Befreite Schöpfung. Leonardo Boff

Befreite Schöpfung - Leonardo Boff


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Krise durch. Da sich die Menschen einen immer größeren Teil der Gaben der Erde angeeignet haben, bleibt für andere Lebensformen immer weniger übrig. Da wir die Luft, das Wasser und das Land mit Chemikalien und Abfall verpesten, wird das komplexe System, welches das Gewebe des Lebens aufrecht erhält, zunehmend unterminiert. Viele Arten verschwinden für immer. Unser Planet erlebt in der Tat eine der größten Massenvernichtungen aller Zeiten.

      Natürlich gibt es Zeichen der Hoffnung. Unzählige einzelne Personen und Organisationen setzen sich mit Fantasie und Mut für eine Veränderung ein. Einige haben Bewegungen ins Leben gerufen, die heute weltweit aktiv sind. Ihre Anstrengungen bewirken sehr konkrete Veränderungen auf lokaler Ebene in der ganzen Welt. Gleichzeitig ermöglichen neue Kommunikationsmittel den Dialog zwischen Menschen aus unterschiedlichen Kulturen und mit unterschiedlichen Glaubensüberzeugungen. Die Möglichkeiten, Weisheit und Erkenntnisse miteinander auszutauschen, sind deshalb wahrscheinlich größer als jemals zuvor. Viele Menschen haben ein stärker ausgeprägtes Bewusstsein von ihren grundlegenden Rechten und verteidigen diese aktiver. Auf Gebieten wie Gesundheitsvorsorge und Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen wurden echte Fortschritte erzielt. Es gibt ein wachsendes Bewusstsein hinsichtlich der ökologischen Problematik, und viele Gemeinden bemühen sich, in Harmonie mit der Natur und nicht gegen sie zu arbeiten. All diese Trends eröffnen neue Möglichkeiten für die Erneuerung der Welt.

      Doch das sind bloß kleine Lichtblicke inmitten der Dunkelheit. Immer noch gibt es wenige Anzeichen für ein effektives, abgestimmtes Handeln in einer solchen Größenordnung, dass es in der Lage wäre, die zunehmende Armut und den ökologischen Niedergang tatsächlich zu stoppen oder gar einen Prozess in Gang zu setzen, um die Gemeinschaft des Planeten wieder gesunden zu lassen. Institutionen auf Weltebene, insbesondere Regierungen und Konzerne, beziehen in ihr Handeln die dringende Notwendigkeit nach wie vor nicht ein, die Art und Weise, wie wir in dieser Welt leben, von Grund auf zu ändern. Im Gegenteil: Die Grundideen, Motive, Gewohnheiten und politischen Strategien, die so viel Verwüstung und Ungerechtigkeit verursacht haben, beherrschen nach wie vor unser politisches und ökonomisches System. Michail Gorbatschow stellte im Jahr 2001 fest:

      „Obwohl es eine wachsende Zahl von mutigen Initiativen von Verantwortlichen in Regierungen und Unternehmen gibt, die Umwelt zu schützen, sehe ich nicht, dass eine politische Führung und der Wille entstehen, Risiken in der Größenordnung einzugehen, die notwendig wäre, um der gegenwärtige Situation gerecht zu werden. Obwohl es eine wachsende Zahl von Menschen und Organisationen gibt, die sich der Bewusstseinsbildung widmen und Änderungen in der Art und Weise, wie wir die Natur behandeln, herbeiführen wollen, erkenne ich immer noch keine klare Vision und keine gemeinsam abgestimmte Vorgehensweise, die die Menschheit rechtzeitig zu einer Kurskorrektur inspirieren könnten.“ (Gorbachev 2001,4)

      Joanna Macy und Molly Brown (1998) bezeichnen die zentrale Herausforderung unserer Zeit, nämlich den Wechsel von industriellem Wachstum hin zu einer lebenerhaltenden Zivilisation, als die „Große Wende“. Leider haben wir keine Gewähr dafür, dass wir diese wesentliche Veränderung rechtzeitig hinbekommen, um die Auflösung des sorgfältig geknüpften Netzes zu verhindern, welches das komplexe Leben trägt und erhält. Sollten wir uns als unfähig erweisen, eine solche Veränderung zu bewerkstelligen, dann nicht, weil es an der entsprechenden Technik, an genügend Information oder etwa an schöpferischen Alternativen mangelt, sondern vielmehr, weil es an politischem Willen fehlt und weil die uns drohenden Gefahren so schwer zu ertragen sind, dass sie viele von uns aus Angst schlicht aus ihrem Bewusstsein verbannen.

