Sophienlust - Die nächste Generation Staffel 1 – Familienroman. Karina Kaiser
als eine ganz normale Patientin.«
»Nein, das stimmt nicht«, widersprach Daniel. »Ich muss dir etwas gestehen: Du bist für mich viel mehr als nur eine normale Patientin. Wenn ich sicher wäre, dass du nicht verheiratet bist, dann wäre alles einfacher für mich, und ich hätte das Recht, dir offen zeigen, dass du mir sehr viel bedeutest. So aber darf ich mich nicht in dich verlieben und irgendwelche Hoffnungen hegen. Aber eine Patientin wie jede andere bist du für mich nicht. Ich helfe dir wirklich gern. Bitte schlage mein Angebot nicht aus.«
Die junge Frau schluckte. »Nach deinem Geständnis kann ich es ja zugeben«, erwiderte sie leise. »Du bist mir auch nicht gleichgültig. Aber genauso wie du habe ich mich davor gehütet, das offen zu zeigen. Denn wer weiß, ob ich einen Partner habe. Es ist eine seltsame Situation, in der ich mich befinde, aber im Moment kann ich sie nicht ändern. Gute Freunde dürfen wir ja sein. Dagegen kann niemand etwas haben.« Sie lächelte. »Deshalb nehme ich dein Angebot an. Allerdings hoffe ich, dass ich dir eines Tages alles vergelten kann.«
»Da gibt es nichts, was du vergelten müsstest. Mir ist es eine Freude, dir zu helfen. Am liebsten würde ich schon heute eines der Gästezimmer herrichten und dich zu mir nach Hause holen, aber ein paar Tage wirst du noch im Krankenhaus bleiben müssen. Noch ist alles nicht so gut abgeheilt, dass du entlassen werden kannst.«
»Ich werde Geduld haben«, versprach sie und lächelte Daniel dankbar an. Er griff nach ihrer Hand, hauchte einen Kuss darauf und erwiderte das Lächeln.
*
Ellen hatte ihr Versprechen gehalten. Alle zwei bis drei Tage besuchte sie Kira. Natürlich war ihr aufgefallen, dass die Kleine noch immer so still und in sich gekehrt wirkte wie am ersten Tag. Ellen war von Nick und Denise darüber informiert worden, dass Kira häufig davon sprach, zu ihrer Mutti in den Himmel zu wollen. Diese Tatsache erfüllte auch Ellen mit großer Sorge. Sie wollte Kiras tröstende Vorstellung, dass ihre Mutter im Himmel wohnte und sie jederzeit sehen konnte, nicht zerstören, hielt ein aufklärendes Gespräch allerdings für unbedingt notwendig.
»Wollen wir einen kleinen Spaziergang unternehmen?«, fragte Ellen, als sie Kira an diesem Tag in Sophienlust besuchte. »Ich habe gehört, dass es auf dem Weg zum Waldsee im Moment viele Eichhörnchen geben soll. Wenn wir Glück haben, können wir vielleicht einige davon beobachten.«
»Ja, das können wir machen«, antwortete das Mädchen, doch ihre Stimme klang gleichgültig. Nicht die geringste Spur von Begeisterung war darin erkennbar, und das passte eigentlich so gar nicht zu ihr. Kira liebte Tiere und war früher stets hellauf begeistert gewesen, wenn sie Gelegenheit gehabt hatte, Wildtiere zu beobachten. Von dieser Freude war nichts mehr geblieben. Wortlos ging sie neben Ellen her, als die den Weg zum Waldsee einschlug. In der Nähe einer Gruppe von Haselnusssträuchern stand eine Bank. Dort ließ Ellen sich mit Kira nieder. Im Umfeld dieser Sträucher war die Chance am größten, Eichhörnchen sehen zu können, weil diese Tiere Nüsse liebten und die Nusssträucher auch schon besuchten, wenn die Nüsse noch gar nicht reif waren.
