Der Immun-Code. Dr. Dorothea Schleicher-Brückl

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Erkrankung leiden wird. Dass diese Entwicklung vor allem auf die »westliche« Lebensweise zurückzuführen ist, machen Zahlen aus Deutschland kurz nach der Wende deutlich: Damals gab es im Westen mit einem Anteil von 5 bis 8 Prozent noch doppelt so viele Allergiker wie im Osten. Seit 2000 haben sich die unterschiedlichen Zahlen angeglichen. Auch globale Studien zeigen, dass der Zuwachs an Allergien nicht überall gleichmäßig ist, sondern in starker Abhängigkeit von Lebensart und Lebensraum steht. So sind z. B. Heuschnupfen und Asthma in ländlichen Gegenden von Afrika, Russland oder Entwicklungsländern deutlich seltener als in entwickelten Industrieländern mit eben »westlichem« Lebensstil.

       Wenn das Immunsystem überreagiert

      Die Ursache für eine Allergie liegt in einer Fehlregulation und überschießenden Abwehrreaktion des Immunsystems. Nimmt der Körper über die Schleimhäute der Atemwege, den Magen-Darm-Trakt oder die Haut eine fremde Substanz auf, prüft das Immunsystem, ob es sich dabei um einen Krankheitserreger handelt und eine Abwehrreaktion eingeleitet werden sollte. Zur Abwehr von Bakterien, Viren oder Parasiten bildet das Immunsystem bestimmte Antikörper oder Abwehrzellen.

      Bei einer Allergie bildet das Immunsystem beim ersten Kontakt mit bestimmten Stoffen, den sogenannten Allergen wie z. B. Pollen, Milbenkot oder Insektengift, ebenfalls spezifische Antikörper, und zwar gleichgültig, ob es sich bei dem Allergen um einen problematischen oder harmlosen Stoff handelt – es erfolgt aber noch keine allergische Reaktion. Allerdings wird das Allergen bereits als »Feind« registriert. Kommt es zu einem erneuten Kontakt mit diesem Stoff, gibt es eine Überreaktion mit allen Symptomen einer Allergie. Diese immunologischen Reaktionen führen zu Symptomen wie Jucken der Augen, der Nase, Bindehautschwellung und -Entzündung, Lidschwellung, Schwellung der Atemwege, Schleimproduktion in Nase und Lunge, Hautausschlag, Übelkeit, Durchfall und Schleimhautentzündungen im Magen-Darm-Trakt.

       Autoimmunkrankheiten – Angriff gegen den eigenen Körper

      Wenn das Immunsystem nicht überreagiert, sondern fehlgeleitet wird und sich gegen den eigenen Körper richtet, dann spricht man von Autoimmunkrankheiten. Auch diese sind weltweit auf dem Vormarsch. Derzeit leiden rund 10 Prozent der Bevölkerung darunter. In diesem Fall kann unser schützendes Bollwerk nicht mehr erkennen, wer Freund oder Feind ist. Es identifiziert irrtümlich körpereigene als fremde Zellen – mit der Folge, dass sich Antikörper dann gegen unsere eigenen Zellen wenden. Warum das Immunsystem derart aus der Kontrolle geraten kann, ist noch nicht eindeutig geklärt.

      Zu den Autoimmunerkrankungen zählt zum Beispiel die Multiple Sklerose, bei der die Immunzellen die Nervenzellen zerstören, was unterschiedlichste Symptome nach sich zieht. Die Krankheit verläuft oft in Schüben und ist nicht heilbar. Allein in Deutschland hat sich die Zahl der Betroffenen in den vergangen vier Jahrzehnten verdoppelt. Auch Diabetes Typ 1 ist eine Autoimmunkrankheit; dabei zerstören körpereigene Antikörper die Insulin-produzierenden Betazellen der Bauchspeicheldrüse. Durch die Zerstörung entsteht ein Mangel an Insulin, der wiederum zu stark erhöhten Blutzuckerwerten führt. Zurzeit leben ca. 373 000 Menschen mit Typ-1-Diabetes in Deutschland, 32 000 davon sind Kinder und Jugendliche. Die Rate der Typ-1-Diabetes-Neuerkrankungen steigt derzeit jährlich um 3,5 Prozent an. Ein neuer vielversprechender Ansatz zur Heilung dieser Krankheiten bietet die Therapie mit mesenchymalen Stammzellen.

      Weiterhin gehören chronisch entzündliche Darmerkrankungen wie Morbus Crohn, Colitis ulcerosa und Zöliakie zu den Autoimmunkrankheiten, ebenso die Schilddrüsenerkrankungen Morbus Basedow und Hashimoto. Auch hier steigt die Zahl der Betroffenen stetig. Eine der häufigsten Erkrankungen, bei der sich die Abwehr gegen den eigenen Körper richtet, ist die rheumatoide Arthritis. Aus bisher unbekannten Gründen beginnt das Abwehrsystem der betroffenen Patienten, den Gelenkknorpel wie einen Fremdkörper zu behandeln. Es werden Entzündungskomplexe gegen körpereigenes Knorpelgewebe gebildet, die dieses in der Folge attackieren und im Lauf der Zeit das Gelenk vollständig zerstören.

