Musikergesundheit in der Praxis. Claudia Spahn

Musikergesundheit in der Praxis - Claudia Spahn


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Der Impuls einzuatmen wird dann ausgelöst, wenn die Position des Brustkorbs erreicht ist, in der die Kräfte der Ein- und Ausatmung ausgewogen sind (sog. Atemruhelage). Dieser Punkt liegt normalerweise bei ca. 40% der Vitalkapazität. Der Einatemimpuls kann jedoch willkürlich recht lange unterdrückt werden, beispielsweise um eine lange musikalische Phrase zu spielen oder zu singen. So konnte bei Sängern in wissenschaftlichen Untersuchungen gezeigt werden, dass sie in der Lage sind, bis zu 95% der Vitalkapazität zur Tonproduktion zu nutzen (Isshiki et al. 1967).

      Abb. I.62a und b: Stellung des Zwerchfells bei: a) Ausatmung, b) Einatmung; kernspintomografische Aufnahme

      Alle Volumina zeigen eine Abhängigkeit von Geschlecht, Körpergröße und Alter. Durch körperliches Training kann man die Atemvolumina vergrößern.

      Der Weg, den der Atem bei Bläsern und Sängern beim Ein- und Ausatemvorgang zurücklegt, passiert von der Lunge aus die Glottisebene des Kehlkopfs und den Vokaltrakt (Abb. I.63, S. 54).

      Im Folgenden werden einige Spezifika der Atmung bei Musikern beschrieben.

      Die Atmung beim Musizieren ist eng an die musikalische Phrasierung gekoppelt. Sie ist damit ein wichtiges musikalisches Gestaltungselement. Nicht nur bei Bläsern und Sängern, sondern auch bei Streichern, Pianisten und allen sonstigen Instrumentalisten kann und sollte sie im Dienste des musikalischen Ausdrucks eingesetzt werden. Im Idealfall fließt der Atem mit dem Strom der Musik. Das Singen einer musikalischen Phrase kann das Erlernen dieses natürlichen Atemflusses beim Üben und Proben erleichtern. Yehudi Menuhin formulierte in diesem Zusammenhang: »Das Singen ist zuerst der innere Tanz des Atems, der Seele […]« (Menuhin 1999). Jedoch kann nicht selten beobachtet werden, dass der Atem beim Musizieren nicht fließt, sondern »angehalten« wird oder angestrengt wirkt. Manchmal wird die Musik durch den Atem regelrecht unrhythmisch »zerhackt«. Dies führt neben negativen Auswirkungen auf den Klang des musizierten Werkes auch zu einer Übertragung dieser Spannungen auf das Publikum: Die Zuhörer verspannen sich gleichfalls, halten den Atem an und nehmen die Performance als »atemlos« wahr (vgl. S. 76).

      Die Anforderung an die Atemfunktion bei Bläsern und Sängern geht über die oben beschriebene Mitwirkung am musikalischen Ausdruck und an der Phrasierung deutlich hinaus, da der Ausatemstrom bei Bläsern und Sängern an der Erzeugung des klingenden Tons ursächlich beteiligt ist. Die Tonproduktion erfolgt bei den verschiedenen Blasinstrumenten und der menschlichen Stimme auf unterschiedliche Weise: Entweder wird der Ausatemstrom durch – zumeist periodische – schnelle Öffnungs- und Schließbewegungen von anatomischen Strukturen wie den Lippen (Blechbläser) oder den Stimmlippen (Sänger) unterbrochen oder diese Unterbrechung erfolgt durch vibrierende Bauteile des Instruments (Rohrblattinstrumente). Bei anderen Instrumenten wie den Flöten erfolgt die Tonerzeugung durch eine Brechung und Verwirbelung des Luftstroms, bei der Blockflöte am Labium des Kopfstücks und bei der Querflöte am Mundstück des Instruments. Unabhängig davon, wie der primäre Schall erzeugt wurde, wird die Luftsäule im Instrument zu Schwingungen angeregt, die dann durch die Resonanzräume des Instruments (bzw. beim Singen die des Vokaltrakts) akustisch weiter geformt werden.

