Der Televisionär. Группа авторов
damals noch nicht.« 55
Mit den problematischen, bisweilen recht komischen Beziehungen zwischen West- und Ostdeutschen hatte Menge sich bereits kurz zuvor in dem Theaterstück Der Engel aus Quedlinburg und einem darauf basierenden Fernsehspiel für den Hessischen Rundfunk beschäftigt: Eines schönen Tages56 erzählt die Geschichte eines unfreiwilligen Ost-West-Kontakts, zu dem es nach einem Auffahrunfall auf der Transitstrecke zwischen ostdeutschen Anwohnern und Reisenden aus dem Westen kommt.57 Das ernstere und kompliziertere Thema einer bundesrepublikanischen ›Verurteilung‹ von Taten, die in der DDR geschehen waren und mit der dortigen Rechtslage konform gingen – Hanke war »für seine Tat mit einer ›Grenzdienstmedaille‹ und einer 200-Mark-Prämie belohnt« worden58 –, schlug dann Gunther Witte vor. Der WDR-Redakteur war selbst erst 1961, nur zwei Wochen vor dem Mauerbau, aus der DDR in die Bundesrepublik geflohen. Menge lieferte freilich nicht, worauf die Redaktion gehofft hatte:
»Der WDR, der damals mich damit beauftragt hat, hat natürlich gedacht, er kriegt einen Krimi. Der Junge hat Stahlnetz gemacht, das ist ein schöner Krimistoff [...] Ich habe aber einen ganz anderen Film gemacht [...], einen Juristenfilm: Ob wir in der Bundesrepublik überhaupt jemanden verurteilen dürfen, der nach den Gesetzen der DDR etwas Erlaubtes gemacht hat. [...] Im Gegenteil, der hatte ja gemacht, was die ihm gesagt hatten – das war mein Thema. [...] Ich habe gesagt, unsere Grenzsoldaten haben auch den Befehl, auf Flüchtende zu schießen. Gut, nun flüchtete keiner ...«59
Inhaltlich stellte Wolfgang Menges Drehbuch zu Begründung eines Urteils60, wie Ingrid Wesseln schreibt, »pars pro toto die deutsche Teilung vor Gericht«61. Formal mischte es auf eine für die damalige Zeit ungewöhnliche und durchaus irritierende Weise dokumentarische Aufnahmen mit Spielszenen. Dementsprechend erregte es Aufsehen und wurde mit dem Jakob-Kaiser-Preis ausgezeichnet.62 Gleichzeitig wies es auf spätere und spektakulärere Bearbeitungen des Ost-West-Themas voraus, die ebenfalls aus der Kooperation von Menge und Witte entstanden.
»Eigentlich war es so, dass ich von ihm ungeheuer eingeschüchtert war: Er so ein Weltmann und ich aus der DDR! Aber ich habe gemerkt, dass man das bei ihm gar nicht sein musste. [...] Die Ebene, auf der wir uns verstanden haben, hatte auch mit dieser Ost/West-Geschichte zu tun. Und dann habe ich mit ihm Die Dubrow-Krise gemacht und ja auch Grüss Gott, ich komm von drüben.63
Auch die nächsten beiden Drehbücher Menges für das WDR-Fernsehspiel beschäftigten sich mit spezifisch bundesdeutschen Varianten des engen Zusammenhangs von Politik und Verbrechen. In Der Mitbürger64 – der Titel spielte deutlich auf die gängige Nachkriegsphrase von den ›jüdischen Mitbürgern‹ an – ermittelt ein gerade erst in den kleinen Kurort versetzter Polizeibeamter den Tod einer jungen Frau, die nach einer illegalen Abtreibung gestorben ist.65 In Verdacht gerät ein prominenter jüdischer Arzt, dessen Vater unter der NS-Herrschaft einst aus dem Kurort vertrieben wurde und der jetzt aus dem schwedischen Exil zurückgekehrt ist. Aus Angst, als Antisemiten angesehen zu werden – der Vorwurf des rituellen Kindermords ist ein altes Motiv der Judenfeindlichkeit –, behindern die Honoratioren des Kurorts die Ermittlungen des Polizeibeamten, der im Übrigen als Neuankömmling selbst Außenseiter ist. Im Gewand eines Kriminalfalls demonstriert Menges Drehbuch dabei aufklärerisch, dass »gerade die vermeintliche Parteinahme des städtischen Establishments für den jüdischen Arzt [...] ein Kennzeichen des Antisemitismus« ist.66
Nachdem der ermittelnde Beamte, weil er eben gerade keine Unterschiede zwischen jüdischen und nicht-jüdischen ›Mitbürgern‹ machen will, den Arzt doch verhaftet, stellt sich freilich dessen Unschuld heraus – und dass die Tote auf Drängen ihrer Eltern und mit deren Hilfe abgetrieben hat, weil es sich bei dem Kindsvater um einen von den Eltern verachteten italienischen ›Gastarbeiter‹ handelte. Einmal mehr »erweist sich die vielfältig und immer wieder mit Nachdruck inszenierte Behauptung, Xenophobie überwunden zu haben, gerade als Ausdruck von deren Fortdauern.«67
Dieser als Kriminalfall inszenierten Darstellung eines Rassismus, der in der vermeintlich aufgeklärten bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft mehr oder weniger subkutan fortdauerte, ließen Wolfgang Menge und die Fernsehspielredaktion des WDR ein weiteres Fernsehspiel folgen, das Fragen und Lehren aus der nationalsozialistischen Vergangenheit evozierte, ohne direkt von ihr zu handeln. Fragestunde68 thematisierte die Zerstörung einer Demokratie durch eine gewaltsame Machtübernahme und schilderte das ebenso feige wie skandalöse Verhalten der bundesdeutschen Politik gegenüber einem solchen Fall. Den historischen Anlass bot 1967 der Putsch der griechischen Obristen. Nicht um Griechenland, das in Menges Drehbuch Attika heißt, ging es allerdings, sondern um Deutschland. Nicht um die Geschehnisse in Athen beziehungsweise in Attikas fiktiver Hauptstadt Argos, sondern um die politischen Mechanismen in der westdeutschen Hauptstadt Bonn.
