Im Gespräch mit Morrissey. Len Brown

Im Gespräch mit Morrissey - Len  Brown


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im Radio, in der Presse oder der Flimmerkiste in der Zimmerecke – an Morrissey kam man nicht vorbei. Er sagte viele großartige Sätze, schnitt in seinen Texten komplexe und unbequeme Themen an, klaute von großen Schriftstellern und aus unbekannten Filmen. Er benahm sich nicht wie andere Rockstars, die normalerweise unter dem Einfluss von Alkohol, Drogen und Lust oder durch Wohlstand und Apathie (oder durch alle fünf) jeden Bezug zur Realität verloren. „Ich bin nicht manisch depressiv, sondern nur realistisch“, sagte er im Jahre 1986. „Ich bin niemand, der singend in einem Heuschober herumstolziert und eine Cognacflasche schwenkt.“

      Wie Prefab Sprout satirisch anmerkten, reichte es den meisten Popstars, radiotaugliche Songs über Autos und Mädchen zu schreiben. Selbst wenn ihre politischen Standpunkte anfangs noch radikal wären, wurden sie doch bald durch satte Tantiemenzahlungen und die Verlockungen des Ruhmes korrumpiert. Dann sammelten sie Sportwagen und eröffneten Forellenzuchten.

      Nicht so Morrissey. Kaum hatten sie (wer immer sie auch sein mögen) ihn aus seiner Kiste und auf die Bühne gelassen, stach er in ein Wespennest nach dem anderen. Er pries die Arbeitslosigkeit und sexuelle Verirrungen, sang vom Verlust der Unschuld und erinnerte die britische Gesellschaft an die schlimmsten Verbrechen und ihre Täter.

      Irgendwoher schien er den Mut zu nehmen, kontroverse, komische Aussagen zu machen, welche die meisten anderen in der Öffentlichkeit stehenden Personen tunlichst vermieden hätten. Als zum Beispiel Ende 1984 „Do They Know It’s Christmas“ erschien, die Anti-Hunger-Single des Band-Aid-Projekts, kommentierte Morrissey dies folgendermaßen: „Schön und gut, wenn man sich um die Menschen in Äthiopien sorgt, aber muss man deshalb gleich die englische Bevölkerung tagtäglich der Folter aussetzen?“ Das war zwar weder politisch korrekt noch auch nur im Entferntesten förderlich für Geldofs Kampagne „Feed The World“, dafür aber ungeheuer lustig.

      Der Thatcherismus war selbstherrlich und geldgeil. Demgegenüber stellte es Morrissey als etwas Positives dar, wenn man seine Unzufriedenheit mit der aktuellen Lage in Großbritannien offen äußerte. Das gesamte Jahr 1984 hindurch befand sich die konservative Regierung in einem zunehmend erbitterten Konflikt mit der von Arthur Scargill geführten National Union of Mineworkers. Ich lebte damals wieder bei meinen immer noch trauernden Eltern im Nordosten, hatte keine Freundin, trank zu viel und arbeitete für eine Abendzeitung namens The South Shields Gazette. Der perfekte Soundtrack für meinen traurigen Sommer im Jahr des Bergarbeiterstreiks war „Heaven Knows I’m Miserable Now“ von den Smiths: „Ich suchte nach einer Arbeit, und dann fand ich Arbeit …“

      Es klingt vielleicht ein wenig übertrieben, aber die Smiths waren mir definitiv eine Hilfe, ja, veränderten mich sogar. Seit dem Konzert im Venue spürte ich, dass ich Teil eines fantastischen, neuen und exklusiven Untergrundkults war. Musikalisch war es mit nichts vergleichbar, was ich zuvor gehört hatte (und seither gehört habe), und im Zentrum stand dieser seltsame Typ, den man sexuell nicht genau einordnen konnte, die Geißel des Äthers, der Mann, bei dem man höchstwahrscheinlich in die Suppe prusten musste oder vor Lachen an seinen Nudeln erstickte, wenn man ihn mit Perlen behängt bei Top Of The Pops herumhüpfen sah.

      Man konnte Morrissey entweder mögen oder hassen, dazwischen gab es nichts. Er trug zu große Klamotten mit Blumenstickereien auf der Gesäßtasche zu Ehren von Oscar Wilde. Auf seinen nackten Bauch hatte er mit Lippenstift die Worte „initiiert mich“ geschrieben, auf seinen Hals „schlecht“; nicht zu vergessen diese Johnny-Ray-Hörhilfe und die geklebte Gemeindeschwestern-Brille mit Kassengestell. Was für ein seltsames, sonderliches und doch auf seltsame Weise gut aussehendes Wesen er Anfang der Achtziger doch war! Schwule Männer wollten mit ihm ins Bett gehen, Frauen wollten ihn bemuttern, sensible heterosexuelle Männer wollten wie er sein oder von ihm gemocht werden.

      Im Spätsommer des Jahres 1984 – als Sandie Shaw bei einer gemeinsamen Darbietung mit den Smiths (ohne Morrissey) ihre Beine bei „Hand In Glove“ in die Luft warf und die vierte Single der Band, „William, It Was Really Nothing“ in die Top 20 kletterte (mit einem wahrhaft erstaunlichen Song namens „How Soon Is Now?“ auf der B-Seite der Maxi) – bewarb ich mich auf eine Anzeige im Guardian um den Posten eines Korrektors beim New Musical Express. Daneben beschäftigte ich mich viel mit Morrisseys Texten und fragte mich, wer um alles in der Welt dieser Mann war und wo zum Teufel er herkam.

      Bildstrecke 1

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      Portrait des Künstlers als junger Manchesterer. (Kerstin Rodgers/Redferns)

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      The Smiths: unmodische Indie-Gitarrenband in der großen New-Romantics-Welle. (Mirrorpix)

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      Der Byron des stillen Kämmerleins und der rebellische Außenseiter … James Byron Dean. (LFI)

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      Platz für Oscar … Morrissey und sein größter Einfluss: »Man lag auf dem Bett … und rang nach Atem. Es war so überzeugend und wahrhaftig.« (LFI)

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      Under The Influence – Morrisseys musikalische Einflüsse: Pasolini (Hulton Archive/Getty Images), The Factory (Hulton Archive/Getty Images), Kenneth Williams (LFI), Diana Dors (Popperfoto/Getty Images), Magnani (Hulton Archive/Getty Images), Patti Smith (LFI), Oscar und Bosie (Hulton Archive/Getty Images), Jobriath (Michael Ochs Archive/Getty Images), Charles Hawtrey (Freemantlemedia), Jimmy Clitheroe (Bob Thomas/Getty Images), Dick Davalos (John Springer Collection/Corbis), Pat Phoenix (Bob Thomas/Getty Images)

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      Manchesters Antwort auf Johansen und Thunders – »füreinander ein seltener Glücksfall und eine Erlösung« (James Maker). (Mark Allan)

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      Die Smiths schaffen es mit »What Difference Does It Make?« in die Top 20. The Oxford Road Show, Manchester, Februar 1984 (Mark Allan)

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