Befreite Schöpfung. Leonardo Boff
Sprüchen aus der Überlieferung aus einer Vielzahl von Quellen ist. Der Text wurde vermutlich zwischen dem siebten und zweiten Jahrhundert v. Chr. verfasst.
Jonathan Star zufolge können wir die Bedeutung des Titels Tao Te King folgendermaßen verstehen:
Tao ist die höchste Wirklichkeit, das alles durchdringende Substrat; es ist das ganze Universum und die Art und Weise, wie das Universum wirkt. Te ist die Gestalt und Macht von Tao; es ist die Art und Weise, wie sich das Tao zeigt; es ist das Tao, das sich in einer Form oder Kraft konkretisiert. Tao ist die transzendente Wirklichkeit; Te ist die immanente Wirklichkeit. King meint ein Buch oder ein klassisches Werk. Also meint Tao Te King wörtlich „Das klassische Buch der höchsten Wirklichkeit (Tao) und seiner vollkommenen Erscheinung (Te)“, „Das Buch des Weges und seiner Kraft“, „Das klassische Buch von Tao und seiner (moralischen) Kraft“. (2001, 2)
Nach der Bibel ist das Tao Te King der am stärksten verbreitete Text der Welt. Es gibt unzählige Übersetzungen davon, einige eher wissenschaftliche und am Wortsinn orientierte, andere eher poetische. Das alte Chinesisch ist eine Begriffssprache. Deshalb ruft jedes Wort des Textes tatsächlich eine Menge Bilder ins Bewusstsein, die in vielfacher Weise übersetzt werden können. Deshalb gelingt es keiner Übersetzung, den gesamten Atem oder die Tiefe des Textes ganz zu erfassen. In gewissem Sinne ist jede Übersetzung eines solchen Textes eine Art der Interpretation, und keine liefert und das vollständige Bild dessen, was darin ausgesagt wird.
Da wir keinerlei Art von akademischer Abhandlung über den Text verfassen wollen, haben wir uns dazu entschlossen, auf eine Vielfalt von Übersetzungen zurückzugreifen; die meisten davon sind eher poetischer Natur. Diese fügten wir zu einer Version zusammen, die gut zu dem Kapitel passt, dem ein bestimmter Textabschnitt als Einleitung dient. Hierfür haben wir die Übersetzungen von Mitchell (1988), Muller (1997) sowie Feng und English (1972) benutzt und dabei die hervorragende wörtliche Übersetzung von Jonathan Star in Gemeinschaft mit C. J. Ming als allgemeinen Leitfaden herangezogen.1
1 Aufgrund dieser Vorgehensweise der Autoren hat der Übersetzer die Passagen aus dem Tao Te King aus dem Englischen rückübersetzt, dabei aber von den zahlreichen deutschen Ausgaben herangezogen: Laotse 1978 und Lao-Tse 1995; d. Übers.
Prolog
Es gab etwas, gestaltlos und vollkommen,
chaotisch und vollendet zugleich.
Es war da, noch vor Himmel und Erde.
Still, endlos, leer und einsam,
alles durchdringend, stets in Bewegung,
alles in seinem Dasein haltend, und dennoch nie erschöpft.
Es ist die Mutter des Kosmos.
Da ich keinen besseren Namen weiß,
nenne ich es das Tao.
Es fließt durch alle Dinge hindurch,
innen und außen,
und kehrt zurück zur Quelle von allem …
Die Menschen folgen der Erde.
Der Himmel folgt dem Tao.
Das Tao folgt allein sich selbst.
(Tao Te King § 25)
Das Tao der Befreiung ist ein Streben nach Weisheit, jener Weisheit, die wir brauchen, um tiefgreifende Veränderungen in unserer Welt zustande zu bringen. Wir haben uns dazu entschlossen, diese Weisheit mithilfe des alten chinesischen Wortes Tao zu beschreiben. Es bedeutet einen Weg oder Pfad, der zur Harmonie, zum Frieden und zu rechter Beziehung hinführt. Das Tao kann als ein Ordnungsprinzip verstanden werden, das die allem gemeinsame Grundlage des Kosmos bildet. Es ist sowohl die Art und Weise, wie das Universum funktioniert, als auch die fließende kosmische Struktur, die nicht beschrieben, sondern lediglich verkostet werden kann.2 Das Tao ist die Weisheit im Herzen des Universums selbst, das seinen Sinn und seine Zielrichtung in sich birgt.