»Kira, ich weiß, dass du noch immer sehr traurig bist«, begann Ellen, als beide auf der Bank saßen, und legte ihren Arm um die Schultern des Mädchens. »Mir fehlt deine Mutti auch sehr. Aber wir beide müssen uns damit abfinden, dass wir einen geliebten Menschen verloren haben. Das Leben geht für uns weiter, und wir müssen lernen, mit diesem neuen Leben umzugehen. Das wäre auch im Sinn deiner Mutti. Sie würde sich darüber freuen, wenn du das schaffen könntest. Willst du dir nicht ein bisschen Mühe geben und wenigstens versuchen, wieder etwas Freude am Leben zu haben?«
»Worüber soll ich mich denn freuen?«, fragte Kira. »Ja, in Sophienlust sind alle nett zu mir, und ich bin ganz gerne dort. Aber für immer möchte ich da trotzdem nicht bleiben. Ohne Mutti macht mir einfach nichts Spaß. Deshalb will ich zu ihr und hoffe, dass sie mich bald holt. In Sophienlust sagen alle, dass das nicht geht, aber wenn jemand im Himmel ist, so wie meine Mutti, dann kann er alles möglich machen.«
»Nein, das stimmt leider nicht«, widersprach Ellen. »Ich will dir deine Hoffnungen wirklich nicht nehmen, aber du bist auf einem falschen Weg, Kiralein. Selbst wenn deine Mutti dich vom Himmel aus beobachten kann, wird sie dich nie zu sich holen können. Dazu fehlt ihr die Macht. Aber wenn sie sieht, wie verzweifelt du bist, wird sie sehr traurig sein. Jede Mutter möchte, dass ihr Kind glücklich ist. Nur dann ist sie selbst auch glücklich und zufrieden. Bitte, mein Mädchen, gib die Hoffnung auf, dass deine Mutti dich in den Himmel holen wird. Das kann und wird niemals passieren. Versuche stattdessen, so fröhlich zu werden, wie alle anderen Kinder in Sophienlust es auch geworden sind. Wenn dir das gelingt, wird deine Mutti glücklich sein und dich jeden Tag gerne von ihrem Platz im Himmel aus beobachten.«
»Du redest genau wie alle anderen«, stellte Kira mürrisch fest. »Keiner glaubt daran, dass Mutti mich zu sich in den Himmel holen kann. Aber ganz sicher wissen kann das eigentlich niemand. Ich will natürlich nicht, dass Mutti unglücklich ist, weil ich traurig bin. Aber ich kann doch nicht einfach so tun, als wäre ich fröhlich. Wenn ich Mutti beschwindelt habe, hat sie das immer gemerkt. Das wäre jetzt auch nicht anders.« Sie schniefte.
»Außerdem glaube ich ganz fest daran, dass Menschen, die in den Himmel gekommen sind, die Kraft haben, jemanden zu sich zu holen. Das lasse ich mir nicht ausreden. Vielleicht muss Mutti eine Menge vorbereiten, bis sie mich holen kann, aber sie wird es tun, sobald es möglich ist.«
»Meinst du denn, dass du das irgendwie beschleunigen kannst?«, wollte Ellen vorsichtig wissen. »Glaubst du, dass du etwas tun musst, damit du schneller wieder bei deiner Mutti sein kannst?«
Zu Ellens großer Erleichterung schüttelte Kira den Kopf. »Nein, ich kann da gar nichts machen. Das kann ich von der Erde aus nicht. Ich muss einfach Geduld haben und warten, bis Mutti mich holen kann.«
Diese Bemerkung zeigte Ellen deutlich, dass Kira sich nicht mit Selbstmordgedanken beschäftigte. Diese Erkenntnis war eine große Erleichterung. Trotzdem blieb da noch ein Problem: Kira sollte den erlittenen Verlust verarbeiten und wieder ein fröhliches, möglichst unbeschwertes Kind sein. Der ständige Gedanke, dass ihre Mutter sie bald zu sich in den Himmel holen würde, hinderte sie jedoch daran.
Wie sollte man daran etwas ändern? Gab es eine Lösung? Im Moment konnte Ellen nur hoffen, dass die Zeit für das kleine Mädchen arbeitete, dass es seinen unsinnigen Wunsch vergaß und sich wieder dem Leben zuwandte.
Nachdem Ellen Kira wieder in die Obhut der anderen Kinder gegeben hatte, berichtete sie Denise von ihrem Gespräch. Auch Nick war anwesend und hörte aufmerksam zu.
»Schade, dass ich mein Studium gerade erst beginne«, bemerkte er. »Als fertig ausgebildeter Kinderpsychologe hätte ich wahrscheinlich eine Idee, wie man Kira helfen kann. Im Augenblick fällt mir leider keine bessere Lösung ein, als immer wieder mit Kira über dieses Thema zu sprechen und ihr zu erklären, dass es keine Möglichkeit gibt, zu ihrer Mutter in den Himmel zu gelangen. Erst wenn sie das eingesehen hat, kann sie anfangen, den Tod ihrer Mutter zu verarbeiten und sich ihr Leben neu einzurichten.«
»Das sehe ich auch so«, pflichtete Ellen Nick bei. Ich hoffe, dass Kira schon sehr bald einsehen wird, dass ihr unsinniger Wunsch nie in Erfüllung gehen wird.«
»Diese Hoffnung hegen wir alle«, gestand Denise. »Es tut uns weh, die Kleine so sinnlos leiden zu sehen. Aber in manchen Fällen benötigen Kinder viel Zeit, bis sie ihre Einstellung ändern können. Wir müssen Kira diese Zeit geben.«
Ellen nickte zustimmend. Aber sie hoffte trotzdem darauf, dass das Mädchen ganz schnell einen Weg in die Realität finden möge, damit es sich nicht mehr länger sinnlosen Hoffnungen hingeben und leiden musste.
*
Obwohl Claudia-Liane im Krankenhaus von allen Schwestern und Pflegern liebevoll versorgt wurde und sich über nichts beklagen musste, sehnte sie den Tag ihrer Entlassung herbei. Daniel hatte mit einem Kollegen seinen Dienst getauscht, damit er an diesem Tag frei hatte, um sich ganz der Frau widmen zu können, die ihm so viel bedeutete.
»Wenn du dich gut und kräftig genug fühlst, können wir zusammen etwas essen, bevor wir zu mir nach Hause fahren«, bemerkte Daniel. »Auf halbem Weg zu meinem Haus liegt ein sehr nettes