Deep Purple. Jürgen Roth
war die Platte außerdem, von außen. Daß der Künstler und spätere Professor für Illustration an der Universität Brighton, der das Coverbild malte, zufällig John Vernon Lord hieß, sei nur am Rande erwähnt.
Daß Tetragrammaton eine junge, mit scheinbar unerschöpflichen Mengen Geld gedüngte Firma ist, erweist sich weiterhin als Glücksfall für die junge, mit scheinbar unerschöpflichem Arbeitseifer gesegnete Band. Der Tetragrammaton-Angestellte Jeff Wald, der die erste US-Tournee für Deep Purple gebucht hat und dabei gleich auch noch den Job des Tourmanagers und des Fahrers übernimmt, ist nur in einer seiner drei Professionen ein Ausfall. „Er war ein sehr schlechter Fahrer. Er hat die ganze Zeit Joints geraucht und war ständig dermaßen zugedröhnt, daß der Bus nur so durch die Gegend schlingerte“, erzählt Jon Lord. „Er wollte uns halt die Gegend zeigen. Einmal, als er gerade begeistert auf einen Berg deutete, hat uns Ian Paice das Leben gerettet, indem er das Lenkrad packte und rumriß und so einen Frontalzusammenstoß mit einem riesigen Laster verhinderte.“
Neben eigenen Headliner-Auftritten hat Wald einen perfekten Coup gelandet, um die Band nicht nur beim großen, sondern auch beim Underground-Publikum, das sie bislang als Hitfutter verschmäht oder gar nicht kennt, einzuführen: das Vorprogramm der Abschiedstournee von Cream, jener britischen „Supergroup“, die maßgeblich zur Popularisierung des Heavy Rock beigetragen hat, obwohl sie den Stil selbst nur sehr sporadisch spielt. Die ausufernden, virtuosen und immens lautverstärkten Blues-Improvisationen von Eric Clapton, Ginger Baker und Jack Bruce sind jedoch in mancherlei Hinsicht die Formatvorlage für jeden, der im Aufdrehen der „Volume“-Regler eine unabdingbare Voraussetzung für anständiges Rockschaffen sieht.
Der wesentliche Unterschied zwischen Cream und Deep Purple ist die erwähnte Blues-Orientierung. Einigermaßen kurz umrissen ist „Blues“ ein Sammelbegriff für Niedergeschlagenheit, Trübsal, Trauer, verletzten Stolz, gebrochenes Herz, Einsamkeit und andere Gefühlsregungen, die vor allem Männer vornehmlich dann übermannen, wenn sie vom Gegengeschlecht nicht so behandelt werden, wie es sich alter Sitte gemäß ziemt. Musikalisch umgesetzt werden sie in elegischen bis zornwütenden, gefühlsduseligen bis ehrlich rührenden, bisweilen mit- und hinreißenden, vornehmlich auf Gitarren und der Grundlage einer zwecks Sturmfreiheit der Improvisation unveränderlich festgeschriebenen Zwölftaktabfolge von drei Akkorden zelebrierten – eben: Improvisationen, bei denen es Sitte und Ziel ist, sich beiderseits der Grenze von Erzeuger und Rezipient „gehenzulassen“, um die Not zu lindern, und dorthin zu taumeln, schweben, gründeln, kriechen oder sich vorzukämpfen, wo die Vernunft nicht Einlaß findet und das „reine“ Gefühl regiert.
Wir ahnen, daß derlei mit Ritchie Blackmore nicht zu machen ist. Sogar Satan selbst, der sich nötigenfalls ja beschwören oder ähnliches ließe, fürchtet der nicht so sehr wie den Kontrollverlust als solchen, zumal vor Menschen. Außerdem ist ihm die Sache zu „begrenzt und beschränkt“; er mag sich solch starren Strukturen nicht fügen. Sein Verständnis von Improvisation ist ein gänzlich anderes. Wenn da ein Gefühl hineinspielen soll, so wird es gegebenenfalls erzeugt; alles weitere folgt einer musikchemischen Formel aus Übung, Witz, Architektur und Zirkuszaubertricks.
