Im Gespräch mit Morrissey. Len Brown
und es sich gut gehen zu lassen. Das hatte ich schon versucht. Es war nicht genug.
Für diejenigen unter uns, die nach dem Post-Punk und nach Joy Division mehr wollten, war Morrissey wie eine Brise frischer Luft. Er war seltsam attraktiv und sympathisch. Er war ein Sexsymbol, wie man es selbst gerne gewesen wäre, mit dem man als Heterosexueller freilich jedoch keinen Sex haben wollte. (Obwohl seine Kunst dem Autor Will Self zufolge „das homosexuelle Element in heterosexuellen Männern anspricht“.) Im Gegensatz zu den meisten Frontmännern in der Popmusik der achtziger Jahre war Morrissey keiner von diesen Fokuhilas, die verkündeten: „Seht her, ich kann alle Frauen haben, die ich will, und ihr nicht.“ Stattdessen schien er auf einer philosophischen Ebene interessanter und vielversprechender als andere „Rockstars“ unserer Zeit.
Es war nicht nur diese seltsame, selbstironische Bühnenpräsenz, die mich sofort anzog. Auch die Bezugspunkte in den Songs und Interviews und die visuelle Gestaltung der Album- und Single-Cover sprachen mich sofort an. Sie waren anders, provokativ, intelligent und doch sofort verständlich. Sie hatten etwas zu sagen. Freilich schienen sämtliche der bewusst gewählten zentralen Charaktere entweder schwule oder stark feministische Figuren zu sein, doch trugen sie ihren Teil zu der andersartigen, außergewöhnlichen Aura bei, die Morrissey und die Smiths besaßen. Musikalisch schien Morrissey ganz allgemein für Außenseiter zu sprechen; für junge Leute, die aus verschiedensten Gründen die vorgefertigten Erwartungen der Gesellschaft nicht ganz erfüllten.
Die auf seinen Covern abgebildeten Stars waren stets Charaktere aus Film oder Literatur, die gegen den Status quo angekämpft hatten, insbesondere im Zusammenhang mit der Sexualität. Einige waren zwar an den engen Moralvorstellungen ihrer Zeit zerbrochen, hatten aber dennoch Ruhm oder wenigstens zweifelhaften Ruhm erlangt oder hatten allen Vorurteilen zum Trotz große Kunst geschaffen.
Es zeichnete sich klar ab, dass Morrisseys persönlicher ästhetisch-künstlerischer Geschmack im Auswahlprozess der Smith’schen Ikonografie eine enorme Rolle spielte. Ich wusste, dass auf musikalischer Ebene zwar eine kreative Partnerschaft mit Johnny Marr bestand, doch war Morrissey eindeutig der Schöpfer des Smith’schen Manifests. Häufig gab es einen inhaltlichen Grund, warum ein bestimmtes Bild für eine Single oder ein Album ausgewählt wurde, doch ging es dabei immer auch um Stil und Präsentation dieser künstlerischen Bilder. Sofern es die Umstände zuließen (bei „What Difference Does It Make?“ war dies nicht der Fall), dienten sie eindeutig dazu, jemand anderen als die Smiths selbst zu feiern oder ins Schlaglicht zu rücken. Das allein war radikal, selbstlos und beinahe selbstironisch.
Seit „This Charming Man“ – der ersten Top-40-Single, die aber ohne den Einsatz auf Radio One nur einen unglaublich enttäuschenden 25. Platz erreichte – war jede Single-Veröffentlichung der Smiths ein mit gewaltiger Spannung erwartetes Ereignis. Paul Morley erklärte im NME, „This Charming Man“ sei „einzigartig und unentbehrlich, wie ‚Blue Monday‘ und ‚Karma Chameleon‘“.
Es ging dabei aber nicht nur darum, dass man die Stücke zum ersten Mal hörte – diese bewusst andersartigen, beinahe sturen, gekonnt gestrafften und Radio-One-unfreundlichen Singles. Nicht minder wichtig waren die hervorragenden B-Seiten (wie „Jeane“ und „Back To The Old House“), die kunstvolle Verpackung und die in den letzten Rillen verborgenen Botschaften: „Kiss my shades“2, „Schlag mich auf der Veranda“, „Für immer krank“, „Wird die Natur endlich einen Mann aus mir machen“.
Den Hinterbacken aus Margaret Walters The Nude Male auf „Hand In Glove“ folgte auf „This Charming Man“ ein narzisstisches Foto von Jean Marais aus Orphée, auf welchem dieser sein eigenes Spiegelbild betrachtet wie in leidenschaftlicher Selbstliebe und Autosexualität versunken.
Die dritte Single der Smiths, „What Difference Does It Make?“, mit ihrer bekenntnisartigen Eingangszeile („Alle Männer haben Geheimnisse …“), schien den Weg der Band in den Mainstream vorzuzeichnen: Im Januar 1984 erreichte der Titel Platz zwölf in den Charts. Doch dieser Schwenk von relativer Unbekanntheit in Richtung eines kommerziellen Erfolges brachte seine eigenen Probleme mit sich.
