Tales of Beatnik Glory, Band I (Deutsche Edition). Ed Sanders
hatte, und von dem schlaflosen Morgen danach mit den plötzlichen Energieausbrüchen, die er dazu benutzt hatte, endlich die Anfangszeilen von »Out of the Cradle Endlessly Rocking« auswendig zu lernen. Das Beste wäre wohl, rauszugehen und ein wenig frische Luft zu schnappen. Kurz darauf schlenderte er die Vierte Straße entlang in Richtung Tompkins Square Park. Irgendwo unterwegs lief ihm dann Scoobie über den Weg und überredete ihn, mit rüber zur West Side zu kommen, wo sie bei J. A. was zu futtern abstauben könnten. Das J. A. am Sheridan Square war damals eine ziemlich populäre Schnorrerkneipe, da, wo heute die Prudential Savings Bank steht. Beide hatten den weitausholenden, eiligen Hipstergang ihrer Epoche drauf; es war schon fast im Laufschritt, wie sie jetzt nebeneinander über die kurzgeschorene Wiese marschierten, die East und West Side voneinander trennte.
Als sie am Sheridan Square an einer Buchhandlung vorbeikamen, drückte jemand Sam ein Flugblatt in die Hand, das zu einem Protestmarsch gegen Chessmans Hinrichtung aufrief. Er sollte am nächsten Tag stattfinden, vom Columbus Circle bis hinunter zum Washington Park führen und schließlich mit einer Massenkundgebung an der Judson Memorial Church enden.
Sam ließ das Flugblatt sinken. Scoobie stand dicht neben ihm und blies ihm auf dem Trichter einer eng zusammengerollten Zeitung ein kompliziertes Solo ins Ohr. »Also weißt du, Scoob — ich glaube, wir sollten morgen für Chessman mitmarschieren.« Und damit stopfte er sich das Flugblatt in die Tasche.
Jahrelang hatte er über den Fall Chessman gelesen. Und nach Hunderten von Zeitungsartikeln und Radioreportagen war es immer noch ziemlich schwierig rauszukriegen, was Chessman denn nun eigentlich verbrochen hatte und warum man ihm mit aller Macht diesen letzten Atemzug verpassen wollte. Es war ungefähr so, als wenn man in den fünfziger Jahren versuchen wollte, durch das Studium des Arizona Republic rauszufinden, was Robert Oppenheimer denn nun exakt getan hatte, um seine politische Glaubwürdigkeit zu verlieren.
In Chessmans Fall steckten die Zeitungen voller mysteriöser Contra-naturam-Andeutungen, lauter Geschwafel über die »unmenschlichen Akte«, zu denen der Red Light Bandit seine Opfer gezwungen haben sollte. Eine ganze Menge hatte mit dieser Tante zu tun, die später in der Irrenanstalt landete, angeblich weil Chessmans Perversionen sie in geistige Umnachtung gestürzt hatten.
Chessman war nach einem Gesetz zum Tode verurteilt worden, das während der zwölf Jahre, die er in der Todeszelle verbracht hatte, abgeschafft worden war, und deshalb, so folgerte Sam, sollte er jetzt im Namen einer reinen Halluzination vergast werden. War es denn tatsächlich möglich, dass der Staat Kalifornien Hunderte und Tausende von Dollar zum Fenster rauswarf, um ein Todesurteil zu vollstrecken, das man ihm damals verpasst hatte, bloß weil er dieses durchgedrehte Weibsbild gezwungen hatte, ihm einen abzukauen?
Ein weltweiter Sturm der Entrüstung erhob sich gegen die bevorstehende Hinrichtung. Der Papst war außer sich. Die ausländische Presse tobte. Tausende von Briefen und Petitionen setzten die kalifornische Regierung unter Druck und protestierten gegen diese kleine achteckige Gaskammer aus Metall. Andererseits war die Meinung von Sams Schwager wiederum typisch für die meisten Pseudoliberalen von New York: »Tja ... sicher sollte die Todesstrafe abgeschafft werden. Das steht ganz außer Frage. Allerdings muss man sich aber auch mal klar darüber werden, dass Chessman nicht zum Testfall für die Abschaffung werden darf. Chessman ist ein Atheist. Ein Unhold!«
Aber die Hoffnung lässt sich nicht so leicht unterkriegen. Am selben Nachmittag, als Sam und Scoobie von der Lower East Side zum Sheridan Square rübergingen, um sich was zu essen zu besorgen, hatte drüben an der Westküste Stuart L. Daniels in der Todeszelle eine Unterredung mit dem Autor. Daniels war der Verleger von Prentice Hall, wo Chessman seine erfolgreichen Bücher publiziert hatte. Als die Reporter den Verleger nach der Besprechung über den Inhalt des Gesprächs ausfragten, erzählte Daniels ihnen: »Ob Sie es glauben oder nicht, meine Herren, er wollte mit mir über seine zukünftigen schriftstellerischen Projekte sprechen.«
1960 war Wahljahr und garantiert nicht die rechte Zeit, in der Öffentlichkeit Gnade an irgendeinem angeblichen Red Light Bandit walten zu lassen. Anfang April hatte beispielsweise der Verband der amerikanisch-hebräischen Gemeinden jene sieben Männer angeschrieben, die in der Presse am Häufigsten als mögliche Präsidentschaftskandidaten genannt wurden und nach ihrer Einstellung zur Todesstrafe befragt. Richard Nixon hatte geantwortet, dass er die Todesstrafe für Kidnapper befürworte: »Selbstverständlich machen wir uns Gedanken über das Schicksal von Kriminellen, die wir gefasst haben. Aber noch mehr liegt uns die Sicherheit der unschuldigen Bürger am Herzen, die derartigen Verbrechern schutzlos ausgeliefert wären, wenn wir dieses abschreckende Mittel nicht hätten.«
Am nächsten Morgen wälzte Sam sich gerade noch rechtzeitig aus dem Bett und fuhr mit der U-Bahn bis zum Columbus Circle, dem Startort des Chessman-Marsches. Sam hätte es nie im Leben für möglich gehalten, dass ausgerechnet er sich jemals an einem Protestmarsch beteiligen würde. Aber nun wurde mit von dem unaussprechlichen Drang erfüllt, weiter zu marschieren, weiter zu singen und zu protestieren. Hier endlich bot sich eine Gelegenheit, es den Scheißkerlen heimzuzahlen, die alles kaputtgemacht hatten. Die Transparente waren deutlicher und klarer als alle anderen, die Sam je gesehen hatte. SCHAFFT DIE TODESSTRAFE AB, forderten sie, RETTET CHESSMAN und LEGALER MORD BLEIBT MORD.
