Kinderärztin Dr. Martens Staffel 3 – Arztroman. Britta Frey
rasch über alle diese Gedanken die Zeit verstrichen war, merkte sie, als sie das Ortsschild von Ögela sah. Nun würde es nicht mehr lange dauern, bis sie wieder bei ihrem Jungen war.
Ihre Unruhe wuchs von Minute zu Minute.
Was würde Kay heute sagen? Ob er schon etwas herausgefunden hatte?
Ein Stück voraus gewahrte sie die beiden Giebeltürme der Klinik hinter den hohen Birken, und Augenblicke später fuhr sie durch den schmiedeeisernen Torbogen auf das Klinikgebäude zu.
Mit zögernden Schritten ging sie wenig später auf den Eingang zu.
»Ist Dr. Martens in seinem Sprechzimmer?« wollte sie von Martin wissen, der mit einem freundlichen Lächeln aus der Aufnahme kam.
»Ja, Frau van Enken, der Chefarzt ist in seinem Sprechzimmer. Sie können gleich zu ihm durchgehen. Den Weg kennen Sie ja?«
»Ja, ich weiß Bescheid, Herr Schriewers, vielen Dank.«
Ein beklemmendes Gefühl stieg in Madlon auf, als sie ihm wenige Minuten später in seinem Arbeitszimmer gegenüberstand und in sein ernstes Gesicht sah.
»Ich habe dich schon erwartet, Madlon. Schön, daß du so früh gekommen bist.«
»Du hast also schon die Ergebnisse und weißt, was meinem Jungen fehlt?«
»Ja, aber setz dich doch bitte erst hin. Ich werde es dir erklären, aber es ist nicht mit ein paar Worten getan«, antwortete Kay.
»Ich kann jetzt nicht einfach still sitzen, kannst du das verstehen?« bat sie. »Es geht schließlich um mein Kind. Ich sehe dir doch an, daß dieses Gespräch nichts Gutes bringen wird, habe ich recht?«
»Bitte, Madlon, setz dich erst«, wiederholte Kay sehr bestimmt.
Er nahm ihren Arm und drückte sie in einen Sessel. Dann nahm er ihr gegenüber Platz und sagte:
»Du darfst dich jetzt nicht aufregen, Madlon. Ich habe dir wirklich etwas Negatives mitzuteilen, aber ich bitte dich, mir bis zum Ende zuzuhören.«
Ausführlich und mit ruhiger Stimme versuchte Kay, ihr zu erklären, was bei den Untersuchungen herausgekommen war. Sie unterbrach ihn mit keinem Wort, doch ihre Augen weiteten sich im Verlauf seiner Erklärungen entsetzt. Erst als er am Ende war, fragte sie fassungslos:
»Das heißt doch wohl Krebs, nicht wahr? Wie kann das denn sein? Nils ist doch noch ein Kind. Ich will es einfach nicht glauben, das muß ein Irrtum sein. Bitte, Kay, sag doch, daß es ein Irrtum ist.«
Bei ihren letzten Worten war ihre Stimme lauter geworden, und flehentlich sah sie ihn an. Ihre Hände krallten sich in die Sessellehne, so daß die Knöchel weiß hervortraten, und sie zitterte am ganzen Körper.
»Bitte, beruhige dich doch, Madlon.« Kay beugte sich vor und umspannte ihre Hände mit festem Druck. »Ich habe dir doch versucht zu erklären, daß es noch nicht hundertprozentig feststeht. Wir müssen diese Möglichkeit nur vorsichtshalber ins Auge fassen. Erst dann, wenn wir eine Gewebeprobe entnommen haben, kann eine Untersuchung zeigen, ob es sich wirklich um eine bösartige Geschwulst handelt. Allerdings sollten bei einer so ernsten Sachlage beide Elternteile Bescheid wissen, sofern sie erreichbar sind. Wir müssen auch das Einverständnis für einen operativen Eingriff haben. Willst du persönlich mit deinem geschiedenen Mann sprechen, oder soll ich es dir abnehmen?«
»Ich weiß nicht, Kay. Ich habe Guido zwar gesagt, daß ich ihn anrufen würde, wenn ich Bescheid wüßte, aber ich bezweifle, daß ich in der Lage bin, es ihm zu sagen. Ich habe Angst davor. Ist es denn wirklich kein Irrtum?«
»Nein, eine Geschwulst liegt tatsächlich vor. Wir wissen eben nur noch nicht, ob sie gut- oder bösartig ist. Doch zurück zu Nils’ Vater. Gib mir doch einfach seine Telefonnummer, und ich setze mich dann mit ihm in Verbindung. Ich kann als Arzt sicher leichter mit ihm reden. Das heißt, wenn du mit dieser Lösung einverstanden bist.«
»Ja, ich bin einverstanden. Kann ich jetzt zu Nils? Weiß er, was er hat?«
»Nein, natürlich nicht. Er sollte auch nur zu wissen bekommen, daß er am Bein operiert werden muß, mehr nicht. Es würde ihn zu sehr belasten. Wirst du stark genug sein und dir Nils gegenüber nichts anmerken lassen?«
»Es wird mir sehr schwer fallen, aber es muß sein, und ich werde es schaffen.«
»Gut, Madlon, so ist es richtig. Wenn du willst, kannst du jetzt zu Nils gehen. Vergiß aber nicht, mir vorher die Nummer deines geschiedenen Mannes zu geben.«
»Nein, nein, hier hast du sie.«
Madlon kramte in ihrer Handtasche und gab Kay eine schmale Visitenkarte mit immer noch zitternden Händen.
