Befreite Schöpfung. Leonardo Boff
der Gemeinschaft und der Verwiesenheit aufeinander stärken, einschließlich ihrer Verbundenheit mit der umfassenderen planetarischen Gemeinschaft des Lebens.
Dieses Buch setzt mit der Frage ein: Wie geschieht Veränderung? Oder vielleicht etwas genauer: Warum ist es so schwierig, die Veränderungen auf den Weg zu bringen, die wir so dringend brauchen, um Gaia, die lebendige Gemeinschaft der Erde, deren Teil wir sind, zu retten? Ein wesentlicher Beitrag dieses Buches mag im Kontext bestehen, in den diese Frage eingeordnet wird. Hoffentlich kann unser Text als ein Ausgangspunkt für andere dienen, die nach neuen, schöpferischen Zugängen zu befreiender Veränderung suchen.
Was wir geschrieben haben, stellt den Zusammenfluss der Denkströme zweier Autoren dar. Einer davon kommt aus dem Süden, der andere aus dem Norden.3 Leonardo Boff ist wahrscheinlich vielen unserer Leser gut bekannt. Als Theologe hat er über Fragen der Befreiung und der Ökologie gründlich nachgedacht und darüber mehr als hundert Bücher publiziert. Viele Jahre lang hat er in seinem Heimatland Brasilien sowie in anderen lateinamerikanischen und europäischen Ländern Theologie gelehrt. Im Jahr 2001 hat er auch den Right Livelihood Award (auch als „alternativer Nobelpreis“ bekannt; d. Übers.) verliehen bekommen.
Mark Hathaway hat in den letzten zwanzig Jahren in der Erwachsenenbildung gearbeitet und sich dabei für die Themen Gerechtigkeit und Ökologie engagiert. Acht Jahre davon waren der Arbeit als Volkserzieher und Pastoralreferent in einer armen Nachbarschaftsgemeinschaft in Chiclayo, einer Stadt an der Nordküste Perus, gewidmet. Im Lauf der Jahre hat er Mathematik, Physik, Theologie, Schöpfungsspiritualität und Erwachsenenbildung studiert und in katholischen, ökumenischen und interreligiösen Initiativen für Gerechtigkeit und Ökologie gearbeitet. Zurzeit lebt er in Kanada, seinem Heimatland, wo er als Koordinator des Südamerika-Programms der Vereinigten Kirche Kanadas und als freischaffender „Ökologe“ arbeitet, der über die Zusammenhänge zwischen Ökologie, Wirtschaft, Kosmologie und Spiritualität forscht und schreibt.
Das ursprüngliche Herzstück dieses Buches bildete eine Abhandlung, die Mark für die Erlangung seines Magistertitels aus Erwachsenenbildung schrieb. Sie trug den Titel: „Verändernde Erziehung“. Während Leonardos Besuch in Toronto im Jahr 1996 bot sich für die beiden die Gelegenheit zur persönlichen Begegnung. Nachdem Leonardo die Abhandlung gelesen hatte, schlug er vor, in Zusammenarbeit ein Buch zu verfassen, das auch die lateinamerikanischen Perspektiven mit einbeziehe. Das vorliegende Buch ist das Ergebnis dieser gemeinsamen Anstrengung.
Zwei zentrale Bezugspunkte des Textes sind die vorrangige Option für die Armen und die vorrangige Option für die Erde. Wir betrachten diese beiden Optionen als grundlegend miteinander verknüpft: Dieselben Kräfte und Ideologien, die die Armen ausbeuten und ausgrenzen, zerstören auch die gesamte Lebensgemeinschaft auf der Erde. In diesem Buch gehen wir den Beziehungen zwischen den verschiedenen Faktoren nach, die eine echte Veränderung behindern. Gleichzeitig bemühen wir uns um ein besseres Verständnis dessen, wie sich Veränderung in der Welt auf natürliche Weise vollzieht. Zusammengenommen können diese Einsichten als Leitfaden für diejenigen dienen, die um lebenfördernde Veränderungen kämpfen.
Wir haben uns von einem breiten Spektrum von Perspektiven und Einsichten inspirieren lassen. Diese stammen von vielen unterschiedlichen Personen und spirituellen Traditionen, und wir empfinden all denen gegenüber große Dankbarkeit, die ihre Weisheit mit uns geteilt haben. Wir hoffen, dass diese Fäden im Verlauf des Schreibens zu einem Wandteppich zusammengeknüpft werden, der klar und voller lebendiger Farben zugleich ist. In vieler Hinsicht stellt dieses Unterfangen eine Herausforderung dar. Wir haben uns eher für die Weite der Vision und nicht so sehr für eine engere und gründlichere Analyse der einzelnen Teile entschieden. Damit hoffen wir, den Lesern Dimensionen zu erschließen, die sie selber tiefer erkunden können.
