Deep Purple. Jürgen Roth
(Harvest/EMI)
Die Verwirrung darüber, was für eine Art Band Deep Purple denn nun eigentlich sei, wurde und wird durch ihr zweites Album eher noch verstärkt. „Anfangs hatten wir ziemliche Schwierigkeiten zu beweisen, daß wir keine Teeny-Bopper-Band sind“, stellt Ritchie Blackmore später fest. Da kollidierte das Bemühen um hitparadenfähiges Popmaterial mit undergroundtypischem „Anspruch“, Heavy-Rock-Geboller mit Anglo-Folklore-Mystifizierung – man beachte den „Erklärungstext“ auf der Coverrückseite: „Taliesyn, Barde des märchenhaften Königs Arthur im schönen Camelot, wo er für Unterhaltung sorgte und die wechselnden Stimmungen am Hof einfing. The Book Of Taliesyn ist eine moderne Darstellung von sieben unterschiedlichen Gefühlen, wobei die Musiker Ritchie, Rod, Ian, Nicky und Jon die musikalischen Stimmungen umsetzen, unter der spirituellen Leitung von Taliesyn. Das ‚Buch‘ findet seinen Zweck nicht in sich selbst; es ist nur ein neues, erweitertes Glied in der Kette, die über das ursprüngliche Werk hinaus durch mächtige Ozeane ins unerforschte Reich unerhörter Musik führt, hier dargebracht als Teil der musikalischen Progression, die sich als Deep Purple entwickelt. Stellen Sie die höchste Lautstärke ein, und genießen Sie das sanfte Flüstern ihrer Seelen.“
Wem beim Lesen solcher Worte der Name Candice Night auf die Zunge gerutscht ist, der liegt vielleicht nicht ganz falsch. Man beachte aber auch, daß nach dem Science-fiction-Weltraum-Getue der mittleren sechziger Jahre nun insgesamt das Mittelalter als Anknüpfungspunkt und Vorlagenfundgrube zumindest in der britischen Popmusik groß im Schwange war. Zur gleichen Zeit, als Deep Purple sporadisch an ihrem zweiten Album arbeiteten, ging ein anderer zeitgenössischer „Barde“ namens Robert Plant daran, sich ebenfalls ein Stück vom Camelot-Mythos, nebst einigen Scheiben von anderen, weitaus verstiegeneren Überlieferungen, abzusäbeln und sie per Luftschiff zu den amerikanischen Massen zu transportieren. Daß er ein paar Wochen später dran war, wurmte ihn derart, daß er, wie wir noch hören werden, fürderhin nicht müde wurde, verbal auf die vermeintlichen Rivalen einzuhacken.
Das Tempo ist auch diesmal ein Problem, aber kein so großes mehr wie beim Debüt. Der von Rod Evans etwas arg salbungsvoll-verhallt dargebotene Opener „Listen, Learn, Read On“ ist merklich hastig zusammengestückelt, das Riff nicht wirklich originell, der Chorus etwas oft und unmotiviert dazwischengeschnitten, und es mag das Ganze auch einen Tick zu schnell gespielt sein. Indes ist das geglückte Bemühen um avancierteres, weniger derivatives Songwriting in diesem Fall nicht zu überhören. Der Text, ein vage historisierender Aufruf zur Beschäftigung mit dem Taliesyn-Mythos, könnte sich bei intensiverer Exegese als Hinweis auf ein Motiv von Blackmores Hingezogenheit zur seligen Vergangenheit erweisen: „In vergangenen Zeitaltern, als man Zaubersprüche sprach / In einer Zeit von Männern und Stahl / Wo ein Mann nichts Bestimmtes gelehrt wurde / Man alles nach Gefühl machte …“ Allerdings verliert Evans sein Thema dann zusehends aus den Augen und verrennt sich in Symbolschmeißerei und dunklen Andeutungen: „Ich werde euch größere Dienste erweisen als dreihundert Lachse.“ Mag jeder selbst grübeln, was das soll.
Es folgt „Wring That Neck“ – auf dringliches Beharren der Tetragrammaton-Verantwortlichen wurde das Blackmore/Simper-Instrumental fürs US-Publikum in „Hard Road“ umbenannt. Der Grund dafür ist nur zu ahnen: Möglicherweise wußte Artie Mogul nicht, daß man das lange Ding, das an einem Gitarrenkorpus dransteckt, „Hals“ nennt, und befürchtete eine indizierungsfähige Gewaltanregung. „Den Hals wringen“ bedeutete im Deep-Purple-Bandjargon aber nicht mehr als eine besonders intensive Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Griffbrett. Da möchte man meinen, aus Versehen den Kanal gewechselt zu haben, so gänzlich anders als der Song zuvor tönt das: wie eine düsentriebmäßig überdrehte Version eines James-Last-Fegers aus dem Sonntagnachmittagsprogramm, die im Grunde auch kein Song ist, sondern bloß eine kaum abgewandelte Variante des alten Blues-Schemas, zickig und unblau heruntergeklopft als Startbahn für Soloaktivitäten, bei denen sich – und das ist das einzig Erfreuliche an der ansonsten komplett überflüssigen Nummer – Ritchie Blackmore diesmal deutlich besser eingerichtet hat und wohler fühlt als auf Shades Of Deep Purple.
