Das perfekte Wirtshaus. Jürgen Roth

Das perfekte Wirtshaus - Jürgen Roth


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Dieser Keramikkrempel und kunsthandwerkliche Schrott, dieses Überdeckungsgewese … Die Wucht der Patina ist wichtig. Die Bänke müssen alt sein. Das ist ein Wohlfühlfaktor, den man spürt. Außerdem darf keine Musik laufen, genauso, wie in einer guten Kneipe die Möbelhausfarbkombination Pink und Türkis nicht vorkommt.

      Lenz: Hut ab, Achim! Hervorragende Beobachtung! Darüber hinaus muß es mittags losgehen, es muß sich langsam steigern. Wenn man eine Kneipe erst um siebzehn Uhr aufmacht, ist alles zu spät.

      Greser: Kneipen, die zwischen halb drei und halb sechs schließen, sind Kneipen, die außerhalb der Kategorie des Wohlfühlfaktors liegen.

      Der Schlappeseppel ist auch eine lichte Kneipe, keine Kaschemme.

      Greser: Weil, wie es sich gehört, beim Bau am richtigen Ort der Sonnenverlauf mitbedacht wurde. Es ist ja auch ein Merkmal des Verschwindens der Kneipenkultur, daß man meint, Kneipe könnte überall sein. Man kann zum Beispiel in die Garage Bierbänke stellen. Aber das ist viel zu kurz gedacht. Das is’ nix. Das ist dumm. Das ist Bezirksliga. Das hier ist Champions League.

      Lenz: Wenn das Licht wie hier auf mein Bier fällt, dann geht mir das Herz auf.

      Greser: Das ist der theologische Aspekt der Kneipe – einen Platz zu finden, an dem man mit sich völlig im reinen ist und seinen Gedanken freien Lauf lassen kann. Das ist noch Abendland!

      Lenz: Ich bin dem Herrgott dankbar, daß ich nicht im Islam aufgewachsen bin und in Teestuben rumhocken muß.

      Hinter den Steinen

      Es ist nicht leicht in Miltenberg am Main. Wo soll man hin? Die kleine, alte Stadt, für deren wie aus einem Baukasten für überzeitliche Fachwerkharmonie zusammengefügten Marktplatz mit dem berühmten Steinbogendurchgang hinauf zur Burg, dem Schnatterloch, sogar Adorno ein paar lobende Worte übrig hatte, dieses im Fremdenverkehrsjargon zur »Perle« ernannte Städtlein hält einen auf Trab, trotz der allerkürzesten Wege im überwiegend beschatteten Altstadtbereich.

      Wo soll man hin? In den Riesen? Jene ehemalige Fürstenherberge, die als ältestes Wirtshaus Deutschlands firmiert und in deren hoher Schwemmenhalle man auf der dunklen, umlaufenden Holzbank das geschätzte Faust-Bier trinkt? Oder in westlicher Richtung die Hauptstraße, die Achsengasse, hinunter, um in der unerbittlich gemütlichen Créperie des politischen Universaldenkers Karl-Heinz Jalufka Seit’ an Seit’ mit den Herren Ramazan, Neubert und Scherer-Wolfgang zu Pfannkuchen mit hausgemachtem Zwetschgenmus das eine oder andere Faust- oder Kalt-Loch-Bräu umzuochsen? Oder vorher erst rasch noch in den wunderbar anheimelnden Hof des Museums am besagten und besungenen Marktplatz, wo die »Stadt aus Holz« Gebäudlichkeiten aus dem 14. Jahrhundert, das grandiose Weinhaus am Markt inklusive polygonem Erker und eine höchst geheimnisvoll erbaute Sandsteinkirche herzeigt? Oder, vierzig Meter retour, doch gleich und den ganzen Tag lang in die Brauerei Kalt-Loch, das Traumpendant zum Jalufkaschen Hammeretablissement?

      Ohne irgend jemandem Unrecht zu tun – das darf wohl vorderhand am nachdrücklichsten angeraten sein. Drei bis vier fränkische Mahlzeiten wären da, startend, sagen wir, um 11.37 Uhr, im ein wenig zu putzig benamsten Bräustüble mit der nötigen, heutzutage so verachteten Langsamkeit zu verräumen. Zum Auftakt böte sich der Spessarträuberspieß an, gegen 15 Uhr käme die Schweinshaxe mit Semmelknödeln dran, und um den frühen Abend herum würden die mit Bergkäse überbackenen Lendchen aufgefahren, im Herbst wahlweise mehrere Gänse. Für den Nachtisch, gebongt, alright, d’accord, steht Nachbar Jalufka gerade.

      Daß »der Tourismus die Gaststätten versaut«, weiß Kalt-Loch-Brauer Axel Schohe nur zu genau. Die Braustube ist von den Umbauunheiltendenzen der letzten Jahre verschont geblieben. Die Decke zieren Sandsteinbögen, die Tische sind Tische, die Tische sind: groß, schmucklos, blank.

