Deep Purple. Jürgen Roth
drei Monaten in den USA wieder britischen Boden betreten, ist ihre Zukunft so wolkenverhangen wie der Himmel über Heathrow. Aber zum Grübeln (Ritchie Blackmores Stärke) oder gar Diskutieren (nicht Ritchie Blackmores Stärke) bleibt keine Zeit. Noch am Vormittag steht ein Phototermin auf dem Dach des Dorchester-Hotels an, um die Verlobungen von Jon Lord (die erste) und Ritchie Blackmore (die zweite) pressetauglich zu verwursten. Dann – das letzte ist ja schon wieder fast drei Monate alt – wird ein neues Album geplant, das diesmal aber, so will es Herr Blackmore, unter etwas anderen Voraussetzungen entstehen und damit auch eine andere Wirkung erzeugen soll.
Was ihn vor allem stört, ist, daß der britische Musikkonsument und der britische Musikkritiker Deep Purple als nicht ernstzunehmendes Popprojekt betrachten, als ein monkeesmäßig zusammengestelltes Unternehmen zur Erzeugung von Hitsingles mittels Coverversionen im Stil von Vanilla Fudge, ohne musikalische und philosophische Tiefe – eine, wie der Extrommler Bobby Woodman schon bei den ersten Proben gemeint hat, „Zirkusband“. Es nervt Blackmore, daß der allgemeine Konsens vorschreibt, zur Erlangung von Anspruch und Gültigkeit seien eine Blues-Verwurzelung unabdingbar und Hitsingles nicht mehr wegzuoperierende Stigmata. Und nicht zuletzt nervt es ihn, daß Rod Evans als Koautor der von Jon Lord komponierten „Hush“-B-Seite „One More Rainy Day“ ein Heidengeld verdient hat. „Alles, was Rod tut, ist: ein paar verdammte Wörter schreiben“, beschwert er sich bei Nick Simper, der schlagfertig antwortet: „Jeder Depp kann ein Gitarrenriff erfinden. Versuch du mal, einen sinnvollen Text zu schreiben.“
Am 7. Januar entstehen im De-Lane-Lea-Studio zwei neue Songs, die A- und B-Seite der nächsten Single füllen sollen, und beide sind Blackmore/Lord-Kompositionen, betextet von Rod Evans: „Emmaretta“, ein Wah-Wah-gesättigter Riff-Rock-Schlager, angeblich einer Darstellerin aus dem Musical Hair gewidmet, und das unzweifelhaft „progressive“, dabei aber psychedelisch melodiöse „The Bird Has Flown“, das im Titel ein letztes Mal auf die Beatles anspielt. Beide Nummern zeigen eine erstaunliche Bemühung um Weiterentwicklung und eine ebenso erstaunliche Reife. Zwar erinnert das Arrangement von „Emmaretta“ vage an „Hush“, aber unüberhörbar ist, daß die Band nun zumindest dabei ist, sich spielerisch zu finden. Zukünftige Ohren werden außerdem bemerken, daß Rod Evans seine Elvis-Presley-Manierismen und Jim-Morrison-Posen weitgehend abgelegt hat und, so gut er eben kann, „rockig“ singt. Er wirkt streckenweise souverän, stellenweise aber auch überfordert, was Ritchie Blackmore, der inzwischen das im Januar erschienene Debütalbum von Led Zeppelin gehört und sich ein paar Gedanken gemacht hat, nicht entgeht. Das instrumentale Niveau der Musiker sei „unbestreitbar hoch“, meint der Kritiker des New Musical Express in der Ausgabe vom 22. Februar über den Song, hebt außerdem die „beseelte Solostimme“, Blackmores „verblüffende, beeindruckende Gitarrenarbeit“ und das „donnernde Schlagzeug“ hervor, schließt jedoch: „Der ungeschliffenen Lebendigkeit von Deep Purple kann man schwer widerstehen. Aber das Material ist in keiner Hinsicht herausragend, daher habe ich für die Platte nicht allzuviel Hoffnung.“
Evans’ Bemühungen um ein glaubwürdiges Auftreten als ernsthafter Rockmusiker werden möglicherweise dadurch gedämpft, daß er in den USA eine sehr wohlhabende Dame kennengelernt hat, deren Einladung zu einem gemeinsamen Leben in Saus und Braus einen demotivierenden Kontrast zur harten Basisarbeit im winterlichen Großbritannien bildet. Wie hart diese Arbeit ist und sein wird, deutet Jon Lord in einem Interview mit der Zeitschrift Disc an: „Ich denke, man kann uns sehr wohl als Underground-Gruppe einordnen, aber weil wir Hits gehabt haben, schauen die britischen Underground-Fans auf uns herab. Es ist unser oberstes Ziel, es hier zu schaffen, und der Kampf um Anerkennung ist auf seltsame Weise sehr aufregend. In allererster Linie haben wir Großbritannien im Blick. Wir sehen uns als eine Art Brücke zwischen dem Underground und den Charts. Die wahren Superstars kommen aus dem Underground.“ Dafür nimmt man auch finanzielle Einbußen hin: Für ein gutes Dutzend Einzelauftritte an weitverstreuten Orten im Februar und März gibt es Gagen von je fünfzig bis einhundertfünfzig Pfund. „Wir sind wohl die einzige schizophrene Band, die es gibt“, sagt Jon Lord einem Interviewer. „In den Staaten kriegen wir für so einen Gig zweitausendfünfhundert Pfund!“ Dazwischen bleibt die Band nicht „on the road“, sondern fährt zum Teil gewaltige Strecken zurück nach London, um weiter am dritten Album zu arbeiten. Aber der Aufwand lohnt sich: Als Deep Purple zum Ende der Quer-und-Rundreise am 20. März im Londoner Musikbiz-Treffpunkt Speakeasy spielen, finden sie in der Hauptstadt erstmals ein wohlwollendes Echo. Dave Thompson zitiert einen Augenzeugen, der rückblickend feststellt, der Auftritt habe bewiesen, daß an Deep Purple doch mehr dran sei als die Fähigkeit, „ein bißchen Beethoven in einen Beatles-Song reinzuknallen und das als neues Arrangement zu bezeichnen“.
