Sophienlust - Die nächste Generation Staffel 1 – Familienroman. Karina Kaiser
bemerkte Heidi. »Ich weiß, wie weh es tut, wenn ein Knie blutet. Das ist mir auch schon oft passiert. Aber deswegen ist das Bein nicht gebrochen. Das täte nämlich noch viel mehr weh.«
»Tut ja mehr weh«, erklärte Kim weinend. »Tut ganz furchtbar weh. Knie ist gebrochen. Das weiß ich.«
»Heidi hat recht«, sagte Pünktchen. »So schnell brechen Knochen nicht. Aber ich glaube dir schon, dass du Schmerzen hast. Wir gehen jetzt zu Schwester Regine. Die kann dir helfen und klebt ein schönes buntes und ganz großes Pflaster auf dein Knie.«
Kims Tränen versiegten augenblicklich, und er schaute Pünktchen interessiert an. »Martin hat gehabt ein Pflaster mit Elefant, als er sich auf Hand verletzt hat beim Fahrrad-Reparieren. Das war ein schönes Pflaster. Hat Schwester Regine für mich auch Pflaster mit Elefant?«
»Ganz bestimmt«, versicherte Pünktchen. »Aber sie hat auch Pflaster mit vielen anderen Tieren. Du darfst dir davon eins aussuchen.«
Als Kim mit Heidi und Pünktchen ins Haus ging, humpelte er schon erheblich weniger. Offensichtlich hatte er es jetzt sehr eilig, zu Schwester Regine und ihren Pflastern zu gelangen.
Nachdem Pünktchen den kleinen Jungen der Obhut der Kinderschwester übergeben hatte, wollte sie sich nun endlich auf den Weg zu den Pferden machen. Aber auch diesmal wurde sie daran gehindert:
Nick kam aus einem Zimmer und erklärte, dass er eine Neuigkeit zu verkünden hätte. Dazu sollten sich bitte alle in der Halle versammeln.
Es dauerte nicht lange, bis alle Kinder informiert waren und sich in der Halle eingefunden hatten. Auch Denise, Frau Rennert und alle anderen Angestellten von Sophienlust hatten es sich nicht nehmen lassen, Nicks Botschaft zu lauschen.
»Ihr wisst ja alle, dass ich mich um einen Studienplatz beworben habe«, begann Nick. »Dazu habe ich Kontakt zu vielen Universitäten aufgenommen. Die meisten boten aber gar kein Fernstudium im Fachbereich Kinderpsychologie an. Aber genau das möchte ich studieren und trotzdem nicht dauerhaft in einer anderen, vielleicht sogar sehr weit entfernten Stadt wohnen müssen. Ich will doch trotz meines Studiums hier in Sophienlust sein. Schließlich bin ich jetzt für alles verantwortlich, auch wenn meine Mutter mir hilft und mich in allen Dingen gut berät. Es bleibt also nur ein Fernstudium übrig. Heute habe ich eine Zusage von einer Universität bekommen. Ich werde ganz in der Nähe von Frankfurt mein Studium in ein paar Wochen beginnen.«
Alle, die Nick aufmerksam zugehört hatten, freuten sich mit ihm und gratulierten ihm. Denise ging lächelnd auf ihren Sohn zu.
»Ich freue mich mit dir über deinen Erfolg, und ich bin stolz auf dich. Allerdings lastet nun eine ganze Menge auf deinen Schultern, dein Studium und Sophienlust. Das wird manchmal vielleicht ein bisschen zu viel. Deshalb sollst du wissen, dass ich immer für dich da bin, dich unterstützen werde und dir jederzeit mit Rat und Tat zur Seite stehe, wenn du das möchtest. Das bezieht sich allerdings nur auf alle Dinge, die Sophienlust betreffen. Dein Studium musst du selbstverständlich allein schaffen.«
»Das weiß ich, und das will ich auch«, lächelte Nick. »Aber es ist wirklich beruhigend für mich zu wissen, dass du da bist und mir den Rücken freihalten kannst. Du darfst nicht denken, dass ich zu faul und zu träge bin, um mich um Sophienlust zu kümmern, aber....«
Denise hob die Hände und gebot Nick damit Einhalt. »Ich bin deine Mutter, und ich weiß genau, dass du alles andere als faul oder träge bist. Ich habe genau verstanden, wie du es gemeint hast. Außerdem bin ich froh, dass ich hier in Sophienlust nicht ganz überflüssig werde. Ich fühle mich nämlich noch viel zu jung, um aufs Altenteil abgeschoben zu werden.«
»Altenteil?«, fragte Nick irritiert. »Mensch, Mutti, wo denkst du denn hin? Wir alle brauchen dich und deine Einsatzbereitschaft, und ich brauche dich ganz besonders.«
Spontan nahm Nick seine Mutter in die Arme.
Die umstehenden Kinder beobachteten gerührt die Szene, und als die kleine Heidi applaudierte, nahmen sich alle ein Beispiel an ihr.
