Der Immun-Code. Dr. Dorothea Schleicher-Brückl

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Probleme also, deren Lösung der Mensch größtenteils selbst in der Hand hat.

      Der Preis, den wir für steigenden Wohlstand zahlen, ist hoch. Stress, Bewegungsmangel, wenig Schlaf, falsche Ernährung mit einem Zuviel an Fertigprodukten, ein erhöhter Konsum von Zucker und Genussmitteln wie Tabak und Alkohol sowie negative Umwelteinflüsse durch Chemikalien, Lärm oder Strahlung führen zu einem enormen Anstieg an chronischen Erkrankungen.

      Jedes Jahr sterben weltweit über 16 Millionen Menschen vor dem 70. Lebensjahr an vermeidbaren Zivilisationskrankheiten wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes, Atemwegserkrankungen und Krebs. Das entspricht einer Rate von 42 Prozent aller Menschen, die an nicht übertragbaren Krankheiten verstorben sind, meldet die WHO in ihrem letzten Statusbericht.

       Krankheiten der Moderne

      Vor allem in den westlichen Industrienationen sind diese Erkrankungen deutlich gestiegen – und steigen weiter. Zivilisationskrankheiten entstehen, einfach ausgedrückt, weil die modernen Lebensgewohnheiten, die wir in klassischen Industrieländern vorfinden, nicht zur menschlichen Anatomie und zum Stoffwechsel passen. Während sich unsere Vorfahren noch täglich kilometerweit bewegen mussten, um etwas Essbares zu finden, und mitunter tagelang ohne Nahrung auskamen, verbringen die meisten Menschen in einer hoch technisierten Gesellschaft ihren Tag überwiegend sitzend und greifen vermehrt auf verzehrfertige Nahrungsmittel zu, allen voran zucker- und fetthaltige Fertigprodukte.

      Vor allem Übergewicht wird zu einem großen Risikofaktor. Mehr als die Hälfte aller Deutschen ist zu dick, besonders die Männer. Auch Kinder und Jugendliche nehmen immer stärker zu, hierzulande hat im Alter von 11 bis 15 Jahren eines von fünf Kindern leichtes oder sogar schweres Übergewicht. Ein Teufelskreis, schließlich werden in den frühen Jahren nicht selten die Weichen für das spätere Leben gestellt, und die medizinischen Risiken der kindlichen Adipositas zeigen sich dann oft erst im Erwachsenenalter: Diabetes, Bluthochdruck, Herz-Kreislauf-Krankheiten sind nur einige der Folgen. Man geht inzwischen davon aus, dass 50 bis 70 Prozent aller chronischen Erkrankungen ihre Ursache in falscher Ernährung haben oder durch eine einseitige, kalorienreiche Kost verschlimmert werden können. Kaum ein anderer Bereich ist so zentral für unsere Gesundheit wie unsere Nahrung und unser Körpergewicht.

       Wenn Übergewicht zum Problem wird

      Wie die Krankheitsverläufe beim Erreger von COVID-19 gezeigt haben, spielt dieser Faktor auch bei der Immunabwehr eine entscheidende Rolle. Vor allem Betroffene mit Übergewicht haben ein hohes Risiko, dass die COVID-19-Infektion einen schweren Verlauf nimmt. Das Übergewicht belastet nicht nur das Herz-Kreislauf-System, es hemmt auch die körpereigene Abwehr. Adipositas und viszerales Bauchfett verursachen chronische Entzündungsprozesse, die das Immunsystem schwächen – dadurch steigt die Infektanfälligkeit. Denn Fettzellen sind in der Lage, Hormone oder hormonähnliche Substanzen zu bilden, die zum Teil entzündungsfördernd wirken können. Zudem sammeln sich bestimmte Immunzellen im Fettgewebe an und setzen ebenfalls Entzündungsbotenstoffe frei. Das bringt eine Kaskade von Entzündungsreaktionen in Gang, die die körpereigene Immunabwehr permanent beanspruchen; das kann bei einer zusätzlichen COVID-19-Infektion zu einer akuten Überbelastung der Abwehrkräfte führen. Diesen Effekt konnte man zuvor auch bei normalen Grippeviren nachweisen.

       Diabetes schwächt das Immunsystem

      Darüber hinaus leiden übergewichtige Menschen häufig auch an Diabetes Typ 2, was die körpereigene Abwehr zusätzlich schwächt. Bei diesem Krankheitsbild stellt die Bauchspeicheldrüse zwar genug Insulin her, die Zellen des Körpers können es aber nicht mehr richtig verwerten – sie entwickeln eine Insulinresistenz. Jüngst wurde gezeigt, dass diese Insulinresistenz die körpereigenen Abwehrzellen vermindert und dadurch zu einer schwächeren Immunantwort führen kann. Diabetiker sind also wesentlich anfälliger für Infektionskrankheiten – Viren, Bakterien und andere Erreger haben hier ein leichteres Spiel, und die Schwächung des Immunsystems begünstigt die Entstehung weiterer Leiden. Eine beunruhigende Entwicklung, vor allem, da die Zahl der Diabetiker stetig steigt.

