Sophienlust - Die nächste Generation Staffel 1 – Familienroman. Karina Kaiser
der junge Mann, der vor dem Abflug die Maschine betankt hatte. Wie konnte das nur passieren? Er war doch ein so erfahrener Pilot. Wieso stürzt er plötzlich grundlos ab?«
»So grundlos war das nicht«, bemerkte ein Kollege des jungen Mannes. »Es hat da einen Augenzeugen gegeben. Der hat ausgesagt, dass ein paar Enten in die Propeller geraten sind. Alfi ist sehr tief geflogen. Vermutlich wollte er den Fluggästen einen Gefallen tun. Die beiden wollten doch Fotos machen und deshalb möglichst nah an die Objekte heran. Nun ja, und in dieser niedrigen Höhe sind eben oft auch Vögel unterwegs. Du weißt selbst, dass eine Maschine bei Vogelschlag außer Kontrolle geraten kann. Alfi hat ja sogar noch einen Landeversuch unternommen, aber das konnte in dem Rübenfeld einfach nicht gelingen. Dass die Maschine Feuer fing, war dann die zweite Katastrophe. Die Feuerwehr hat drei völlig verkohlte Opfer in dem Flugzeug entdeckt. Es ist furchtbar, ganz furchtbar.«
So wie die beiden jungen Männer dachten alle, die auf diesem Flugplatz beschäftigt waren oder näher mit ihm zu tun hatten. Selbst die Bevölkerung des Ortes nahm großen Anteil. Nachdem der Brand gelöscht und die Wrackteile der Maschine weggeräumt waren, kamen mehrere Leute aus dem Ort und legten Blumen vor der noch durch rot-weiße Bänder gesperrten Absturzstelle nieder oder zündeten Kerzen an. Den Piloten kannten viele, aber die Passagiere waren den Ortsbewohnern unbekannt. Trotzdem kamen sie, um ihre Anteilnahme zu zeigen. Der Flugplatz gehörte für die hier lebenden Leute zum Alltag. Manche nutzten mitunter selbst die Gelegenheit für einen Rundflug, wenn sie Gäste hatten und ihnen etwas Besonderes bieten wollten. Anderen war der Flugplatz relativ egal, aber niemand hätte auch nur im Traum daran gedacht, dass sich hier jemals eine solche Tragödie abspielen könnte. Von Flugzeugabstürzen hörte man manchmal in den Nachrichten, oder es wurden sogar Bilder im Fernsehen gezeigt. Doch das alles geschah weit weg, irgendwo auf dieser Welt, aber doch nicht hier vor der eigenen Haustür. Alfred Luckner wohnte seit fast vier Jahren am Rand der kleinen Ortschaft. Kurz nach seiner Scheidung war er aus Klagenfurt weggezogen und hatte sich hier angesiedelt. Nahezu jeder kannte den sympathischen Mann und mochte ihn.
Jetzt gab es ihn plötzlich nicht mehr. Er war völlig sinnlos ums Leben gekommen, und an diesen Gedanken mussten sich die Leute erst gewöhnen.
Feuerwehr und Polizei hatten drei Tote gefunden, die allerdings bis zur Unkenntlichkeit verbrannt waren und nicht mehr genau identifiziert werden konnten. Trotzdem gab es keine Veranlassung, nach einem weiteren Opfer zu suchen. Allen Mitarbeitern des Flugplatzes war bekannt, dass Alfred Luckner mit zwei Passagieren starten wollte, einem älteren Mann und einer jungen Frau. Die Personalien dieser Fluggäste waren in einer Liste verzeichnet. Von einer vierten Person, die möglicherweise mitgeflogen war, wusste niemand etwas.
Die Familie des älteren Mannes hielt sich in der Nähe auf und verbrachte ein paar Urlaubstage in der Jagdhütte. Diese Leute konnten recht schnell über das Unglück informiert werden. Bei der Frau, die für Liane Eichhöfer gehalten wurde, erwies sich das als weitaus schwieriger. Zwar war die Telefonnummer in ihrem Heimatort schnell ermittelt worden, aber alle Versuche, dort eine Verbindung mit Angehörigen zu bekommen, liefen ins Leere. Es wurde deshalb vermutet, dass es sich bei Liane Eichhöfer um eine alleinstehende Frau handelte. Deshalb wurde die Polizei damit beauftragt, in Lianes Hotelzimmer nach Hinweisen auf mögliche Angehörige zu suchen, mit denen man in Kontakt treten konnte.
Für die beiden Polizisten, die mit dieser Aufgabe betraut wurden, war das keine angenehme Arbeit. Sie mussten die persönlichen Sachen einer jungen Frau durchsuchen, die hergekommen war und sich bestimmt auf einige unbeschwerte Tage gefreut hatte. Nun war sie durch eine Katastrophe ums Leben gekommen.
Einer der beiden Polizisten stieß sehr schnell auf einen Zettel, der auf dem kleinen Schreibtisch lag. Auf diesem Stück Papier war die Telefonnummer einer Ellen Lennard notiert. Bei dieser Frau konnte es sich um eine Schwester, Arbeitskollegin oder Freundin handeln. Auf jeden Fall würde sie Liane Eichhöfer kennen und bei der Frage, wie es nun weitergehen sollte, helfen können. Die Polizisten nahmen den Zettel an sich und verließen das Hotelzimmer.