»Soll ich mit hochgehen?«
»Nein, das muß ich allein hinter mich bringen. Ich habe nicht vor, so schnell schon wieder nach Hause zu fahren. Wir werden uns also bestimmt im Laufe des Nachmittags noch sehen. Bis später.«
Tiefes Mitgefühl war in Kay, als er ihr nachsah, wie sie gefaßt den Raum verließ.
*
Guido van Enken, der als Abteilungsleiter in der Stadtsparkasse arbeitete, war gerade in der Kontenabteilung, als er ans Telefon gerufen wurde.
»Ein Gespräch für Sie, Herr van Enken.«
»Bitte, stellen Sie das Gespräch in mein Büro um«, sagte er und ging mit langen Schritten davon. Unruhe breitete sich in ihm aus. Madlon wollte ihn doch erst anrufen, wenn sie aus der Klinik zurückkam. Aber dafür war es noch zu früh. Weshalb wollte sie ihn jetzt schon sprechen?
Guido dachte gar nicht nicht an die Möglichkeit, daß ihn jemand anders sprechen wollte, zu sehr beschäftigte er sich in Gedanken mit seinem Sohn, um den er sich so große Sorgen machte. So sagte er in die Telefonmuschel:
»Madlon, bist du es?«
»Guten Tag, Herr van Enken«, antwortete eine Männerstimme, »mein Name ist Martens. Ich bin der behandelnde Arzt Ihres Sohnes, und Ihre Frau hat mich gebeten, Sie anzurufen.«
»Weshalb spricht meine Frau denn nicht persönlich mit mir?« fragte Guido höchst alarmiert.
»Sie fürchtete, nicht die richtigen Worte zu finden, Herr van Enken. Können Sie es einrichten, hierher zur Klinik zu kommen? Es ist sehr wichtig für mich, Sie persönlich zu sprechen. Am Telefon läßt es sich nicht behandeln.«
»Ich entnehme Ihren Worten, daß Sie bei unserem Sohn etwas Ernsteres festgestellt haben?« fragte Guido, und war selbst erstaunt über seine so fremd klingende Stimme.
»Ja, Herr van Enken, so ist es. Kann ich also mit Ihrem Besuch rechnen?«
»Ja, selbstverständlich. Ich könnte gegen fünfzehn Uhr, möglicherweise sogar schon eine Stunde früher, da sein. Wäre Ihnen diese Zeit recht?«
»Ja, kommen Sie dann, wann Sie es am besten einrichten können. Fragen Sie Herr Schriewers an der Aufnahme, und er wird mir sofort Bescheid geben. Ich erwarte Sie also.«
»Ja, und vielen Dank für Ihren Anruf.«
Während Guido den Telefonhörer auflegte, rasten die Gedanken hinter seiner Stirn. Was fehlte seinem Jungen, daß der Arzt ihn sogar persönlich sprechen wollte? Die Sorgen, die er sich schon seit dem Samstagnachmittag gemacht hat, wurden zu einem schier unüberwindlichen Berg. Am liebsten hätte er sofort alles stehen und liegen gelassen und wäre zur Klinik gefahren. Aber das war heute, am Dienstag, nicht möglich. Bis vierzehn Uhr war er auf keinen Fall abkömmlich.
Die Zeit, bis er sich endlich auf den Weg machen konnte, verging quälend langsam. Kurz vor vierzehn Uhr war es soweit. Da er einen leistungsstarken Mercedes fuhr, benötigte er für die Strecke bis zur Kinderklinik nur eine knappe Dreiviertelstunde. Er hatte Glück, daß ihn unterwegs keine Streife angehalten hatte, denn sein Tempo war streckenweise höher gewesen als erlaubt.
Kay stand am Fenster und sah einen Wagen mit Celler Kennzeichen vorfahren.
Das wird Madlons