Ein Lastwagen mit der Pappmaché-Imitation einer Gaskammer führte den Zug der empörten und aufgebrachten Demonstranten an, die um zwei Uhr nachmittags die Neunundfünfzigste Straße entlang marschierten. Vorbei an den stinkvornehmen Hotels, wo im Plaza die feinen Herrschaften der Gesellschaft die Serviette zum Mund führten und sprachlos auf die Protestler hinunter gafften. Sie winkten ihnen zu: »Kommt runter und macht mit!« schrien sie. »Kommt mit uns!«
An der Fünften Avenue bog der Zug nach rechts ab, und dann begann ein dreistündiger Trott die Avenue hinunter, einundfünfzig Blocks weit, bis zum Washington Square, wo Norman Thomas und Elaine de Kooning zu der Menschenmenge sprachen, die sich an der Judson Memorial Church versammelt hatte.
Für den jungen Sam bedeutete dieser Marsch das erste Aufflackern von Solidarität. Zum ersten Mal erlebte er das Gefühl, seine Wut mit den anderen, die sich vor den Barrikaden aufgestellt hatten, zu teilen. Noch ahnte er nichts von den Schrecken der Barrikaden, die die sechziger Jahre für ihn bereithielten, diesen grauen Mauern, die er noch so oft verhöhnen und gegen die er noch so oft blindlings anrennen sollte.
Der Samstagabend verflog für Sam in einer Orgie von Hasch und endlosen Diskussionen in den Kneipen und Bistros des Village. Am Sonntag, dem 1. Mai 1960, passierte nichts Besonderes. Die Berichterstattung über Chessman lief auf vollen Touren. Auf allen Frequenzen wurde Sam mit den neuesten Meldungen über ihn bombardiert. Sie hörten einfach nicht auf. Sam war nervös und spürte zum ersten Mal den stechenden Schmerz der Frustration, wenn man einsehen muss, dass aller Protest gegen die korrupte Gesellschaft zwecklos ist. Er fühlte sich so elend, als ob der gesamte Kontinent zur Gaskammer verurteilt wäre.
Drüben in Kalifornien gab Chessman eine Pressekonferenz und meinte, seine Aussichten stünden Fifty-fifty. Und für den Fall, dass es schiefgehen sollte, kündigte er an: »Dann geh ich halt rein, hock mich auf meinen Stuhl und warte auf das Ende!«
Ebenfalls am Sonntag fuhr der Bürgerrechts-Anwalt A. L. Wirin zu Kaliforniens Gouverneur Brown und verhandelte mit ihm über eine nochmalige Aussetzung der Urteilsvollstreckung. Er begründete seinen Antrag mit der bevorstehenden Wahl eines neuen Richters für das Bundesgericht von Kalifornien, der am ersten Juni vereidigt werden sollte — möglicherweise könnte ein neuer Richter an den Drei-zu-Vier-Abstimmungen was ändern, die nun schon dreimal Chessmans verschiedene Gnadengesuche abgeschmettert hatten.
Auch Bischof James A. Pike sprach bei Gouverneur Brown vor und bat um Gnade für Chessman, aber Brown blieb ungerührt und ließ beide eiskalt abblitzen.
Steve Allen, Marlon Brando, Shirley McLaine, Eugene Burdock und Richard Drinnon — sie alle fuhren an diesem Tag hinüber nach Sacramento und forderten Brown auf, die Aussetzung bis zum kommenden November zu verlängern, wenn die Nation selbst über die Frage der Todesstrafe entscheiden sollte. Brown antwortete, dass er mit einem solchen Aufschub nicht nur seine Amtsgewalt missbrauchen, sondern auch sein Gewissen vergewaltigen müsste. Nach seiner Absage machten Chessmans Anwälte eine kurze Verschnaufpause und schickten dann