Musikergesundheit in der Praxis. Claudia Spahn

Musikergesundheit in der Praxis - Claudia Spahn


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      Instrumente mit asymmetrischer Grundposition wie Querflöte, Violine oder Bratsche erfordern eine Rotation in der Horizontalebene (Abb. I.11 und I.39). Beim Geigen- und Bratschenspiel ist die Einstellung der Verbindung von Kopf, Hals- und Brustwirbelsäule besonders wichtig. Das Ziel hierbei ist, Rotation und Beugung in der Halswirbelsäule möglichst gering zu halten (Abb. I.39). Hierfür müssen ergonomische Hilfsmittel wie Schulterstützen und Kinnhalter individuell optimal angepasst werden. Insbesondere sollte kein Druck auf den Kinnhalter ausgeübt werden, um das linke Kiefergelenk nicht zu belasten. Dies dient insbesondere der Vorbeugung einer Fehlfunktion im Kiefergelenk, der sog. craniomandibulären Dysfunktion (Steinmetz et al. 2009). Hinsichtlich der Position von Geigern am Notenpult fand sich rechts am Pult eine stärkere Kopfneigung als links am Pult (Spahn et al. 2014; Wasmer und Eickhoff 2011).

      Abb. I.38a und b: Gleichgewichtsverlagerung am Klavier zum Erreichen von: a) Diskantlage nach rechts und b) Basslage nach links

      Abb. I.39: Violinistin mit geringer Rotation und Beugung in der Halswirbelsäule

      Schultergürtel, Schultergelenk, Arm und Hand bilden eine weitere Funktionseinheit (Abb. I.40), die für Musiker von zentraler Bedeutung ist, da alle Instrumentalisten mit den Fingern direkten Kontakt mit ihrem Instrument haben und hier die Musizierbewegungen stattfinden. Im vorherigen Abschnitt wurde bereits deutlich, dass bei einer idealen Aufrichtung im Stehen und Sitzen die Stellung des Beckens und der verschiedenen Wirbelsäulenabschnitte eng ineinandergreifen. In vergleichbarer Weise findet dies auch in der Funktionseinheit Schultergürtel-Schulter-Arm-Hand statt (Abb. I.41).

      Abb. I.40: Die knöchernen Bestandteile von Schultergürtel, Schultergelenk, Arm und Hand (rechte Seite in Supinationsstellung)

      Schultergürtel

      Zum Schultergürtel gehören das Brustbein (sternum), die beiden Schlüsselbeine (clavicula) auf der Vorderseite des Körpers (Abb. I.43) und die beiden Schulterblätter (scapula) auf der Rückseite (Abb. I.42). Der gesamte Schultergürtel ist lediglich zwischen Schlüsselbein und Brustbein im sog. Sternoclaviculargelenk mit dem Rumpfskelett verbunden. Die beiden Sternoclaviculargelenke lassen sich gut selbst ertasten. Sie befinden sich vorn rechts und links neben der Grube, dem sog. Jugulum (auch »Drosselgrube«), die von der Halsmuskulatur und den Enden der Schlüsselbeine gebildet wird. Legt man den linken Finger auf das rechte Gelenk und hebt den rechten Arm nach oben, so kann man die Bewegung im Sternoclaviculargelenk spüren.

      Abb. I.41: Die Funktionskette Schultergürtel, Schultergelenk, Arm und Hand von oben; die linke Seite entspricht der Spielposition am Klavier

      Abb. I.42: Brustwirbelsäule und Brustkorb, Schulterblätter und Schlüsselbeine, Ansicht von hinten

      Der Schultergürtel hat – ähnlich wie das Becken für die untere Extremität – die Aufgabe, für eine ausreichende Stabilität zu sorgen, damit Arme und Hände frei agieren können. Im Gegensatz zum knöchernen Becken bezieht der Schultergürtel seine Stabilität jedoch hauptsächlich aus dem Zusammenwirken von Muskelschlingen. Diese Muskelschlingen bieten den Bewegungen der Hände und Arme ein stabiles Widerlager.

