Befreite Schöpfung. Leonardo Boff
zu verstehen, die sich einer befreienden Veränderung in den Weg stellen. Der zweite Schritt ist die Ausformulierung einer „Kosmologie der Befreiung“ – eine Zukunftsvision, die – wie es der im Buch zitierte Thomas Berry herausstellt – „attraktiv genug ist, um uns in dem jetzt sich vollziehenden Veränderungsprozess des Projektes Mensch zu halten“.
Die vielfältigen und miteinander verquickten Hindernisse, wie sie Hathaway und Boff erkunden, haben ihre Ursache in unseren politischen und wirtschaftlichen Strukturen. Sie werden von einer mechanistischen und deterministischen Weltanschauung noch verstärkt und durch Ohnmachtsgefühle, Verleugnung und Verzweiflung verinnerlicht. Die äußeren, „systemischen“ Hindernisse werden ausführlich besprochen. Sie umfassen die Illusion unbegrenzten Wachstums auf einem endlichen Planeten, übermäßige Macht transnationaler Konzerne, ein parasitäres Finanzsystem und eine Tendenz, Wissen zu monopolisieren und – wie es Vandana Shiva ausdrückt – eine geistige Monokultur durchzusetzen. Die Autoren erläutern, dass diese äußeren Hindernisse durch unterdrückerische Erziehungssysteme, die Manipulation der Massenmedien, einen alles durchdringenden Konsumismus und künstliche Umwelten (besonders im städtischen Raum), die uns von der lebendigen Natur isolieren, verstärkt werden.
Um die verinnerlichte Ohnmacht zu überwinden, die die Gestalt von Abhängigkeit und Gier, Verleugnung, psychische Abstumpfung oder Verzweiflung annehmen kann, müssen wir – so schlagen die Autoren vor – unseren Selbst-Sinn erweitern. Wir müssen unsere Fähigkeit, Mitleid zu empfinden, Gemeinschaft aufzubauen und Solidarität zu üben, verstärken, unser Empfinden dafür, dass wir der Erde angehören, von Neuem wecken und dadurch unser „ökologisches Selbst“ wiederentdecken. Sie schlagen vor, dass wir „uns auf die Dinge konzentrieren sollen, die uns wirklich erfreuen, die uns tatsächlich Vergnügen bereiten: Zeit mit unseren Freunden verbringen, spazieren gehen, Musik hören oder sich über eine einfache Mahlzeit freuen“. Das Meiste von dem, was uns wirklich Freude bereitet, so betonen sie, kostet wenig oder gar kein Geld.
Doch um wirklich aufzuwachen und die Verbindung von Neuem herzustellen, bedarf es auch eines neuen Verständnisses von der Wirklichkeit und eines neuen Bewusstseins vom Platz der Menschheit innerhalb des Kosmos. Wir brauchen „eine lebendige und vitale Kosmologie“. Die Autoren benutzen den Ausdruck „Kosmologie“ im Sinne einer gemeinsamen Weltanschauung, die unserem Leben Sinn verleiht, und sie stellen eine gegenwärtig entstehende „Kosmologie der Befreiung“ einer „Kosmologie der Herrschaft“ gegenüber, die eine „Ersatzkosmologie des Erwerbs und Konsums“ beinhaltet, welche zurzeit unsere modernen Industriegesellschaften in Bann hält.
Die Autoren behaupten, dass ein neues Verständnis des Kosmos nun aus der modernen Wissenschaft hervorgeht, die auf vielfache Weise frühere autochthone Kosmologien in Erinnerung ruft. Doch im Gegensatz zu den meisten von ihnen nimmt die neue wissenschaftliche Weltsicht ein sich entwickelndes Universum in den Blick und stellt deshalb einen geeigneten begrifflichen Rahmen für die befreiende Veränderung dar, deren wir bedürfen. Zur Untermauerung dieser These schöpfen Hathaway und Boff aus einem riesigen Fundus zeitgenössischer Denker: Philosophen, Theologen, Psychologen und Naturwissenschaftler. Innerhalb des breiten Spektrums von Gedanken, Modellen und Theorien, die sie diskutieren, sind nicht alle miteinander vereinbar. Einige wenige sind esoterischer Natur und bewegen sich definitiv außerhalb des wissenschaftlichen Konsenses. Und manchmal ziehen die Autoren Schlussfolgerungen, die über den gegenwärtigen Stand der Wissenschaften hinausgehen. Doch es gelingt ihnen auf bewundernswerte Weise, die Entstehung eines neuen, in sich stimmigen Wirklichkeitsverständnisses aufzuzeigen.
Die Pioniere der heutigen Naturwissenschaften betrachten das Universum nicht mehr als eine Maschine, die sich aus elementaren Bauteilen zusammensetzt. Wir haben entdeckt, dass die materielle Welt letztlich ein Netzwerk untrennbarer Muster von Beziehungen ist; dass der Planet als ganzer ein lebendiges, sich selbst regulierendes System ist. Die Auffassung vom Körper als einer Maschine und vom Geist als einer davon getrennten Entität wurde ersetzt von einer Sichtweise, die nicht nur das Gehirn, sondern auch das Immunsystem, die Gewebearten des Körpers, ja sogar jede einzelne Zelle als lebendige, kognitive Systeme betrachtet. Die Evolution wird nicht mehr als der Wettkampf ums Überleben aufgefasst, sondern als kooperativer Tanz, in dem Kreativität und das ständige Auftreten von Neuheit die treibenden Kräfte darstellen. Und mit dem neuen Akzent auf Komplexität, Netzwerke und Organisationsmuster entwickelt sich langsam eine neue „Wissenschaft der Qualität“.