Doch ist die Improvisation für Deep Purple eine entscheidende, im Lauf ihres kurzen Bestehens (sechs Monate!) schon aufgrund von Eile, wenigstens punktueller Unerfahrenheit aller Beteiligten, Zeitdruck und generell mangelnder Planbarkeit derlei unerprobter Karriereverläufe prägende Vorgehensweise, die, wo sie schon mal da ist, auch musikalisch angewandt und umgesetzt wird und sich als erstaunlich fruchtbarer Nährboden erweisen wird. Was die Verbindung mit Cream darüber hinaus attraktiv macht, ist deren geglückte Verknüpfung von „kompakten“, radiotauglichen Pophits wie „Sunshine Of Your Love“ und „White Room“ mit Underground-Glaubwürdigkeit und der Autorität des Virtuosen. Da die Trennung des Trios bereits feststeht, scheint die Abschiedstournee die ideale Gelegenheit, sich als „Nachfolger“ zu etablieren – was selbstverständlich auch die darob zornschäumende Konkurrenz weiß, insbesondere die gerade erst richtig gegründeten New Yardbirds. Ritchie Blackmore allerdings – wer hätte es erwartet? – sieht die Sache ein bißchen nüchterner. „Ich mochte Cream ganz gern, aber mit Clapton konnte ich nie was anfangen“, sagt er ein paar Jahre später dem Magazin Music Scene. „Ich hatte eine ziemlich genaue Vorstellung davon, wie gut er sein müsse, und als ich ihn dann sah, war ich enttäuscht.“
Eigentlich sollen Deep Purple, beginnend mit dem 4. Oktober, alle neunzehn Konzerte der Cream-Tournee eröffnen, aber die Pläne werden mal wieder überstürzt geändert, als man bei Tetragrammaton feststellt, daß das aufgenommene Material für ein ganzes Album nicht reicht. Also wird ein weiterer Song gefordert, der möglichst auch gleich eine zweite Single (nach „Kentucky Woman“) liefern soll – „River Deep, Mountain High“. Am 15. Oktober 1968 trifft die Band endlich auf dem Flughafen von Los Angeles ein und tritt am 17. in der beliebten Fernsehshow The Dating Game auf, der seit 1965 und bis heute laufenden Vorlage für das deutsche Herzblatt – ein Novum, das sich der „multimedialen“ Verflechtung ihrer Plattenfirma verdankt. „Wir waren die erste Rockband überhaupt in der Show“, betont Jon Lord. „Einer von uns mußte bei dem Spiel mittun, und ich war nicht schnell genug aus der Schußlinie. Deep Purple sagten dem Mädel aus gutem Haus nicht allzuviel. Der erste Kandidat war ein Collegejunge aus Encino, dann kam ‚Jon, Musiker aus England‘. Eine Frage lautete: ‚Du holst mich zu Hause ab, und mein Vater ist an der Tür und sagt, du sollst dir die Haare schneiden lassen. Würdest du das für mich tun?‘ Ich sagte: ‚Auf keinen Fall! Wenn er und du mich nicht so mögen könnt, wie ich bin, habe ich da nichts verloren.‘ Ich war echt sauer, daß sie mich nicht gewählt hat, sie war sehr hübsch.“
Am Freitag, dem 18. Oktober, spielen Deep Purple ihr erstes Konzert auf amerikanischem Boden: im Inglewood Forum bei Los Angeles vor sechzehntausend Zuhörern (mittlerweile auf dem Album Inglewood – Live At The Forum nachzuhören). Zwei weitere Auftritte folgen: am Samstag am selben Ort, am Sonntag im Stadion von San Diego. John Coletta, Derek Lawrence und Ian Hansford begleiten die Band, die im Sunset Marquee Hotel am Sunset Boulevard untergebracht ist, und die nebelgewohnten, blassen Engländer staunen nicht nur über das kalifornische Klima, sondern auch über die Arbeitsatmosphäre in den Büros ihrer Plattenfirma am Rodeo Drive. „Es war unglaublich“, erinnert sich Derek Lawrence. „Die hatten da einen Vollzeitkoch, und wenn man morgens kam, konnte man fürs Mittagessen bestellen, was immer man wollte. Zweimal täglich kam ein Florist und wechselte in allen Räumen die Blumen. Und es wurden die seltsamsten Verträge geschlossen; da gab es zum Beispiel diese Sängerin, Elyse Weinberg, von der veröffentlichten sie fünf Singles am selben Tag.“
Inzwischen sind Deep Purple bei Tetragrammaton in besserer, wenn auch kontroverser Gesellschaft. Die von Capitol Records, dem US-Ableger der EMI, wegen des Nacktbilds auf dem Cover abgelehnte LP Two Virgins von John Lennon und Yoko Ono steht ebenfalls im Katalog. Aber auch mit mehr Klienten bleibt die Firma über das Branchenübliche hinaus spendabel. „Als wir ankamen, wartete eine ganze Kolonne von Limousinen auf uns“, erzählt Jon Lord. „Es war ein warmer Abend, überall Palmen – gegen unsere Absteigen im kalten England wirkte das wie das Paradies. Am ersten Abend waren wir auf eine Party eingeladen, im Penthouse des Playboy Club; da trafen wir Bill Cosby und Hugh Hefner, für den wir in der Fernsehshow Playboy After Dark auftraten. Ian Paice ist sehr kurzsichtig, aber er weigerte sich, eine Brille zu tragen, stolperte lieber besoffen herum und versuchte sich an Jackie De Shannon ranzumachen. Jim Brown, ein riesiger schwarzer Schauspieler und ehemaliger Footballspieler, sagte in einer sehr tiefen Stimme zu ihm: ‚Schieb ab, kleiner Mann!‘ Am nächsten Abend kündigte Artie Mogul an, er werde uns ein paar Frauen besorgen, und eins nach dem anderen kamen diese entzückenden Mädchen im Hotel an, führten uns zum Essen in Restaurants aus und brachten uns dann zurück ins Hotel zu gymnastischen Vorführungen. Wir konnten einfach nicht glauben, was uns da passierte. Wir wurden behandelt wie totale Superstars.“
Ein bißchen musizieren müssen die fünf Engländer im Paradies aber auch noch. Das Set – man ist ja offiziell nur „Anheizer“ – schrumpft um die Hälfte auf eine gute Dreiviertelstunde, verteilt sich – man hat sich ja weiterentwickelt – gleichmäßig auf beide Alben und – man ist ja dankbar – konzentriert sich vor allem auf die poppigeren Coverversionen, von denen sich die Plattenfirma weitere Erfolge erhofft. „Kentucky