Jon Lord übrigens auch, das darf er bei Neil Diamonds „Kentucky Woman“ zeigen, das schwungvoll und rund daherrollt und in dem Rod Evans ein paar ziemlich gillaneske Krächzer losläßt. Da verwandelt sich die übereilte Rumpeligkeit in spürbare, aber unaufdringliche, ähem, Dringlichkeit. Um den Erfolg von „Hush“ zu wiederholen, fehlte der „guten Miss“ (pop, Februar 1969: „Die gute Miss hat Schwung und Rasse!“) die ohrwurmfähige Chorusmelodie, aber das macht einen Schlager nicht schlechter, bloß weniger wirksam.
Was „Prelude: Happiness“ auf Shades Of Deep Purple war, ist „Exposition“ auf diesem Album: eine pathetische, diesmal nicht ganz so belanglose, auf Tschaikowskys Romeo & Julia-Ouvertüre beruhende Einleitung in eine Coverversion. Die wiederum, „We Can Work It Out“ von den Beatles, ist von der Vorlage her eine Klasse besser als „I’m So Glad“ – aber leider gänzlich uninspiriert umgesetzt, wenn man nicht an den Haaren herbeiziehen möchte, daß die Begleitung zu Jon Lords Minisolo den Samen für „Highway Star“ enthält. Es mangelt dieser Interpretation nicht an Ideen, aber sie sind alle schlecht oder passen so wenig zusammen, als rührte man Schokolade, Waschpulver und Rasierklingen in einen Topf. Vielleicht war ganz einfach der Schatten der „Exposition“ zu schwer und dunkel, um sich aus ihm zu erheben, vielleicht wäre es auch die bessere Wahl gewesen, die nie im Studio eingespielte, live und für die BBC-Sendung Top Gear aber recht anständig reproduzierte Ben-E.-King-Nummer „It’s All Over“ an die Stelle einer erneuten Beatles-Anknüpfung zu setzen.
Da möchte man schon aufgeben, würde dann aber Wichtiges verpassen: „Shield“ nämlich, einen wunderschönen Song mit geklauter, aber geschickt montierter Hookline, unaufdringlich einfühlsamer Semisoloarbeit, in dem die Band nun endlich zeigt, daß sie tatsächlich eine Band ist oder wenigstens werden könnte. Im ausgedehnten Mittelteil, getragen von synkopischer „Pferdehuf“-Klapper-Percussion, läßt Ritchie Blackmore die Luft aus seinen Fingern, bespannt sie mit Daunenfedern und gleitet in einen mäandernden Melodiefluß hinein, der eigentlich das Album allein schon wert wäre. Mit „Anthem“ folgt aber noch ein dritter eigener und „richtiger“ Song, der ein Mellotron vorführt und ein bißchen die Doo-wop-Romantik der fünfziger Jahre herbeizitiert, das aber gesanglich so behutsam und perfekt tut, daß man sich gar nicht gern von der plötzlich hereinplatzenden Streicher-Gitarre-Sektion unterbrechen läßt. Doch löst sich diese unpeinlich, überzeugend und ohne Spektakel und Firlefanz wiederum in den Song selbst auf. Da ist man baff bei soviel Geschick und Gespür in Komposition, Arrangement und Interpretation und war es noch mehr bei Erscheinen der Platte.
Über die Deep-Purple-Version von „River Deep, Mountain High“ schließlich ist viel Abfälliges gesagt und geschrieben worden, so viel in der Tat, daß man sich beim Hören und Wiederhören wundert. Freilich muß hier Pathos her, bis hin zum augenzwinkernden „Also sprach Zarathustra“-Zitat, weil die LP sonst nach dem dynamischen Seiltanz von „Shield“ und „Anthem“ mit einem großen Furz in den Graben geritten würde. Aber von den aufgeblasenen, viel zu weit nach vorn und oben gemischten Hallchören abgesehen, die Ian Paice vergeblich zu zertrümmern versucht, fetzt das nach der spannenden Einleitung doch recht ordentlich. Man sollte halt unbedingt vermeiden, das brodelnde Original oder gar die infernalische Tsunami-Version dagegenzuhalten, die die australischen Proto-Punkrocker The Saints 1977 aufnahmen. Sonst sind Hopfen, Malz und Purpur in diesem Fall für alle Zeiten verloren.
Aber was für eine Art Band waren Deep Purple denn nun? Vermutlich wußte das niemand sowenig wie sie selbst; vermutlich keimten im Gefüge des Quintetts deshalb auch schon gewisse Unzufriedenheiten und Spaltpilze, die vorläufig der hektische Terminplan und diverse individuelle Hoffnungen am Erblühen hinderten. Es bleibt festzustellen: Der etwas altmodische Psychedelic-Beat-Crooner, der höchst versierte Rock-’n’-Roll-Bassist, der klassikfixierte Tastenedelmann, der professionelle Schlagzeug-Kassenwart und der ewig unterschätzte Gitarren-Hansdampf-in-allen-Gassen, der alles spielen konnte und auf Verlangen spielte, was nicht schwarzer Hautfarbe war, diese fünf heterogenen Herren waren mit ihrem übereilt hinterhergekickten zweiten Album einen gewaltigen Schritt vorangekommen. „Ich verstehe nicht, was bei dieser Platte schiefgegangen ist“, schrieb John Peel im Disc & Music Echo, „es ist alles irgendwie zu beherrscht. Alle Nummern sind gut durchdacht