      Das Schulterblatt bildet mit dem Ende seiner Schulterblattgräte, dem Acromion, das Schulterdach (Abb. I.44). Im Acromioclaviculargelenk ist das Acromion mit dem Schlüsselbein verbunden. Das Schulterblatt wird auf den Rippen ausschließlich von Muskeln gehalten. Es kann durch ein Schlaufensystem verschiedener Muskeln auf dem Brustkorb nach oben, unten und zur Seite gleiten und auf den Rippen gekippt und gedreht werden (Abb. I.45). Bei Bewegungen des Armes erfolgt eine differenzierte Koordination zwischen Schulterblatt und Schultergelenk, die auch als »scapulo-humeraler Rhythmus« bezeichnet wird. Wird der Arm beispielsweise seitlich gehoben, bewegt sich das Schulterblatt mit, indem es mit seinem unteren äußeren Rand nach oben eine gleitende Drehbewegung auf dem Brustkorb ausführt. Hierdurch wird die Gelenkpfanne des Schultergelenks angehoben und die Beweglichkeit im Schultergelenk stark erhöht. Für die Position der Schultergelenke ist außerdem entscheidend, wie flach das Schulterblatt auf dem Brustkorb aufliegt. Ist das Schulterblatt bei einer physiologisch geformten Brustwirbelsäule gut auf dem Brustkorb verankert, so sind die Gelenkpfannen der Schultergelenke seitlich ausgerichtet und es besteht eine hohe Beweglichkeit im Schultergelenk. Ist die Brustwirbelsäule jedoch zu stark kyphotisch gekrümmt – wie beim »Rundrücken« –, so steht das Schulterblatt am Rücken ab und die Schultern »fallen nach vorn«. In diesem Fall ist die Beweglichkeit im Schultergelenk deutlich geringer. Für das Musizieren ist dies ungünstig, da die Arbeit der Schultermuskulatur dadurch gestört wird.

      Abb. I.43: Aufbau des Schultergürtels von vorn

      Abb. I.44: Aufbau des Schulterblatts

      Abb. I.45: Die Muskelschlaufensysteme des Schulterblatts: zwei Schrägsysteme und ein Horizontalsystem

      Die Schlüsselbeine beeinflussen durch ihre Form ebenfalls die Stellung der Schulterblätter und Schultern. Da das Schlüsselbein mit dem Acromion, dem höchsten Punkt der Schulterblattgräte, ein Gelenk bildet (s. o.), ist das Schulterblatt am Rücken desto besser platziert, je gerader das Schlüsselbein ist.

      Schultergelenk

      Das Schultergelenk ist das beweglichste Gelenk des menschlichen Körpers. Es ist stärker auf Mobilität als auf Stabilität ausgerichtet, denn im Gegensatz zu anderen Gelenken fehlt ihm eine knöcherne Umfassung durch eine gewölbte Pfanne. Die Pfanne des Schultergelenks – ein Teil des Schulterblatts (s. o.) – ist nahezu plan und dies ermöglicht dem Oberarmkopf große Bewegungsfreiheit. Diese wird durch eine weite, schlaffe Kapsel unterstützt. Für die Stabilität des Gelenks ist – außer dem Kapsel-Band-Apparat (Abb. I.3) – hauptsächlich eine tiefliegende Muskelgruppe aus vier Muskeln, den sog. Rotatoren, zuständig. Sie liegen wie eine Manschette um den Oberarmkopf und werden deshalb als Rotatorenmanschette bezeichnet. Sie sind für die Innen- und Außendrehung des Armes sowie für die Zentrierung des Oberarmkopfs in der Pfanne zuständig. Von den vier Muskeln der Rotatorenmanschette überwiegen zahlen- und kräftemäßig die Innenrotatoren. Die Muskeln der Rotatorenmanschette sind in ihrer Funktionalität von der bereits oben beschriebenen flachen Stellung des Schulterblatts am Brustkorb abhängig. Ist diese nicht gegeben, besteht das Risiko, dass das Schultergelenk an Zentrierung und Stabilität einbüßt. Beim Musizieren bedeutet dies einen höheren Kraftaufwand für die gleiche Tätigkeit, eine schnellere Ermüdung der Arme sowie eine schlechtere Koordination der Hände und Finger.

      Die Grundlage einer optimal koordinierten Schulter- und Armbewegung ist die Aufrichtung der Brustwirbelsäule mit einem flach am Rücken liegenden und beweglichen Schulterblatt. Erst auf dieser Basis kann das Schultergelenk sowohl die zentrierte Haltearbeit als auch die erforderliche Mobilität für die Spielbewegungen leisten.

      Sowohl bei der eigenen Arbeit mit dem Instrument als auch im Unterricht mit Schülern ist es nicht einfach, die Schulterblätter in diese ideale Position zu bringen. Insbesondere dann, wenn der Versuch unternommen wird, die Schulterblätter hinten zusammenzuziehen, kann dies in eine ungünstige Haltung – nicht selten begleitet von einem Hochsteigen der Schultern – mit schmerzhaften Verspannungen der Schultergürtel- und Nackenmuskulatur münden. Zielführender ist die Aufrichtung der Brustwirbelsäule mit der


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