Der Televisionär. Группа авторов
Partei Russlands an. In Deutschland begann Ende Januar der Hochverratsprozess gegen Adolf Hitler und seine Mitverschwörer beim gescheiterten Putsch vom 9. November 1923. Im Februar hielt Calvin Coolidge als erster US-Präsident eine Radioansprache, und in der britischen Zeitschrift Radio Times erschien unter dem Titel »Seeing the World from an Armchair: When Television is an Accomplished Fact« ein Artikel, basierend auf Experimenten von John Logie Baird, einem Pionier des mechanischen Fernsehens, demzufolge der Durchbruch des neuen Bildmediums unmittelbar bevorstand.8
Im März endete in der Türkei das islamische Kalifat, die säkulare Modernisierung des Staates unter Kemal Atatürk setzte ein. Ende März wurden im inflationsgeplagten Deutschland die letzten Papiermarkscheine im Wert von fünf Billionen Mark gedruckt. Nach der Umstellung auf die neue Reichsmark, zu der es im August kommen wird, werden sie fünf Mark wert sein. Am 1. April wurde Adolf Hitler wegen Beihilfe zum Hochverrat zu fünf Jahren Festungshaft verurteilt. Noch vor Weihnachten desselben Jahres sollte man ihn wieder in die Freiheit entlassen. Am 6. April fanden in Italien Wahlen statt. Die Faschisten, angeführt von Benito Mussolini, gewannen sie mit einer Zweidrittelmehrheit.
In diese Welt wurde am 10. April 1924 Wolfgang Menge geboren; als erstes Kind eines – wie es nach 1933 heißen wird – ›arischen‹ Vaters und einer jüdischen Mutter.9 Der Vater Otto Menge war Kaufmann und handelte mit automatischen Waagen. Die Mutter Golditza, geborene Schorr, stammte aus Rustschuk - heute Russe –, demselben bulgarischen Dorf, in dem auch Elias Canetti das Licht der Welt erblickte. Wenige Monate nach Geburt des ersten Sohnes zog die Familie von Berlin nach Hamburg.10 Politisch waren Otto Menge und seine Familie zerrissen, ein Umstand, der zu der späteren Distanz Wolfgang Menges beigetragen haben mag, wie sie Marlies Menge beschreibt:
»Wolfgang hatte sich lange Zeit kaum für seine Vorfahren interessiert. Es sei denn, sie waren für eine Geschichte gut. Wie die vom Bruder seines Vaters. Otto Menge, sein Vater, hatte zwei Brüder. Da war Karl, ein alter Kämpfer, soll heißen: ein frühes NSDAP-Mitglied, ein höherer Beamter, nämlich Stadtdirektor in der Verwaltung von Braunschweig, so dass es – nur sehr vielleicht – sein kann, dass er es war, der Hitler eingebürgert hat. Denn der Österreicher Hitler wurde erst durch einen Braunschweiger Beamten Deutscher. Das ist amtlich. Ob dies nun wirklich der Bruder meines Schwiegervaters war, ist nicht bekannt. Für Wolfgang war es eine wunderbare Geschichte. Der zweite Bruder war Kassierer bei den Elektrizitätswerken. Otto Menge, Wolfgangs Vater, war [...] kein Nazi. Er hätte sonst kaum in der Nazizeit zu seiner jüdischen Frau gehalten.«11
In Wolfgang Menges Kindheit waren laufende Bilder noch stumm. Der Aufstieg des Radios zum Massenmedium und die Einführung des Tonfilms fanden dann primär in Diensten eines Regimes statt, das ihn zu einem Außenseiterdasein verdammte: »Ich bin völlig ohne Freunde groß geworden, völlig allein. Ich habe mich immer gewundert, dass ich keine Freunde hatte in der Klasse. Und das hat mir meine Mutter dann erklärt.«12 Zu seinen frühen Erinnerungen gehörte ein Einkauf:
»Meine Eltern hatten wenig Geld. Ich musste dann in Hamburg irgendwohin fahren, wo die Schaufenster kaputt waren. Das war nach der Reichskristallnacht, da ist meine Mutter mit mir hingegangen und hat mir Schuhe gekauft.«13
Generell aber, das hat Wolfgang Menge immer wieder betont, erinnerte er so gut wie nichts aus seiner Kindheit und Jugend.