Die Autoren vertreten auch – zu Recht, wie ich meine – die Auffassung, dass die im Entstehen begriffene wissenschaftliche Kosmologie in völlige Übereinstimmung mit der spirituellen Dimension der Befreiung gebracht werden kann. Sie erinnern die Leser daran, dass innerhalb ihrer eigenen christlichen Tradition die ursprüngliche Bedeutung von Geist – ruha im Aramäischen, ruach auf Hebräisch – der Atem des Lebens ist. Dies ist auch die ursprüngliche Bedeutung von spiritus, anima, pneuma und anderer antiker Ausdrücke für „Seele“ oder „Geist“. Spirituelle Erfahrung ist demzufolge zuerst und in erster Linie eine Erfahrung des Lebendig-Seins. Ihr zentraler Bewusstseinsinhalt besteht zahlreichen Zeugen zufolge in einem tiefen Empfinden der Einheit mit Allem, einem Empfinden dafür, dem Universum als ganzem anzugehören.
Dieses Gespür für die Einheit mit der natürlichen Welt wird durch die neue Auffassung vom Leben in den modernen Naturwissenschaften völlig bestätigt. Sobald wir begreifen, wie die Wurzeln des Lebens tief in die Grundlagen der Physik und Chemie hineinreichen, wie die sich entfaltende Komplexität lange vor der Entstehung der ersten lebenden Zellen ihren Anfang nahm und wie sich das Leben im Laufe von Milliarden von Jahren entwickelt hat, indem es immer wieder auf dieselben Grundmuster und Prozesse zurückgriff, werden wir gewahr, wie eng wir mit dem gesamten Gewebe des Lebens verbunden sind.
Das Bewusstsein davon, mit der gesamten Natur verbunden zu sein, ist besonders stark innerhalb der Ökologie. Verbundenheit, Beziehung und wechselseitige Abhängigkeit sind Grundbegriffe der Ökologie. Und Verbundenheit, Beziehung und Zugehörigkeit bilden auch das Wesen der spirituellen Erfahrung. So scheint die Ökologie die ideale Brücke zwischen Wissenschaft und Spiritualität zu sein. Und in der Tat plädieren Hathaway und Boff für eine „ökologische Spiritualität“, der es in erster Linie um die Zukunft des Planeten Erde und der Menschheit insgesamt geht.
Sie zeigen auf, dass jede Religion einzigartige ökologische Einsichten und Zugänge aufweist, und sie ermutigen uns dazu, diese Vielfalt von Lehren nicht als eine Bedrohung, sondern vielmehr als eine Stärke zu betrachten. „Jeder von uns muss von Neuem in die jeweils eigene religiöse Tradition hineinschauen“, schlagen die Autoren vor, „und die Einsichten darin aufspüren, die uns zu einer Ehrfurcht vor allem Leben, zu einer Ethik des Teilens und der Fürsorge, zu einer Vision des im Kosmos inkarnierten Heiligen hinführen.“
Das Tao der Befreiung beinhaltet auch viele konkrete Vorschläge für Ziele, Strategien und politisches Handeln für effektive Veränderung, die zu einer gerechten und ökologisch nachhaltigen Gesellschaft führt. Zwei Bezugsrahmen, die detailliert besprochen werden, sind der Bioregionalismus, der auf der Idee beruht, eine tiefe Verbundenheit mit der Natur auf lokaler Ebene wiederzuerlangen, und die Erdcharta, „ein wahrhaft befreiender Traum für die Menschheit“, die als ihr erstes Prinzip die Achtung und Sorge für die Gemeinschaft des Lebens anführt.
Da wir an einem Scheideweg in der Geschichte der Menschheit angelangt sind, werden die Leser in diesem Buch einen Reichtum an Ideen und tiefen Einsichten zu einem grundlegenden Bewusstseinswandel und einer radikalen Veränderung in unserer Welt finden, auf die es jetzt ankommt. Unter all diesen Gedanken ist der wichtigste und tiefste vielleicht der, der im Zentrum der Bemühungen der Autoren steht. Anstatt den Übergang zu einer nachhaltigen Gesellschaft in erster Linie als Begrenzungen und Einschränkungen zu begreifen, plädieren Hathaway und Boff eindringlich für eine neue und überzeugende Auffassung von Nachhaltigkeit als Befreiung.
Berkeley, am Ersten internationalen Tag der Mutter Erde, 22. April 2009
Fritjof Capra
Über das Tao Te King
Wir haben uns dazu entschlossen, das Tao Te King, einen antiken chinesischen Text, der etwa vor 2500 Jahren geschrieben worden ist, als Quelle der Inspiration für dieses Buch zu benutzen. Der Text wird in der Überlieferung Lao Tse zugeschrieben,