen. Hey, Betty!“

      Tonis Freundin kam von der Damentoilette und stellte sich neben sie. „Hey, Betty, darf ich dir Jess vorstellen? ’n armes Waisenkind. Eltern beim Autounfall verbrannt.“ Toni lachte und nahm noch einen Schluck.

      Betty zog sich von Toni zurück. „Sehr witzig.“

      Ich mischte mich ein. „Toni hat gesagt, ich könnte bei euch wohnen. Ich brauche wirklich einen Schlafplatz, ich meine, wirklich dringend.“ Betty sah Toni an, zuckte die Achseln und wandte sich ab.

      „Sie hat nichts dagegen“, sagte Toni. „Ich geh jetzt rüber und setz mich zu ihr. Ich hol dich, wenn wir gehen.“

      Ich trank mein Bier aus und ließ den Kopf auf die Theke sinken. Der Raum fing an sich zu drehen. Ich mußte dringend schlafen. Meg klopfte neben meinem Kopf auf die Theke. „Bist du betrunken, oder was?“

      „Nein, ich arbeite rund um die Uhr“, antwortete ich. Ich hatte nicht den Eindruck, daß sie mich mochte. Dann brachte sie mir noch ein Bier.

      „Hab ich nicht bestellt.“

      „Geht auf mich“, meinte sie. Wer hätte das gedacht.

      Als sich die Menge zu lichten begann, fand ich einen freien Stuhl in der Nähe des lauten Hinterzimmers, lehnte den Kopf gegen die Wand und schlief ein. Ich wachte erst wieder auf, als Betty mich am Ärmel zupfte und sagte, es wäre Zeit, nach Hause zu gehen. Toni sang „Roll me over in the clover”, während Betty versuchte, sie ins Auto zu verfrachten. Ich legte mich auf den Rücksitz und schlief sofort wieder ein.

      „Los, wach auf!“ drängelte Betty. Wir standen in ihrer Einfahrt. Betty mühte sich ab, Toni gegen das Auto zu lehnen. „Nicht daß ich dich auch noch am Hals hab“, sagte sie schroff. Ich stieg aus und half ihr, Toni nach oben zu bringen.

      „Du kannst heute nacht auf dem Sofa schlafen“, sagte Betty.

      „Wer is ’n das Kind?“ wollte Toni wissen. „Etwa deine neue Butch?“

      „Du hast sie selbst eingeladen, in die Wohnung über der Garage zu ziehen, falls du dich erinnerst!“ schnauzte Betty sie an.

      Ich rollte mich auf dem Sofa zusammen und versuchte so zu tun, als wäre ich gar nicht da. Nach einer Weile kam Betty heraus und warf mir eine Decke über.

      „Wenn ich heute nacht ein bißchen Schlaf kriege, verschwinde ich morgen wieder“, sagte ich zu ihr.

      „Schon gut“, sagte sie müde. „Mach dir keine Gedanken, wird sich schon alles finden.“ Ich klammerte mich an dieses kleine bißchen Ermutigung.

      Als ich im Dunkeln dalag, dämmerte mir plötzlich, daß ich auf mich allein gestellt war: keine Schule mehr, keine Eltern mehr – wenn sie mich nicht zurückholten. Ich würgte an meiner Scham, als ich daran dachte, was mir auf dem Sportplatz passiert war. Ich hatte Angst, daß ich kotzen müßte; ich hatte nicht gefragt, wo das Bad war. Wenn das doch Als und Jackies Sofa wäre. Ich würde lieber bei ihnen aufwachen. Dann könnte ich Jacqueline erzählen, was mir passiert war. Hätte ich es ihr erzählt? Mir wurde klar, daß ich Jackie oder Al vermutlich nicht erzählt hätte, was die Jungen mit mir gemacht hatten. Ich schämte mich zu sehr.

      Bevor ich einschlief, legte ich einen Schwur ab. Ich gelobte mir, unter keinen Umständen je wieder ein Kleid zu tragen und mich nie wieder vergewaltigen zu lassen.

      Wie sich herausstellen sollte, konnte ich nur einen der beiden Schwüre halten.

       5

      „Hi Kid, wie sieht’s aus?“ rief Meg mir zu, während sie die Theke abwischte. Vertraute Gesichter erhellten sich, als sie mich begrüßten. Ich war jetzt Stammgast bei Abba’s.

      „Hi Meg. Krieg ich ’n Bier?“

      „Klar, Kid, kommt sofort.“

      Ich setzte mich neben Edwina. „Hey, Ed, soll ich dir ’n Bier ausgeben?“

      „Klar“,


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