Die Art und Weise, wie der Text zustande kam, möchten wir mit dem Bild der Spirale zum Ausdruck bringen. Zeitweise wird es ohne Zweifel so scheinen, als ob dieselben Themen wieder aufgegriffen würden, doch von einer anderen Perspektive aus. Wenn wir dem Weg der Spirale tiefer folgen, werden es uns diese unterschiedlichen Perspektiven ermöglichen, das Ganze zu erfassen, das größer ist als die Summe seiner Teile, das gewebte Bild, das sich nur zeigt, wenn wir einen Schritt zurücktreten und von einer Analyse einzelner Fäden aus der Nähe Abstand nehmen. Wir hoffen, dass sie dabei das Strömen und die Textur des Tao der Befreiung auf einer tiefen Ebene der Intuition erspüren werden, wo seine geheimnisvolle Weisheit ihr Handeln im Kampf für die Erneuerung der Welt leiten möge.
2 Die Definition des Tao beziehen wir von Dreher 1990; Heider 1986; Feng und English 1989 sowie Star 2001.
3 Im Verlauf dieses Buches werden wir oftmals den Ausdruck „Norden“ (oder der „globale Norden“) benutzen, um damit die überentwickelten Gesellschaften mit einem hohen Konsumniveau anzusprechen, die vorwiegend im Norden zu finden sind, und „Süden“ (bzw. „globaler Süden“) meint dann entsprechend die armgemachten Gesellschaften, wie sie vorwiegend im Süden zu finden sind, besonders in den tropischen und subtropischen Breiten des Globus.
1. In einer Zeit der Krise nach Weisheit streben
Wenn die Besten unter denen,
die nach Weisheit streben, vom Tao hören,
dann geben sie sich sofort Mühe, es zu verwirklichen.
Wenn durchschnittliche Weisheitssucher vom Tao hören,
dann folgen sie ihm zuweilen, und zuweilen vergessen sie es wieder.
Wenn Weisheitssucher ohne Verstand vom Tao hören,
dann lachen sie lauthals.
Lachten sie nicht,
dann wäre es nicht das Tao.
Darum heißt es:
Der Weg im Licht erscheint dunkel,
der Pfad, der nach vorn führt, scheint rückwärts zu laufen,
der gerade Weg scheint krumm zu sein,
die größte Kraft erscheint schwach,
die echteste Reinheit scheint beschmutzt,
wahrer Überfluss scheint nicht genug zu sein,
auf echte Standhaftigkeit scheint kein Verlass zu sein.
Der weiteste Raum kann nicht ausgefüllt werden,
das größte Talent braucht lange, um zu reifen,
der höchste Ton ist schwer zu hören,
die vollkommene Gestalt kann nicht leibhaftig werden.
Das Tao ist nirgends zu finden.
Und doch ernährt es alle Dinge und führt sie ihrer Erfüllung zu.
(Tao Te King § 41)
Heute stehen wir wahrscheinlich vor der wichtigsten Entscheidung in der Geschichte der Menschheit und wahrhaftig auch der Erde selbst. Die sich gegenseitig verstärkenden Entwicklungen einer wachsenden Armut und einer sich beschleunigenden Verschlechterung der ökologischen Bedingungen verursachen einen heftigen Strudel der Verzweiflung und Zerstörung, aus dem zu entrinnen zunehmend schwerer wird. Wenn es uns nicht gelingt, energisch, rasch und weise genug zu handeln, dann werden wir uns bald zu einer Zukunft verdammt sehen, in der die Möglichkeiten für ein sinnvolles, hoffnungserfülltes und schönes Leben in starkem Maß dahingeschwunden sind.
Für die Mehrzahl der Menschen, die sich an den Rändern der Weltwirtschaft abmühen, scheint sich das Leben bereits jetzt am Rand des Absturzes zu bewegen. Jedes Jahr nimmt die Kluft zwischen Arm und Reich noch stärker zu. In einer Welt, in der die Illusionen einer Konsumgesellschaft feilgeboten werden, müssen die meisten einen harten Kampf bestehen, nur um das erforderliche Minimum zum Überleben zu bekommen. Der Traum von einem einfachen, aber dennoch würdevollen Leben bleibt dauerhaft kaum erreichbar. Für viele wird das Leben Jahr für Jahr schwieriger.