*
Ellen war in ihrem Arbeitszimmer, das sie gerne ihr Atelier nannte, mit der komplizierten Neugestaltung einer Parkanlage beschäftigt. Ihre Auftraggeber hatten sich ein wunderschönes großes Landhaus mit allerlei Nebengebäuden zugelegt, das von einem weitläufigen, aber wenig attraktiven Gelände umgeben war. Das gut betuchte ältere Ehepaar hatte sich endlich den Traum von einem Leben auf dem Land erfüllt. Damit die Verwirklichung dieses Traumes vollkommen sein würde, sollte das struppige Wiesengelände, das nur mit einigen wenigen und zum Teil schon abgestorbenen Sträuchern bepflanzt war, in einen schönen Park umgestaltet werden. Die beiden Besitzer hatten auch schon ein paar Sonderwünsche geäußert. Ein Teich mit Fontäne sollte angelegt und vom Haus aus gut sichtbar sein. Außerdem wünschte sich das Ehepaar einen Rosengarten, durch den ein schmaler gepflasterter Weg führte, und eine Bank, die dort zum Verweilen einlud. Ellen konnte den Geschmack der beiden Leute nachempfinden und versuchte, bei ihrem Entwurf genau deren Vorstellungen zu treffen. Da Kira noch in der Schule war, konnte sie ganz in Ruhe arbeiten.
Etwas verärgert zog sie die Stirn kraus, als das Telefon läutete. Es wäre ihr lieber gewesen, jetzt nicht gestört zu werden. Trotzdem meldete sie sich. Erstaunt nahm sie zur Kenntnis, dass sich ein Polizeiposten aus Österreich meldete, der wissen wollte, ob sie eine Liane Eichhöfer kenne.
»Ja, die kenne ich«, gab Ellen offen Auskunft. »Sie ist meine Nachbarin und Freundin. Was ist denn passiert? Ich meine, wenn die Polizei bei mir anruft, bedeutet das bestimmt nichts Gutes. Ist Liane verletzt?«
Der Mann am anderen Ende der Leitung räusperte sich. »Es geschah ein Unfall, aber kein Autounfall. Es fällt mir schwer, Ihnen das mitteilen zu müssen. Ihre Freundin ist mit einem Flugzeug abgestürzt und dabei ums Leben gekommen.«
Ellen spürte, wie ihr abwechselnd heiß und kalt wurde. »Aber das ist doch nicht möglich. Nein, das kann einfach nicht sein. Liane kann Kira doch nicht allein zurücklassen! Die Kleine braucht ihre Mutter. Das Ganze muss ein Irrtum sein.«
»Nein, ich wäre glücklich, wenn es sich um einen Irrtum handeln würde, aber leider ist es Realität. Liane Eichhöfer lebt nicht mehr. Das Flugzeug, in dem sie saß, ist in einen Vogelschwarm geraten. Der Pilot hat noch eine Notlandung versucht. Die ist ihm jedoch nicht mehr gelungen. Die weiteren Einzelheiten möchte ich Ihnen gerne ersparen. Frau Eichhöfer muss nun natürlich beigesetzt werden. Wir wissen nicht, ob das hier geschehen oder ob sie nach Deutschland überführt werden soll. Wissen Sie, ob es enge Angehörige gibt, die uns helfen und Entscheidungen treffen können?«
»Nein, da ist niemand«, erwiderte Ellen und konnte noch nicht fassen, was sie gerade erfahren hatte. »Liane hat keine Angehörigen mehr. Ihre Eltern sind schon seit mehreren Jahren tot, und ihr Mann ist vor vier Jahren gestorben. Geschwister hat sie auch nicht. Ihre einzige Verwandte ist ihre Tochter Kira, und die ist mit ihren neun Jahren noch zu klein, um irgendwelche Entscheidungen dieser Art zu treffen.«
»Nein, das kann das arme Kind wirklich nicht. Was wird denn nun aus der Kleinen? Wo ist sie im Moment überhaupt, wenn es keine Verwandten gibt? Soweit ich weiß, hatte Frau Eichhöfer sie nicht hier in Österreich bei sich.« Echte Besorgnis klang aus der Stimme des Polizeibeamten.
»Kira ist hier bei mir«, erklärte Ellen. »Da ich freiberuflich tätig bin, konnte ich sie für eine Woche aufnehmen und mich um sie kümmern. Wie es jetzt allerdings für sie weitergehen soll, weiß ich im Augenblick auch noch nicht. Ich kann es überhaupt nicht fassen, dass Liane nicht mehr lebt. Der Gedanke, dass sie nie wieder nach Hause kommen wird, ist einfach furchtbar.«
Ellen wechselte noch ein paar Worte mit dem Polizisten und beendete dann das Gespräch. Noch immer völlig fassungslos saß sie da und starrte vor sich hin. Mit welcher Begeisterung war Liane nach Österreich gefahren, und wie sehr hatte sie sich auf ihre Arbeit dort gefreut! Ganz fest hatte sie Kira versprochen, ihr ein besonders schönes Edelweiß mitzubringen, und das Mädchen freute sich schon so sehr darauf. Nun würde Kira nicht nur auf das Edelweiß verzichten müssen. Sie würde auch ihre Mutter niemals wiedersehen. Ellen fragte sich, wie sie das dem Kind beibringen sollte. Sie selbst konnte das Geschehen ja noch nicht begreifen. Wie sollte dann ein erst neun Jahre altes Mädchen das verstehen und verarbeiten können?