Morrissey wollte auch diesmal ein künstlerisch wertvolles Cover gestalten und hatte sich bereits für ein Bild eines seiner Lieblingsschauspieler entschieden – ein Foto von Terence Stamp aus einer Verfilmung von John Fowles’ Roman The Collector (Der Sammler). Darin spielt Stamp einen Schmetterlingssammler, der eine Frau entführt und gefangen hält, was Morrissey zu der Zeile „Du kannst mich aufspießen …“ in „Reel Around The Fountain“ inspiriert hatte.
Stamp verweigerte zunächst seine Zustimmung, so dass Morrissey für die offizielle Veröffentlichung selbst Modell stand. Er versuchte, wie ein grinsender Stamp auszusehen, hielt jedoch statt Chloroform ein Glas Milch in der Hand. Später sagte er mir: „Ich wollte eigentlich nicht auf dem Cover abgebildet werden, und außerdem war es das hässlichste Bild, das meine Augen je erblickten.“ Schließlich legte Sandie Shaw ein gutes Wort für die Smiths ein, und Terence Stamp änderte seine Meinung, doch war dies längst nicht das einzige Problem, das der erste Top-20-Hit der Band mit sich brachte.
Johnny Marr hatte nicht einmal gewollt, dass „What Difference Does It Make?“ überhaupt erschien, und zudem offen über Probleme bei den Aufnahmen zum Album gesprochen. Er hatte den ersten Mixen von Troy Tate skeptisch gegenübergestanden („Sie klangen wie Demoaufnahmen“), und schließlich hatte man den Ex-Roxy-Music-Mann John Porter herbeigeholt, um das Debüt der Smiths zu retten.
In den achtziger Jahren waren Singles noch sehr wichtig, wurden jedoch viel zu häufig als Wegwerfprodukte und Eintagsfliegen behandelt. Alben hingegen mussten Gewicht und Langlebigkeit besitzen. Sie mussten substanzieller sein als eine zusammengeschusterte Sammlung von 45er-Scheiben, sie mussten eine großartigere Aussage haben, um eine Fangemeinde zu begründen und die Künstler von den vielen flüchtigen Popsternchen der damaligen Zeit abzugrenzen.
Eine gute Produktion und ein nach außen getragener schillernder Lifestyle (wie bei „Rio“ von Duran Duran) reichten dazu nicht aus. Echte Meilensteine mussten schon etwas Besonderes bieten. Nicht zwingend ein Konzept im Stil von Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band oder, Gott bewahre, ein durchgehendes Thema wie bei Pictures At An Exhibition von ELP – aber doch das Gefühl einer emotionalen Einheit, einen einzigartigen Stil, der den Zuhörer magisch anzog, ihn in seinen Bann schlug und hungrig auf mehr machte. Außerdem musste ein „Independent“-Album deutlich anders klingen als die Mainstream-Musik der frühen Achtziger: Es durfte sich nicht in sinnlosen Gitarren- und Schlagzeugsoli erschöpfen oder mit Synthesizern und mehrspurigen Gesangsaufnahmen überladen sein. Es musste alles viel menschlicher, direkter klingen.
Ich erinnere mich daran, dass ich The Smiths in J.G. Windows Plattenladen in der Central Arcade in Newcastle kaufte und es auf der alten Sharp-Kompaktanlage meiner Eltern in deren Wohnzimmer in der Bentinck Road zum ersten Mal abspielte.
Als ich dasaß und zusah, wie sich das graue Label drehte und sich die stumpfe Nadel lautstark auf das statisch aufgeladene Vinyl senkte, war ich auf eine Enttäuschung gefasst. Schon zuvor hatte ich mich gefragt, ob Morrissey eine ausreichend starke Persönlichkeit wäre, um der zunehmend scharfen und spöttischen Kritik standzuhalten, die sich allzu gerne gegen sein Aussehen, seinen Gesang, seine Ansprachen und seine kontroversen Themen richtete. Außerdem bezweifelte ich, dass die Smiths in der Lage wären, ein Album abzuliefern, das es mit ihren ersten Singles aufnehmen könnte. Viele andere Gruppen (zum Beispiel The Police) schienen für mich reine „Single-Bands“ zu sein, die ihre 45er zusammenstellten und ein Album daraus machten; das Album als Ganzes schien indes keine erkennbare Aussage zu besitzen.
Die Smiths bewiesen jedoch, dass sie noch weit mehr konnten, als gute (und doch aus verschiedenen Gründen kommerziell erfolglose) Singles einzuspielen. Die Musik war wunderschön, komplex, emotional und kraftvoll. Über alledem schwebte ein visionärer Text, der einen mitleidigen und doch ermutigenden Blick auf schwierige Zeiten warf.
Je öfter ich dieses erste Album anhörte, desto mehr klang und erschien es mir wie eine bewusste Absichtserklärung: kontrovers, sexuell zweideutig, provokativ und gleichzeitig originell und stilvoll. Das Cover offenbarte eine von Morrisseys Obsessionen: Andy Warhol. Es zeigte