*
Als Liane aufwachte, wusste sich nicht, wo sie sich befand. Das interessierte sie allerdings auch wenig. Sie ärgerte sich über die grünen kleinen Blätter, die vom lauen Wind durch ihr Gesicht geweht wurden und störten. Am Ende des Rübenfeldes, das vor ihr lag, sah sie Rauch aufsteigen. Mehrere große Fahrzeuge mit blinkenden blauen Lichtern standen in der Nähe der Rauchfahne. Liane hatte keine Ahnung, was dort passiert sein könnte, wollte es auch gar nicht wissen. Rückwärts kroch sie langsam aus der Hecke heraus und blickte an sich herab. Ihre hellblaue Hose war mit Blut verschmiert, das wohl von ihren Beinen stammte, in ihrem linken Unterarm steckte ein dreieckiges Glasstück, und ihr linker Zeigefinger sah seltsam verdreht aus. Erst jetzt fühlte sie, dass ihr Kopf schmerzte und dass sie auch beim Atmen Schmerzen in den Rippen hatte. Aber sie dachte gar nicht daran, nach Hilfe Ausschau zu halten, als sie die Wiese überquerte, die an einer Reihe von Einfamilienhäusern endete. Niemand sah die verletzte junge Frau, die den schmalen Weg zwischen zwei Häusern passierte und die Straße erreichte. Liane erblickte einen Umzugswagen, der mit geöffneten Hecktüren vor einem Haus stand.
»Ich muss nach Hause fahren«, murmelte sie vor sich hin. »Ja, ich will nach Hause. Ich muss für jemanden kochen.«
Es gelang Liane, unbemerkt in den Umzugswagen zu steigen. Darin standen zahlreiche Möbelstücke. Sie tastete sich zwischen einigen Schränken hindurch vorwärts, bis sie auf einen großen bequemen Sessel stieß. Mit einem Stöhnen ließ sie sich darauf nieder. Jeglichen Sinn für die Realität hatte sie verloren. Sie wusste nur, dass sie sich in einem Auto befand, und mit diesem Auto wollte sie jetzt nach Hause fahren.
Es dauerte nicht lange, bis der Fahrer des Wagens zusammen mit zwei Möbelpackern aus dem Haus kam. Sie hatten noch ein paar Kleinmöbel bei sich, die verladen werden mussten.
»Passen Sie bitte gut auf die Kommode auf«, wurden die Packer von den Besitzern dieses Teils gebeten. »Es ist eine ganz besondere Kostbarkeit aus den Anfängen des neunzehnten Jahrhunderts. Es wäre eine Katastrophe, wenn dieses wertvolle Stück Schaden nehmen würde.«
Die Möbelpacker hüllten die Kommode sorgfältig in eine Decke und schoben sie anschließend mit äußerster Vorsicht in den Wagen. Dann schlossen sie die Türen, ohne Liane hinter den Schränken in ihrem Sessel zu entdecken. Wie hätten sie auch mit einem blinden Passagier rechnen sollen?
»So, das hätten wir geschafft«, bemerkte einer der Männer. »Es ging alles eigentlich schneller als erwartet. Dann machen wir uns jetzt auf den Weg nach Graz. Da dürfen wir all die Sachen, die wir mühsam eingeladen haben, wieder ausladen.«
Nachdem alle eingestiegen waren, setzte sich der Wagen in Bewegung. Das nahm Liane in ihrem Sessel deutlich wahr. Aber sie wusste nicht, dass sie sich in einem Umzugswagen befand, und auch nicht, dass dieser Wagen auf der Fahrt nach Graz war. In ihrem Gehirn war nahezu alles ausgelöscht, und sie hatte nur noch einen Gedanken: Sie musste nach Hause, um dort eine wichtige Sache zu erledigen. Um was für eine Sache es sich handelte, konnte sie im Moment nicht mehr sagen. Es hatte aber damit zu tun, dass sie für jemanden kochen musste. Für wen sie das Essen auf den Tisch bringen musste, wusste Liane nicht mehr. Es wollte ihr einfach nicht einfallen, sosehr sie sich auch den Kopf darüber zerbrach. Das würde ihr jedoch bestimmt wieder einfallen, wenn sie zu Hause angekommen war.
Unterwegs betrachtete Liane immer wieder ihre Beine und fragte sich, wieso ihre Hose so große Blutflecke aufwies. Diese Tatsache fand sie seltsam, aber keineswegs beunruhigend. Deshalb lehnte sie sich zurück und machte es sich in dem großen Sessel gemütlich.
*
Auf dem Flugplatz des kleinen Ortes in Kärnten herrschte tiefe Trauer. In der Vergangenheit war es einige Male bei kleineren Unfällen vorgekommen, dass Flugzeuge beschädigt und sogar Menschen verletzt worden waren. Meistens war es bei noch sehr unerfahrenen Piloten passiert, die den Landeanflug doch noch nicht so gut beherrscht und das Wetter oder die Windverhältnisse falsch eingeschätzt hatten. Aber ein so entsetzliches Unglück wie jetzt war noch nie geschehen. Von den Insassen des Flugzeugs hatte niemand überlebt. Alle waren Opfer der Flammen geworden, die sich unmittelbar nach der Bruchlandung überall