      Wir sind dennoch fest davon überzeugt, dass der gegenwärtige Kreislauf von Verzweiflung und Zerstörung durchbrochen werden kann, dass wir immer noch die Chance haben, effektiv zu handeln und den Kurs zu ändern. Es ist noch Zeit, die Große Wende einzuleiten und unseren Planeten zu heilen. In diesem Buch suchen wir nach einem Weg zur Veränderung, zu einem Wandel, der uns zu einer neuen Weise, in der Welt zu sein, herausfordert – einer Weise des In-der-Welt-Seins, die gerechte und harmonische Beziehungen innerhalb der menschlichen Gesellschaft und innerhalb der größeren planetarischen Gemeinschaft umfasst. Wir suchen nach einer Weisheit – dem Tao ‒, das uns zu einer ganzheitlichen Befreiung hinführt.

      Wir sind davon überzeugt, dass die Kraft für diese Veränderungen bereits unter uns vorhanden ist. Sie ist als Keim bereits im menschlichen Geist da. Sie ist im Evolutionsprozess Gaias, unserer lebendigen Erde, am Werk. Sie ist in Wahrheit bereits in den Stoff des Kosmos selbst hineingewoben, in das Tao eingelassen, das durch alles und in allem fließt. Wenn es uns gelingt, einen Weg zu finden, uns auf das Tao einzustellen und uns mit seiner Energie zu verbinden, dann werden wir den Schlüssel für wahrhaft revolutionäre Veränderungen finden, die zu einer echten Befreiung hinführen. Doch das Tao ist keineswegs etwas, dessen wir uns bemächtigen und das wir kontrollieren könnten. Wir müssen es vielmehr zulassen, dass es durch uns wirkt, indem wir uns seiner verändernden Energie öffnen, damit die Erde geheilt werden kann. Mit den Worten von Thomas Berry ausgedrückt:

      „Die dynamischen Kräfte, die wir brauchen, um die Zukunft zu gestalten, fehlen uns nicht. Wir schwimmen, über alle Vorstellbarkeit hinaus, in einem Meer von Energie – aber diese Energie wird zur unsrigen letztlich nicht durch Beherrschung, sondern durch Anrufung.“ (2011, 175)

      Bevor wir diese Aufgabe in Angriff nehmen, müssen wir die sehr konkreten Hindernisse verstehen, die einer befreienden Veränderung im Weg stehen. Vielleicht ist der erste Schritt in Richtung Weisheit einfach der, dass wir die Notwendigkeit der Veränderung einsehen. Viele von uns wissen die Größe und Schwere der Krisen, mit denen wir konfrontiert sind, noch nicht angemessen einzuschätzen. Zu einem großen Teil rührt dies daher, dass unsere Wahrnehmung der Realität so deformiert ist, dass sie das verbirgt, was ansonsten offen zutage läge. Wir tendieren dazu, die Welt aus einem sehr eingeschränkten Blickwinkel heraus zu betrachten, sowohl was die Zeit, als auch was den Raum betrifft. Wir blicken selten über unsere unmittelbare Vergangenheit oder Zukunft bzw. über unsere eigene Gemeinde oder Region hinaus.

      Teilweise rührt diese verkürzte Sichtweise auch daher, dass viele der Probleme, mit denen wir konfrontiert sind, nur allmählich schlimmer werden, vor allem im Vergleich zu unserer relativ kurzen eigenen Lebensspanne. Wir tendieren dazu, uns sehr schnell an neue Realitäten zu gewöhnen – wenigsten in einem oberflächlichen Sinn ‒, und deshalb erkennen wir den Ernst der Krisen nicht, die uns bevorstehen. Ein einleuchtendes Beispiel dafür ist ein Frosch, der steigenden Temperaturen ausgesetzt wird: Wenn man einen Frosch in kochendes Wasser wirft, dann wird er sofort zu entkommen versuchen. Wenn man ihn hingegen in kaltes Wasser setzt und dieses langsam erhitzt, dann wird er die Gefahr erst bemerken, wenn es bereits zu spät ist, und er wird an der Hitze zugrunde gehen.

      So gesehen entstand die Erde im siebzigsten Jahr des kosmischen Jahrhunderts, und überraschend bald danach entstand in ihren Ozeanen das Leben, nämlich im Jahr 73. Fast zwei kosmische Jahrzehnte lang beschränkte sich das Leben weitgehend auf einzellige Bakterien. Doch diese Organismen tragen viel zum Wandel des Planeten bei, indem sie seine Atmosphäre, seine Ozeane und seine geologischen Verhältnisse so radikal verändern, dass diese komplexere Lebensformen dauerhaft erhalten können.

      Im Jahr 93 beginnt eine neue Phase der Kreativität sowohl durch die Entstehung der sexuellen Fortpflanzung als auch durch den Tod der einzelnen Exemplare. In diesem neuen Stadium beschleunigt sich der Evolutionsprozess rasant. Zwei Jahre später, also im Jahr 95, tauchen die ersten mehrzelligen Organismen auf. Das erste Nervensystem entwickelt sich im Jahr 96 und die ersten Wirbeltiere nicht einmal ein Jahr später. Säugetiere tauchen zur Mitte des Jahres 98 auf, zwei Monate nach dem ersten Auftreten der Dinosaurier und der ersten Blütenpflanzen.


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