      Vernunft heute bemißt sich bisweilen daran, den grunddummen Geist der Zeit einfach nicht mal zu ignorieren. Dieselbe Ratio prägt die hier verfertigten Biere. Die Sudpfanne wird noch mit Holz befeuert, es wird offen vergoren, und die intermahlzeitliche Getränkezufuhrerörterung schwankt alsdann inflammiert zwischen dem Hopfengeniestreich Schloß-Pils, dem zierlich gemalzten und perfekt komponierten, vereinzelt bis in den Frankfurter Raum vorgedrungenen dunklen Landbier oder dem ganzjährig in die Runde spendierten Doppelbock. Hinter diesen Steinen können sie brauen, im emphatischen Sinn – leider lediglich 4.000 hl pro Jahr.

      Hinter den Innenhofmauern des verschachtelten Kalt-Loch-Gebäudes verbirgt sich auch die älteste, um 1290, keine sechzig Jahre nach der ersten urkundlichen Erwähnung der Stadt entstandene Synagoge Deutschlands. Im Zentrum der damaligen »Judenstadt«, des heutigen Schwarzviertels, gelegen, diente sie bis 1429, bis zur ersten Vertreibung der Juden aus Miltenberg, als religiöses und soziales Zentrum. Zu besichtigen sind noch das Deckenrippengewölbe und die Spitzfenster. 1877 kaufte die seit 1580 bestehende Brauerei das Gebäude, man zog eine Zwischendecke ein und lagerte hier fortan Hopfen und Malz, während die Kultusgemeinde eine neue Synagoge hinter dem Riesen errichtete. Der dritte Synagogenbau wurde 1938 geschändet und zerstört, 1942 wurden die letzten beiden jüdischen Mitbürgerinnen nach Theresienstadt deportiert.

      Hier und jetzt wandeln die Miltenberger übers Kopfsteinpflaster der Hauptstraße. »Sonne in dieser Straße, und wir sind in Italien«, murmelt ein Mann, und das wäre wirklich zu schön, um wirklich und wahr zu sein.

      Gottesgegenbeweise

      Co-Autor: Michael Tetzlaff

      Ein Gott, der zuläßt, daß Männer so sitzen, daß man die hinter ihnen sitzenden blonden, brünetten und schwatten Frauen nicht sieht; der zuläßt, daß dann, wenn die Männer aufstehen, die Frauen, die man nicht hatte sehen können, nicht mehr dasitzen, weil sie inzwischen gegangen sind, und statt dessen dort nur noch Männer, andere, sitzen; ein Gott, der zuläßt, daß der Tisch, der Marmortisch, an dem man sitzt, so dunkelbraun, rot und ocker gemustert ist, daß man glaubt, man sitze an einer Platte Blutwurst, Preßsack und gekochten Schinkens; ein Gott, der zuläßt, daß man anstelle von »Frische Muscheln« »Falsche Muscheln« liest, diese bestellt und dann auch noch falsche Muscheln bekommt; ein Gott, der zuläßt, daß ein Kalender, auf dem die göttlichste Helena aller Zeitalter abgebildet ist, dreißig Euro kostet, man sich ihn beziehungsweise sie daher nicht leisten kann und deshalb nichts mehr hofft, als daß der Preis des Kalenders reduziert werde; der zuläßt, daß ebendieser höllische Kalender nach Monaten dann plötzlich elf Euro kostet und man aber jetzt komplett pleite ist und sich Helena noch weniger leisten kann als je zuvor; ein Gott, der dies und das alles zuläßt, kann nicht sein, darf nicht sein und hat vor allem so oder so von seinem blödesten Geschöpf keine Ahnung.

      Denn so glaubt doch kein Mensch.

      Kein Ruhetag, keine Ferien

      Auf dem Staffelberg, dem heiligen Berg der Franken, zu stehen und hinab ins Maintal zu schauen, auf Lichtenfels und Staffelstein, auf das Kloster Banz auf der anderen Flußseite und, in nordöstlicher Richtung, auf die Basilika Vierzehnheiligen – das stimmt heiter. Noch beflügelter fühlt man sich nach einer kurzen Wanderung hinüber nach Vierzehnheiligen, wo nicht nur ein enervierender touristischer Auftrieb rund um einen kirmesartigen Wallfahrtsnippeshandel herrscht, sondern in der Schankstube der Alten Klosterbrauerei ein segensreicher Rettich und der glorios malzige Nothelfer Trunk serviert werden.

      Den Weg dorthin und zu anderen Kleinoden der Kultur und Natur zwischen Fichtelgebirge und Altmühltal weist Helmut Herrmanns Buch Biergartenwanderungen in Franken (Bamberg 2003). Herrmann beschreibt detailliert zwanzig Routen mit Gehzeiten von drei bis fünf Stunden. Jeder Abzweig ist verzeichnet, und erfreulicherweise umschifft Herrmann geschmackssicher dräuende Tücken wie Schäffbräu in Treuchtlingen oder die Nürnberg-Fürther Tucher-Dynastie.

      Herrmann macht aus seiner Begeisterung für die stillen, baumbeschatteten Biergärten genausowenig einen Hehl wie aus seinem Abscheu vor »Allerweltsküche und Großbrauereibier«. »Als ideal anzusehen ist es, wenn der Wirt selbst schlachtet und wurstet, braut, Brot bäckt, Schnaps brennt und Butter


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