      Atemdrucke und Atemvolumina

      Im Vergleich zu Bläsern haben Sänger sowohl für den Luftfluss als auch für den minimalen und maximalen Druck viel niedrigere Werte. Der Luftverbrauch liegt bei Sängern zwischen 2 und 5 ml/ sec für den Luftstrom, der im Kehlkopf fließt, und ist demnach noch deutlich geringer als bei Blockflötisten. Zur Tonerzeugung durch die Stimmlippen im Kehlkopf ist der sog. subglottische Druck erforderlich. Er wird so bezeichnet, da er sich unterhalb der zur Phonation geschlossenen Stimmlippen aufbaut. Der minimale subglottische Druck, der zur leisesten Phonation notwendig ist, beträgt ca. 2–3 cm H2O. Die maximalen subglottischen Drucke, die von Sängern erreicht werden, liegen bei ca. 60 cm H2O (Bouhuys et al. 1968).

      Für jeden Ton – mit seinen musikalischen Parametern Tonhöhe, Tondauer und Tonstärke – ist bei Bläsern und Sängern gleichermaßen ein spezifischer Atemdruck zur adäquaten künstlerisch-musikalischen Realisierung erforderlich. Dieser muss von Ton zu Ton äußerst schnell angepasst werden, wie Untersuchungen bei Sängern exemplarisch zeigen (Sundberg 2015b, S. 69 f.; Richter 2014, S. 36 f.).

      Atemregulation

      Sowohl Sänger als auch Bläser müssen den Atemstrom möglichst präzise regulieren. Dieser Vorgang wird im Deutschen häufig mit den Begriffen »stützen« und »Stütze« bezeichnet. Der Begriff »Stütze« ist nicht glücklich gewählt, da er etwas Statisches impliziert, wohingegen die Atmung immer ein dynamischer Vorgang ist: Kurz nach der Einatmung steht am Anfang einer Phrase für die jeweilige Tonproduktion zu viel Luft zur Verfügung, so dass der Musiker dafür Sorge tragen muss, nicht zu viel Luft aus der Lunge entweichen zu lassen, um den Anblasdruck bzw. den subglottischen Druck – und damit auch die Tonhöhe und Lautstärke – nicht ungewollt zu erhöhen. Am Ende einer langen musikalischen Phrase ist genau das Gegenteil erforderlich. Hier muss nämlich nach Überschreiten der Atemruhelage zusätzlich Luft zur Verfügung gestellt werden, um den für die Tonproduktion erforderlichen Druck aufrechtzuerhalten. Diese gegensätzliche Anforderung an die Atemführung im Verlauf einer Melodielinie – am Beginn »Weghalten« zur Vermeidung eines Überangebots, am Ende »Zuführen« zur Bereitstellung der benötigten Luft – erschwert es außerordentlich, den Atemvorgang begrifflich in einem einzigen Fachterminus zu fassen. Um das »Momentum« des Dynamischen in diesem Vorgang zu unterstreichen, wäre es deshalb sinnvoll, anstelle von »Stütze« von »Atemstützfunktion« zu sprechen (Richter 2014, S. 41). Dies käme auch dem ursprünglich italienischen Begriff appoggio näher, der in der italienischen Alltagssprache eher der Bedeutung von appogiare, »sich an etwas anlehnen«, entspricht (Seidner und Wendler 2010, S. 64). Andere Sprachen wie das Englische und das Französische verwenden mit support und soutien ebenfalls Wörter, welche die Bedeutung »Unterstützung« enthalten (Richter 2014, S. 41). Diese Begriffe kommen dem Regulationsvorgang der Atmung näher und unterstreichen stärker die bedarfsabhängige Flexibilität.

      Tab. I.2: Mittelwerte der Anblasdrucke im Mund sowie der Schalldruckpegel für tiefe und hohe Noten, die im Fortissimo (ff) auf verschiedenen Instrumenten gespielt wurden (nach Bouhyus 1964)

      Bläser und Sänger verwenden in der Beschreibung der Atmung eine Vielzahl von Begriffen, die nicht immer unmittelbar den physiologischen Vorgängen der Atmung entsprechen. So bezeichnen die Begriffe Bauch- oder Flankenatmung beispielsweise die sicht- und spürbaren körperlichen


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