Sophienlust - Die nächste Generation Staffel 1 – Familienroman. Karina Kaiser

Sophienlust - Die nächste Generation Staffel 1 – Familienroman - Karina Kaiser


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zur Uhr stellte sie fest, dass Kira in etwa einer halben Stunde aus der Schule kommen würde. Davor fürchtete Ellen sich. Sie wusste, dass sie dann mit Kira sprechen musste und damit vor der schwersten Aufgabe ihres Lebens stand.

      *

      Wie lange die Fahrt gedauert hatte, bis der Umzugswagen sein Ziel endlich erreicht hatte, konnte Liane nicht sagen. Sie hörte nur, dass der Fahrer und auch seine Mitarbeiter ausstiegen. Anschließend vergingen nur wenige Augenblicke, bis die großen Hecktüren geöffnet wurden. Instinktiv verhielt Liane sich ganz still. Erst nachdem ein schweres Sofa ausgeladen worden war und in ein Haus transportiert wurde, verließ die junge Frau ihren Platz und kletterte steifbeinig aus dem Fahrzeug. Suchend schaute sie sich um. Nein, sie war nicht an der gewünschten Stelle angekommen. Weit und breit standen hier nur unbekannte Häuser. Ihr Haus war nicht dabei. Aber sie musste es schnell finden, weil sie dort wichtige Dinge zu erledigen hatte! Liane dachte kurz darüber nach, um was für eine Art von Aufgabe es sich handelte. Doch wieder verweigerte ihr Gehirn den Dienst. Sie wusste auch nicht, welchen Weg sie einschlagen sollte, um nach Hause zu kommen. Aber am Ende der Straße entdeckte sie einen Taxistand. Mit einem Taxi würde sie ganz schnell nach Hause fahren können!

      So schnell ihre Beine es zuließen, lief Liane die Straße entlang in Richtung Taxistand. Dort wandte sie sich an den Fahrer des ersten Wagens.

      »Bitte fahren Sie mich zum Amselweg Nummer acht«, bat sie und stieg ein. Bei dem Amselweg handelte es sich um ihre Heimatanschrift, und sie begriff nicht, dass sie sich in einer anderen Stadt und sogar in einem anderen Land befand.

      Der Fahrer betrachtete Liane eingehend, weil ihm die Verletzungen sofort aufgefallen waren. Außerdem schien die junge Frau ziemlich verwirrt zu sein.

      »Sind Sie sicher, dass Sie zum Amselweg wollen?«, erkundigte er sich. »Wäre es nicht besser, wenn wir zu einem Arzt oder gleich ins Spital fahren würden?«

      »Was soll ich denn bei einem Arzt oder in einem Krankenhaus?«, fragte Liane verwundert. »Nein, ich muss dringend nach Hause, weil ich dort..., es ist mir gerade entfallen, aber ich muss zu Hause irgendwelche wichtigen Dinge erledigen. Fahren Sie bitte los.«

      Der Taxifahrer folgte Lianes Aufforderung. Allerdings kannte er keinen Amselweg. Ihm war nur klar, dass die junge Frau, die neben ihm saß, unbedingt Hilfe benötigte. Was ihr passiert war, konnte er nicht sagen. Vermutlich hatte sie aber einen Unfall gehabt, stand jetzt unter Schock und war völlig verwirrt. Deshalb steuerte der Fahrer den nächsten Polizeiposten an und hielt unmittelbar vor dem Eingang.

      »Gedulden Sie sich bitte eine Minute«, sagte er zu Liane. »Ich bin gleich wieder da, und dann kann die Fahrt weitergehen.«

      Tatsächlich erschien der Taxifahrer schon bald wieder, brachte allerdings zwei Polizisten mit, die sich jetzt kurz mit Liane unterhielten. Es war sofort klar, dass diese Frau medizinische Hilfe brauchte. Es war nicht ganz einfach, ihr zu verdeutlichen, dass sie jetzt aussteigen musste.

      Erst nachdem ihr versprochen worden war, dass man sie möglichst bald zum Amselweg bringen würde, war Liane bereit, das Taxi zu verlassen.

      Dann ging alles so schnell, dass sie gar nicht mehr dazu kam, sich zur Wehr zu setzen. Ein Krankenwagen traf ein, zwei nette junge Leute redeten mit ihr und kümmerten sich um sie, und bevor Liane sich versah, fand sie sich in einem Krankenhaus wieder. Dort wurden ihre Verletzungen behandelt, und man fragte sie nach ihrem Namen und ihrer Adresse.