Fragestunde, die erste Kooperation von Wolfgang Menge mit dem Regisseur Tom Toelle, markierte zugleich auch den Beginn seiner Infragestellung der tradierten Form des – ob kriminalistischen oder politischen – Fernsehspiels als Mittel authentischer Darstellung und Aufklärung. Nicht zuletzt über eine semi-dokumentarische Kameraführung, die im Stil des zeitgenössischen Direct Cinema dem Hauptprotagonisten beständig über die Schultern sieht, werden die sozialen Mechanismen politischer Anpassung in der Bonner Demokratie erfasst. Die Handlung beginnt mit der Landung des Bundestagsabgeordneten Hirthe auf dem Flughafen Köln-Bonn. Freilich braucht es Zeit, bis der Zuschauer das realisiert, denn es gibt keinen üblichen establishing shot, keine Totale, die den Ort der Handlung zeigen würde. Die Kamera bleibt dicht an Hirthes Gesicht und folgt ihm so beim Ausstieg aus dem Flugzeug und auf seinem Weg durch den Flughafen, bis Hirthe schließlich in den Bus nach Bonn steigt und der Vorspann nun über einer Totale auf Flughafen und Bus einsetzt. [Abb. 11]
Gleich die nächste Sequenz, eine der wohl elegantesten, die das deutsche Fernsehspiel jener Jahre produzierte, entwickelt dann ein zentrales Motiv der Fragestunde: die dominierende Rolle der Medien und vor allem des Fernsehens selbst in der öffentlichen Kommunikation und insbesondere für die Prozesse der politischen Entscheidungsfindung und Herrschaft in der Bonner Republik. Aus dem Ambiente eines bekannten Polit-Magazins – Report Baden-Baden, moderiert von dem zeitgenössisch prominenten Journalisten Günter Gaus69 – fährt die Kamera hinter die Kulissen, an den Kameras vorbei, in deren Suchern sich die Studioszene verdoppelt, und über die Galerie von Bildschirmen und Übertragungsbildern in der Schaltzentrale des Senders. Von dort gelangen wir – die Kamera –, vermittelt über einen weiteren Blick auf den Sucher einer TV-Kamera, in ein anderes Studio. In ihm wird der Bundestagsabgeordnete Hirthe interviewt: Als Urlauber hat er die Brutalitäten des Militärputsches in Argos persönlich erlebt. Während die Kamera seinen Gesprächspartner zeigt, sehen wir über dessen Schultern von Hirthe lediglich sein Bildschirmdoppel. Die fortlaufende Tonspur versetzt uns dann in die Wohnung des Abgeordneten. Gerade tritt er aus dem Bad und vor den Fernseher, um nun – da die Reihe medialer Spiegelungen den Helden selbst erfasst hat – den eigenen TV-Auftritt zu verfolgen. [Abb. 12]
Eingangs wird so zugleich der Semi-Dokumentarismus der Handlung, ihre Faktennähe, wie auch ihre Vermittlung in einem Fernsehformat etabliert, der Umstand also ihrer medialen Gebrochenheit. Der große Rest des Fernsehspiels entfaltet sich danach in Szenen eines vermeintlich uninszenierten Alltags, eingefangen von einer den Helden begleitenden Kamera, wie sie erst zwei Jahrzehnte später im Reality-TV üblich werden sollten.70 Diese noch vergleichsweise vorsichtige Infragestellung der im Fernsehspiel der sechziger Jahre etablierten und teils vom Theater, teils vom Film stammenden Erzählformen sollte Wolfgang Menge in den nächsten Arbeiten für den WDR radikal dekonstruieren – indem er auf neue, spezifisch televisionäre Formate rekurrierte.
Formal lassen sich allenfalls noch zwei weitere Fernsehfilme als Fortsetzung dessen betrachten, was die Arbeiten der fünfziger und sechziger Jahre bestimmt hatte: Der Mann von gestern über die Konsequenzen des wachsenden Einflusses der politischen Parteien auf den öffentlich-rechtlichen Rundfunk und die Korruption eines Ministerpräsidenten im Kontext der Atom-Industrie71 sowie Kennwort Möwe über eine Flugzeugentführung und das Versagen der politischen Führung.72 Von diesen Ausnahmen abgesehen aber sollten Wolfgang Menge in den siebziger und achtziger Jahren andere televisionäre Formen