„Emmaretta“ erscheint im Februar in Großbritannien und damit erstmals früher als in den USA, allerdings mit dem alten Instrumental „Wring That Neck“ auf der B-Seite. Die Charts sieht die Single jedoch nur von außen. Am 18. März sind die Aufnahmen zum dritten Album praktisch im Kasten, es fehlen noch die Orchestersätze für „April“. Tetragrammaton will es gleichzeitig mit der Single im April zur Tournee veröffentlichen, die EMI hat derweil The Book Of Taliesyn erneut verschoben, auf Juli. Anfang April fliegen Deep Purple wieder in die USA, wo (wie das dort gelegentlich vorkommt) nichts mehr so ist, wie es war. Am Flughafen warten keine Limousinen, in den Läden steht kein Album, und die Erklärungen für die Verzögerung fließen nur spärlich. John Coletta, der die Band begleitet, erfährt, es habe Schwierigkeiten bei der Herstellung gegeben, aber die Busineßspatzen pfeifen von den Dächern, was wirklich los ist: Die Geldquelle der Firma, die mehr als zwei Millionen Dollar in aussichtslose Filmprojekte gepumpt hat und der es bislang nicht gelungen ist, mit irgendeinem ihrer Projekte auch nur die immensen Ausgaben wieder einzuspielen, tröpfelt bloß noch. Eigentlich sollen Deep Purple, bei denen Tetragrammaton auch schon mit ein paar tausend Pfund in der Kreide steht, diesmal die Rolling Stones „supporten“, die aber sagen ihre Tournee wegen der notorischen Probleme mit Brian Jones und diverser anderer Wirren ab, und damit haben Deep Purple acht Wochen Ochsentour ohne förderbares Verkaufsprodukt vor sich. Die Band ist außer sich, schon weil inzwischen die in Großbritannien ebenfalls höchstens mit Ignoranz bedachten Rivalen Led Zeppelin vorgemacht haben, wie es geht: Sie waren kurz zuvor, von Ende Dezember 1968 an, zum erstenmal in den USA unterwegs – und zwar ausgerechnet im Vorprogramm von Vanilla Fudge! Drei weitere Tourneen folgen im Lauf des Jahres, und im Mai wird das Debütalbum der „Virtuoso“-Band in den US-Top-10 landen (pop: „Virtuoso ist englisch und bedeutet soviel wie ‚vollendet perfekt‘. Virtuoso verkörpert auf den Deut genau, was bei der Musik von Led Zeppelin nicht hapert: Heavy, Feeling und Virtuoso“ – gibt es eigentlich keine Literaturpreise für derartiges?). Die Stimmung in den USA ist, nicht zuletzt dank Deep Purple, für britische Heavy-Musik so günstig wie nie, aber um daran teilzuhaben, muß man auch etwas anzubieten haben, und ohne neue Platte sind Deep Purple kaum mehr als irgendeine von Tausenden Bands, die kreuz und quer durch das riesige Land buckeln, namenlose Stinkkeller beschallen und in Jugendherbergen absteigen. Tatsächlich wird sogar erwogen, Manager Coletta nach Hause zu schicken, um seine Übernachtungskosten zu sparen.
Immerhin sorgt die Live-Routine dafür, daß die Band musikalisch – wie man so sagt – zu sich selbst findet. Dabei treten aber auch die bereits angedeuteten Probleme und Konflikte deutlich hervor. Ritchie Blackmores stärkere Hinwendung zu schweren Rockriffs ist auch eine Folge der Erkenntnis, daß für Deep Purple mit poppigen Singles wohl nichts mehr zu holen sein wird. Vor allem aber findet er Freude daran, sich mit Jon Lords Orgel und Ian Paices manischen Schlagzeugeruptionen auf der Bühne regelrechte Turniere zu liefern und dem Provinzpublikum, das nach wie vor den alten Hippie-Idealen von frei improvisierter Liebe und Musik anhängt, eine Alternative zum Blues-Gesumpfe und den eher sexuell orientierten Ekstaseposen von Led Zeppelin zu bieten.
Am 6. April im Fieldhouse in Edmonton spielen Deep Purple gemeinsam mit Vanilla Fudge, die sie nach wie vor bewundern, von deren Einflüssen sie sich aber inzwischen meilenweit entfernt haben. Die Zuhörer kommen hauptsächlich wegen Vanilla Fudge, was für Deep Purple eine ideale Ausgangsbasis ist: Am Ende trägt man sie nur deswegen nicht auf den Schultern im Triumphzug durch die Stadt, weil Sicherheitsmänner die Bühne bewachen und Vanilla Fudge ja auch noch spielen. Die zeigen ein größeres Herz als Cream; nach dem Auftritt leert man das im Garderobenkühlschrank verbliebene Bier gemeinsam und bleibt fortan gut befreundet. „Sie hielten uns für