       Rheuma – mehr als nur ein Leiden

      Eine rheumatoide Arthritis beginnt zunächst mit dem Anlaufschmerz, später treten Schmerzen vor allem unter Belastung auf, und in einem späteren Stadium werden sie schließlich zu Dauerschmerzen. Eine Arthritis dagegen ist in der frühen Phase durch die Morgensteifigkeit großer Gelenke, beidseitige Schwellung der Finger und später durch massive schmerzhafte Verformungen und Einsteifungen charakterisiert.

      Auch Sehnenscheiden und Schleimbeutel können sich entzünden, und es kommt zu Entstehung von Rheumaknoten an den Fingern oder am Unterarm. In Deutschland ist einer von 100 Erwachsenen an dieser Rheuma-Form erkrankt, meldet die Deutsche Rheuma-Liga; Frauen sind dreimal häufiger als Männer betroffen. Die Krankheit kann in jedem Alter auftreten, beginnt aber meistens nach dem 50. Lebensjahr bei Frauen, bei Männern 10 Jahre später, und hat immer immunologische Ursachen.

      Was fatal ist: Bei dieser Autoimmunerkrankung beschränken sich die Entzündungen und Schmerzen nicht allein auf die Gelenke, sondern entzündlich-rheumatische Erkrankungen sind Systemerkrankungen, die viele Organe betreffen. Bis zu 80 Prozent aller Patienten leiden an mindestens einer Begleiterkrankung wie zum Beispiel einer Herz-Kreislauf-Erkrankung, Osteoporose, Erkrankungen der Nieren oder der Haut. Die Atemwege sind bei Rheuma ebenfalls oft in Mitleidenschaft gezogen: Entzündungen von Lunge und Bronchien können die Langzeitprognose der Erkrankung erheblich verschlechtern. Rheumapatienten haben zusätzlich ein erhöhtes Risiko für schwere Infektionen, da die schlecht kontrollierte, hoch entzündliche Erkrankung das Infektionsrisiko erheblich steigert. Außerdem greifen in diesen Prozess noch Rheumamedikamente ein. Als Immunsuppressiva schwächen sie das Immunsystem und führen so zu einer erhöhten Infektanfälligkeit und einem erhöhten Tumorrisiko. Und hier schließt sich wieder der Teufelskreis. Ist das Immunsystem aus dem Ruder gelaufen und richtet sich gegen den Körper, reagiert die eigene Abwehr unharmonisch, und der Körper wird zusätzlich anfällig für weitere Erkrankungen.

       Viren und Bakterien breiten sich schneller aus

      Kein Wunder also, dass vor allem Infektionskrankheiten auf dem Vormarsch sind. In den vergangenen 50 Jahren wurden laut des letzten World Health Reports mindestens 39 zuvor unbekannte Krankheitserreger ausgemacht – darunter HIV, Ebola, SARS und das Marburg-Fieber. Daneben verbreiten sich vermehrt bereits bekannte Erkrankungen wie Tuberkulose, Malaria und Influenza. Begünstigt wird dies dadurch, dass die Erreger mutieren oder Resistenzen gegen die eingesetzten Arzneimittel ausbilden. Seit über 10 Jahren ist auch wieder ein Anstieg bei Erkrankungen wie virusbedingten Darminfektionen, Lungenentzündung, Herpes Zoster, Hepatitis, dem Epstein-Barr-Virus oder der Grippe zu beobachten. Die Gründe sind vielfältig. Einerseits geht die Globalisierung mit einer extremen Zunahme der Mobilität einher, sodass sich Erreger schnell und weltweit ausbreiten können. Zudem steigt der Anteil derjenigen Menschen, die in großen Ballungsgebieten leben, was wiederum Ansteckungen begünstigt. Auch der Klimawandel ist ein Treiber weltweiter Infektionsgeschehen. Steigen die Temperaturen weiter wie bisher, wird ein heute geborenes Kind an seinem 71. Geburtstag in einer Welt leben, die vier Grad wärmer ist als zu Beginn der Industrialisierung – mit gravierenden Folgen für unsere Gesundheit, wie die 120 Experten aus insgesamt 35 internationalen Institutionen im Lancet-Report 2019 der gleichnamigen renommierten Medizin-Fachzeitschrift feststellen: Kinder leiden besonders unter den Gesundheitsrisiken in einem sich verändernden Klima, denn ihr Körper und ihr Immunsystem entwickeln sich noch, was sie anfälliger für Krankheiten und Umweltgifte macht. Doch auch für alle anderen stellt die Eroberung neuer Lebensräume durch Insekten – und damit die Ausbreitung von Infektionskrankheiten wie Dengue-Fieber oder Malaria – eine Gefahr dar, die mit der Klimaerwärmung zunimmt.

      Auch wenn wir immer älter werden, bedeutet das nicht automatisch, dass wir immer gesünder werden. Denn unsere Art des Lebens beeinflusst nicht nur unsere Gesundheit, sondern auch das Wohlbefinden zukünftiger Generationen.

       WARUM WERDEN WIR IMMER KRÄNKER?


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