      »Ich wohne im Amselweg Nummer acht und heiße..., mein Name ist... Ich weiß im Moment nicht, wie ich heiße. Ich habe..., habe meinen Namen ... vergessen.«

      Der junge Arzt, der sie versorgte, blickte in ihr entsetztes Gesicht. »Machen Sie sich keine Sorgen. Nach schweren Unfällen ist es völlig normal, dass es erhebliche Erinnerungslücken gibt. Das geht meistens nach ein paar Tagen wieder vorbei.«

      »Aber ich erinnere mich auch nicht daran, dass ich einen Unfall gehabt habe. Eigentlich weiß ich überhaupt nichts mehr. Auch Ihren Namen habe ich vergessen.«

      Der Arzt schüttelte den Kopf. »Nein, Sie haben meinen Namen nicht vergessen. Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Ich heiße Daniel Edlinger.«

      »Edlinger«, murmelte Liane. »Ich werde versuchen, mir diesen Namen zu merken. Ich werde auch versuchen, mich an meinen Namen zu erinnern und an das, was mir passiert ist. Im Augenblick gelingt mir das nicht, aber ich werde mich bemühen. Schließlich ist es doch wichtig zu wissen, wer ich bin. Vielleicht hab ich eine Familie, die mich vermisst und sich Sorgen um mich macht.«

      Daniel Edlinger ließ sich neben der Patientin nieder. »Wenn es so ist, wird Ihre Familie Sie schon bald als vermisst melden. Dann erfahren Sie alles über sich und erinnern sich wahrscheinlich auch ganz schnell wieder an alles.«

      Liane nickte und versuchte zu lächeln. Es war ein etwas missglücktes Lächeln, aber der Blick, mit dem sie Daniel bedachte, traf ihn mitten ins Herz. Die junge Frau war erst vor gut einer Stunde eingeliefert worden. Dr. Daniel Edlinger spürte jedoch deutlich, dass sie für ihn schon jetzt weitaus mehr war als nur eine normale Patientin.

      *

      Es war für Ellen ungeheuer schwer gewesen, Kira beizubringen, dass ihre Mutter nicht mehr lebte. Die Neunjährige hatte ihr schweigend zugehört.

      Sie jammerte nicht und brach auch nicht völlig verzweifelt in Tränen aus, so wie Ellen es vermutet hatte. Allerdings wirkte ihr Gesicht wie versteinert, als sie Ellen fragend anschaute.

      »Was wird denn aus mir, wenn Mutti jetzt nicht mehr da ist? Bei dir kann ich wahrscheinlich nicht für immer bleiben. Komme ich jetzt in ein Waisenhaus? Da will ich nicht hin. Waisenhäuser sind furchtbar.«

      Spontan nahm Ellen das kleine Mädchen in die Arme, das zwar ganz sachliche Fragen gestellt, aber offensichtlich noch gar nicht so richtig begriffen hatte, dass seine Mutter nicht mehr lebte.

      »Nein, Kira, du musst nicht in ein Waisenhaus. Das würde deine Mutti auch nicht wollen. Sie ist jetzt im Himmel und schaut zu. Sie sieht, was wir hier auf der Erde machen. Wenn ich zulassen würde, dass du in ein Waisenhaus kommst, wäre sie mir sehr böse. Erst einmal bleibst du hier bei mir. In ein paar Tagen können wir gemeinsam überlegen, wie es weitergehen soll.«

      »Kann Mutti mich denn nicht einfach zu sich in den Himmel holen?«, wollte Kira wissen. »Dann wären wir beide wieder zusammen. Das wäre doch die bete Lösung.«

      »Ich glaube nicht, dass das möglich ist«, erwiderte Ellen. »Außerdem ist es doch schön auf dieser Erde. Du solltest dich nicht mit dem Gedanken beschäftigen, sie zu verlassen. Du hast doch in Sophienlust all die Kinder kennengelernt, die ihre Eltern verloren haben. Trotzdem sind sie alle wieder fröhlich geworden und wollen nicht, dass ihre Eltern sie in den Himmel nachholen.«

      »Ja, das stimmt«, gab Kira zu. »Aber bei mir ist das irgendwie anders. Ich möchte unbedingt bei meiner Mutti sein. Es ist mir egal, ob wir im Himmel zusammen sind oder hier auf der Erde.«

      »Kira, ich weiß, wie schlimm das im Augenblick alles für dich ist. Ich bin ja auch unendlich traurig darüber, dass ich eine gute Freundin verloren habe. Aber wir beide müssen uns an diesen Gedanken gewöhnen, dass wir einen geliebten Menschen hergeben mussten, der niemals wieder zu uns zurückkommt. Das schafft man natürlich nicht in ein paar Tagen. Dazu braucht man viel mehr Zeit. Außerdem ist es gut, wenn man Menschen hat, die einem dabei helfen, so einen schweren Schicksalsschlag zu überwinden. Ich denke da gerade an die Kinder von Sophienlust. Vielleicht wäre es gut für dich, wenn du demnächst wenigstens für eine Weile in Sophienlust wohnen würdest. Dort kannst du dich jeden Tag mit Kindern unterhalten, die dasselbe erlebt haben wie du jetzt. Was meinst du? Sollen wir Dominik von Wellentin-Schoenecker einmal fragen, ob für dich noch ein Platz frei ist?«

      Trotz ihres großen Kummers musste Kira kichern. »Dominik von Wellentin-Schoenecker! Das wird er gar nicht gerne hören. Er hat es viel lieber, wenn man ihn Nick nennt. Nun ja, fragen können wir ja. Sophienlust ist zumindest viel besser als ein Waisenhaus. Kann Mutti mich vom Himmel aus denn auch sehen, wenn ich in Sophienlust bin?«

      »Ja, das kann sie«, versicherte Ellen. »Egal wo du auf dieser


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