      War vor 40 Jahren den Daten der WHO zufolge noch etwa jeder 20. Erwachsene weltweit von Diabetes betroffen, ist es heute schon jeder 12. Auch die Bezeichnung »Altersdiabetes« trifft längst nicht mehr zu, denn der Durchschnittspatient wird immer jünger: Laut dem Deutschen Gesundheitsbericht Diabetes von 2020 hat sich die Zahl der Typ-2-Diabetes-Neuerkrankungen bei Jugendlichen in den letzten zehn Jahren verfünffacht. Es gibt mehr als 90 Neuerkrankungen jährlich, Tendenz steigend, mit wahrscheinlich einer hohen Dunkelziffer. Erwartet werden rund 200 Neuerkrankungen pro Jahr. Dabei handelt es sich fast ausnahmslos um stark übergewichtige Teenager, bei denen bereits die Eltern und Großeltern an einem Typ-2-Diabetes leiden. Oft bewegen sich diese Kinder auch weniger, nehmen noch weiter zu, was wiederum das Immunsystem noch mehr schwächt.

      Wird hier nicht rechtzeitig gegengesteuert, zeigen sich die Folgen, wie schon erwähnt, dann deutlich im Erwachsenenalter in Form von Diabetes, Bluthochdruck oder Herz-Kreislauf-Krankheiten. Damit werden immer mehr Menschen zu Risikopatienten, bei denen es das Immunsystem schwerer hat, mit Erregern wie Viren oder Bakterien fertigzuwerden.

       Unsere Abwehr – ein System der Balance

      Ständig sind wir Keimen ausgesetzt, ganz gleich, ob wir etwas anfassen, einatmen oder zu uns nehmen. Täglich versuchen infektiöse Erreger, in den menschlichen Körper einzudringen – fast immer vergeblich. Denn meist arbeitet die körpereigene Abwehr des Menschen so effektiv, dass Infektionen unbemerkt vorüberziehen. Wenn die Abwehr intakt ist, bemerken wir meist nichts von den vielen Vorgängen, die ständig in unserem Körper ablaufen. Bei einigen Viren, Bakterien oder anderen Erregern braucht das Immunsystem etwas länger, bis die Eindringlinge ausgeschaltet sind. Doch manchmal gelingt es Erregern, den Schutzwall zu durchbrechen, woraufhin der Abwehrprozess in Gang gesetzt wird. Das merken wir dann an Symptomen wie Husten, Schnupfen, Heiserkeit oder sogar Fieber, die Teile unserer Abwehr sind und den Körper dabei unterstützen, die lästigen Eindringlinge wieder loszuwerden.

      Die Leistungsfähigkeit des Immunsystems ist entscheidend dafür, ob eine Krankheit überhaupt ausbricht und wie sie verläuft. Unser Immunsystem ist extrem anpassungs- und leistungsfähig, doch ein permanent krankmachender Einfluss bringt es zum Ermüden, was am Ende unsere Abwehrzellen erschöpft und Krankheiten entstehen lässt. Die stetig steigende Zahl chronischer Leiden und die schnelle Ausbreitung von Viruserkrankungen sind ein Indikator dafür, dass unsere Immunabwehr immer häufiger aus der Balance gerät.

      Zugleich stellen die permanenten Entzündungen im Körper (bei einer chronischen Erkrankung) das Immunsystem vor immer größere Herausforderungen. Die Folge: Erkrankungen, bei denen das Immunsystem eine wichtige Rolle spielt, nehmen zu und betreffen immer mehr Menschen. Es handelt sich dabei vor allem um Infektanfälligkeiten und Atemwegserkrankungen, Tumoren, Rheumaleiden, Stoffwechselerkrankungen wie Diabetes, Funktionsstörungen der Schilddrüse oder Hashimoto, Arteriosklerose oder Allergien.

       Allergien auf dem Vormarsch

      Allergien und die damit verbundenen Krankheitsbilder wie allergisches Asthma, Heuschnupfen, allergischer Schnupfen oder Neurodermitis haben in den letzten Jahrzehnten deutlich zugenommen. Sie sind eine wahre Volkskrankheit geworden und werden bereits als die Epidemien des 21. Jahrhunderts bezeichnet. Gab es 1960 lediglich 3 Prozent Allergiker weltweit, so waren es 1995 bereits rund 30 Prozent.

      Vor allem die Jüngsten sind stark betroffen: Zurzeit leiden rund 22 Prozent der Kinder rund um den Globus unter Allergien. In Deutschland, das ergab die Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland (KIGGS) des Robert-Koch-Instituts, leiden gut 9 Prozent der Kinder an Heuschnupfen, 6 Prozent an Neurodermitis und 4 Prozent an allergischem Asthma. Jungen sind dabei häufiger von Heuschnupfen und Asthma betroffen als Mädchen.

      Aber auch bei Erwachsenen verbreiten sich die überschießenden Abwehrreaktionen immer stärker, aktuell sind rund 30


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