Wir benutzen das Bild des Tao und die Texte des alten Tao Te King, doch dieses Buch handelt dennoch nicht vom Taoismus als solchem. Der Gedanke, auf den wir mit der Benutzung des Wortes Tao verweisen, geht in gewissem Sinne über jede existierende Philosophie oder Religion hinaus. Ähnliche Gedanken finden sich auch in anderen Traditionen. So bedeutet zum Beispiel das Dharma im Buddhismus „die Art und Weise, wie Dinge funktionieren“ oder „sich in geordneter Weise selbst entfalten“ (Macy 1991 a, XI). In ähnlicher Weise bedeutet das von Jesus benutzte aramäische Wort, das üblicherweise mit „Königreich“ oder „Reich“ übersetzt wird – malkuta – „die leitenden Prinzipien, die unser Leben zur Einheit hinführen“, und es evoziert „das Bild eines ‚fruchtbaren Arms‘, der sich zur Schöpfung anschickt, oder einer Sprungfeder, die bereit ist, das gesamte grünende Potenzial der Erde freizusetzen“ (Douglas-Klotz 1990, 20). Sowohl Dharma als auch Malkuta bringen dies auf unterschiedliche Art auf den Begriff, doch für die Absicht dieses Buches können wir sie in dem Sinne auffassen, dass sie auf dieselbe Wirklichkeit verweisen wie das Tao – eine Realität, die sich letztlich einer prägnanten und kurzen Beschreibung entzieht, sondern nur auf einer tieferen Ebene intuitiv erfasst werden kann.
Das chinesische Zeichen für das Tao vereint die Begriffe für Weisheit und für das Gehen miteinander und beschwört so das Bild eines Prozesses herauf, der Weisheit in das Handeln, oder mit anderen Worten in eine Form von Praxis umsetzt. Im „Tao der Befreiung“ suchen wir nach dieser Art von „voranschreitender Weisheit“, wie sie dem Gefüge des Kosmos selbst innerlich ist.
Auf der Suche nach dieser Weisheit ziehen wir Einsichten und Erkenntnisse aus so unterschiedlichen Gebieten wie Wirtschafswissenschaften, Psychologie, Kosmologie, Ökologie und Spiritualität heran. In gewissem Sinne bleibt es dennoch unmöglich, die Gestalt des Tao der Befreiung vollständig zu entwerfen. Das Tao ist eine Kunst, keine exakte Wissenschaft. In einem sehr realen Sinne ist das Tao ein Geheimnis. Wir können Wegweiser anbieten, doch wir können keine detaillierte Landkarte zeichnen.
Wir suchen nach Weisheit in der Hoffnung, Einsichten zu finden, welche die Menschheit in die Lage versetzen, Wahrnehmungen, Vorstellungen, Gewohnheiten und Systeme hinter sich zu lassen, welche Ungerechtigkeit und die Zerstörung der Fähigkeit unseres Planeten, auf Dauer Leben zu beherbergen, fortschreiben. Wir hoffen dabei neue Lebensweisen zu finden, die es möglich machen, die Bedürfnisse aller Menschen mit den Bedürfnissen und dem Wohlbefinden der umfassenderen planetarischen Gemeinschaft und auch des Kosmos selbst in Einklang zu bringen.
Wir benutzen das Wort Befreiung für diesen Prozess der Veränderung. Bis jetzt wurde dieser Begriff entweder im personalen Sinne der spirituellen Verwirklichung oder im kollektiven Sinne für ein Volk benutzt, das sich aus unterdrückerischen politischen, wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Strukturen befreit. Bei unserer Verwendung dieses Begriffs sind beide Dimensionen mit einbezogen, aber gleichzeitig in einen weiteren ökologischen, ja sogar kosmologischen Kontext gestellt. Für uns ist Befreiung der Prozess in Richtung einer Welt, in der alle Menschen in Würde und in Harmonie mit der umfassenderen Gemeinschaft der Daseinsformen leben können, die Gaia, die lebendige Erde, bilden. Befreiung meint von daher, den schrecklichen Schaden wiedergutzumachen, den wir einander und der Erde zugefügt haben. Auf einer tieferen Ebene erkennt Befreiung die Fähigkeit der Menschen als schöpferische, das Leben fördernde Beteiligte an der weitergehenden Entwicklung Gaias.
Wir können Befreiung sogar innerhalb einer kosmischen Perspektive als den Prozess auffassen, im Verlauf dessen das Universum sein Potenzial zu verwirklichen versucht, indem es nach einem je höheren Grad an Ausdifferenzierung, Verinnerlichung (Interiorisation oder Selbstorganisation) und Gemeinschaft strebt. Innerhalb eines solchen Kontextes werden Menschen und Gesellschaften in dem Maße befreit, in dem sie:
– vielfältiger und komplexer werden und die Unterschiede wahrhaftig respektieren und freudig begrüßen;
– den Aspekt der Innerlichkeit und des