»›Sehen Sie‹, sagt Menge, ›ich halte Leute für unseriös, die behaupten, sie könnten sich an ihre Kindheit und Jugend erinnern. Ich glaube, daß da sehr viel im Nachhinein zurechtgelegt wurde.‹
›Wußten Sie, daß Ihre Mutter ...?‹
›Ja, schon. Aber wann? War ich mir schon 1935 oder 1936, also während der Schulzeit, darüber im klaren, daß meine Mutter Jüdin war? Ich weiß es nicht. Ich habe das möglicherweise wie alle Deutschen nicht wahrhaben wollen.‹«14
Nach dem Schulabschluss absolvierte Menge Anfang der 1940er Jahre eine kaufmännische Lehre und verkehrte, wie Sabine Hering schreibt, »in einem illustren Freundeskreis, zu dem viele Künstler« gehörten.15 In diesen Jahren begann seine Liebe zur Literatur: »Der Vater von einem Freund fuhr zur See und brachte immer Bücher mit, die verboten waren, zum Beispiel Stefan Zweigs Die Welt von gestern.«16 Darüber hinaus hörte die Familie – ebenso verbotenes – englisches Radio, »den Sender Gustav-Siegfried-Eins, nicht zuletzt wegen der Musik.«17
1941, mit 17 Jahren, wurde Wolfgang Menge – nach den Kriterien des Rassenwahns ›M1‹ (›Mischling ersten Grades‹) – zum Reichsarbeitsdienst eingezogen, 1942 dann zu einer Sondereinheit der Armee, die ab 1943 in Polen stationiert war [s. Abb. 2]:
»Ich war ja bei der deutschen Wehrmacht tätig ein paar Jahre lang, ohne großen Erfolg bedauerlicherweise. Denn ich bin ja nicht mal Gefreiter geworden, was glaube ich keinem Menschen gelungen ist – so lange dabei zu sein, ohne zumindest Obersoldat zu werden ...«18
Damals trug er immer Gift bei sich, das er sich von einem befreundeten Arzt besorgt hatte. 1944 wurde seine Einheit in Polen eingekesselt und Menge leicht verwundet. Sabine Hering beschreibt, wie er sich daraufhin mit Hilfe eines Tricks ausfliegen ließ:
»Er geht mit einem Zettel um den Hals, auf dem vermerkt ist, dass er behandelt werden soll, um ein Flugzeug herum, in dem Schwerverletzte ausgeflogen werden. Der beaufsichtigende Offizier sieht das und sagt: ›Nun steigen Sie doch endlich ein!‹ Das tut er auch und kommt auf diese Weise nach Schlesien in ein Lazarett. Durch gefälschte Papiere, welche ihm eine Krankenschwester besorgt und die ihn als Schwerkranken ausweisen, kann er dort eine Weile bleiben.«19
Schließlich floh er:
»Ich war im Lazarett. Und bin dann etwas vorher nach Hause gefahren. Wie nennt man das? Fahnenflucht oder so. Als ich sah, dass ich meine Eltern nicht mehr gefährde, bin ich abgehauen und habe mich versteckt.«20
Sabine Hering schildert diese Flucht – aus der Gegend um Wien21 – detaillierter und dramatischer:
»Als die Front näher rückt, desertiert er mit zwei Kumpeln zusammen in einem Kübelwagen Richtung Hamburg. Sie schlängeln sich zwischen der amerikanischen und russischen Front durch. Eine SS-Streife, die sie unterwegs anhält, schießen sie nieder. Als sie zu dritt in Hamburg ankommen, wird einer von ihnen als Deserteur gefasst und erschossen.«22
Menges Eltern hatten sich an der Ostsee in Sicherheit gebracht. Er selbst versteckte sich bei Freunden im ausgebombten Hamburg. Eine Weile nächtigte er im Keller des leerstehenden schwedischen Generalkonsulats. So feierte er, in steter Todesgefahr, seinen einundzwanzigsten Geburtstag. Einen knappen Monat später endete der Zweite Weltkrieg. Menge erkannte es zuerst daran, dass im Radio plötzlich die – von ihm verehrten – Andrews Sisters gespielt wurden.23 Sofort ließ er sich von einem Freund, dem Kunststudenten Bernd Hering, falsche Papiere herstellen, um der Internierung durch die britische Besatzungsmacht zu entgehen.
Nach einem »ersten Durchatmen«, wie er es einmal nannte, stellte sich ihm im Sommer 1945 die Berufsfrage. Kurzfristig betätigte er sich als Schwarzmarkthändler, wurde verhaftet und brillierte auf Grund seiner literarischen Vorbildung als Gefängnisbibliothekar.24 Nach einer – durch die erfolgreiche Bestechung eines Justizbeamten – vorgezogenen Entlassung schwankte seine Berufswahl zwischen Fotoreporter und Kabarettist. Unter einigen Mühen beschaffte er sich eine Fotoausrüstung. Gleichzeitig besuchte er immer wieder Kabarettvorstellungen in einem Kino am Eppendorfer Baum, nicht weit von seiner Wohnung. Besonders begeisterten ihn Werner Finck und Heinz Ehrhardt.
Zwei zentrale Elemente seines zukünftigen Werks deuteten sich in diesen Neigungen an: das Streben einerseits nach authentischer Dokumentation, andererseits nach ebenso geistreicher wie respektloser Kritik. Als sich erste Hoffnungen auf eine Karriere als Fotograf zerschlugen,25 verlegte sich Menge vom Bild auf den Text: