Im Gespräch mit Morrissey. Len Brown
Jugend Großbritanniens überhaupt noch schlimmer kommen? Aber natürlich – und so kam es auch. Abgesehen von dem eskalierenden Konflikt im Nahen Osten führte Margaret Thatcher Großbritannien auch in den Krieg gegen Argentinien um die Falkland Inseln. Stichwort für weitere Abgesänge auf eine verlorene Jugend.
In den frühen Morgenstunden des 27. Mai 1982, als Tausende von Meilen entfernt auf den östlichen Falklands die Schlacht von Goose Green tobte, nahm sich mein Bruder das Leben. Als Fan von Joy Division hatte er Ian Curtis’ Selbstmord zwei Jahre zuvor nie ganz überwunden. Er war 21 Jahre alt und wollte schlicht und einfach nicht mehr ein Teil dieser Welt sein.
Unsere Familie zerbrach beinahe an dem Schmerz über Dons Tod. Es war ungeheuer schwer, einfach weiterzuleben. Wenn ich sage, dass ich wie betäubt vor Trauer war, wäre das untertrieben. Eine Zeile aus einem Biff-Comic der damaligen Zeit beschrieb recht gut, wie ich mich fühlte: wie eine vergessene Socke in der Waschmaschine.
Emotional war ich monatelang wie gelähmt. Anfangs brauchte ich Schlaftabletten, dann sprach ich mehr und mehr dem Alkohol zu. Ich geriet nicht aus der Spur, es gab keine Spur. Ich zog mich zunehmend in meine kleine Dachkammer in einem Studentenwohnheim in Camberwell zurück, die mir ein guter Freund, der Fotograf Tim Jarvis, in den schwierigen Monaten nach Dons Tod vermittelt hatte.
Den Rest des Jahres 1982 über versuchte ich, mich vor der Welt zu verschließen, und übernahm die Ansicht Pascals aus Huxleys Die Pforten der Wahrnehmung, dass der Planet ein besserer Ort wäre, wenn die Menschen endlich lernen würden, alleine und still in ihren Zimmern zu sitzen.
Verzweifelt versuchte ich, die Erinnerung an Don am Leben zu erhalten: In jenen von Trauer und Schuldgefühlen überschatteten ersten Monaten schmökerte ich in seinen mit Eselsohren und Randbemerkungen versehenen Büchern (Beckett, Eliot, Brecht, Orton, griechische Tragödien …) und hörte mir seine kostbare Plattensammlung an. Es war von John Peel inspirierte, seltsame und ungeheuer originelle Musik: The Fall, The Twinkle Brothers, John Dowie, Nico, Gregory Isaacs, die Bands des Postcard-Labels, Michael Smith, Blondie, Wavus O’Shave, The Modern Lovers, Fela Kuti, Buzzcocks, Nico, Rastafari In Dub, Talking Heads, Trinity, The Pop Group …; eklektische Musik, die sich in den Mainstream-Charts nur selten wiederfand.
Die kommerzielle Begleitmusik der Jahre 1981/1982 hatte mit der gedrückten Stimmung der damaligen Zeit eigentlich nur sehr wenig zu tun. Die Popmusik der Post-Punk-Ära schien, ganz ähnlich wie der Glam- und Prog-Rock der frühen Siebziger, wieder einmal zu einer eskapistischen Nabelschau verkommen zu sein – die Jugend strebte nach Liebe, Lust und materiellem Wohlstand. Dave Rimmer gab seinem Buch über Culture Club und den sogenannten New Pop den passenden Titel Like Punk Never Happened – als hätte es den Punk nie gegeben.
Es war die Ära von Thatcher und Reagan, die Zeit einer Musik für die Ich-ich-ich-Generation, zu deren Stars Bands wie Duran Duran und andere aufgedonnerte Jüngelchen zählten. Popmusik war tanzbar, radiofreundlich und bemühte sich redlich, ihren Hörern eine heile Welt vorzugaukeln. Diese Zeit wurde später in dem ironischen „Opportunities (Let’s Make Lots Of Money)“ der Pet Shop Boys sehr zutreffend beschrieben.
Nach Dons Tod konnte ich die große Masse der synthetischen, keyboardlastigen, gespielten oder programmierten emotionslosen Popmusik der frühen Achtziger nicht mehr ertragen. Die Visionäre des Punk, die es kommerziell geschafft hatten, waren als Verräter gebrandmarkt; der Rest verblasste winselnd statt mit einem großen Knall. Popmusik, insbesondere die New-Romantics-Bewegung (der ich noch im Jahr zuvor hedonistisch gefrönt hatte), schien auf einmal unglaublich trivial, bedeutungslos und leer, als ginge es mehr um die kosmetische Präsentation als um künstlerische Kreativität. Das Aussehen war wichtiger als das, was man sagte. Der aufkommende neue Promi-Kult und die zunehmende Bedeutung von MTV im Gefolge von Thriller brachten es mit sich, dass das Video als neuer Gott die Musik in den Hintergrund drängte.
Rückblickend war ich damals wohl verzweifelt auf der Suche. Ich wollte mich davon überzeugen, dass Popmusik wieder wichtig und positiv und schön sein konnte; dass sie immer noch etwas bedeuten konnte. Irgendetwas.
Natürlich las ich den New Musical Express wie eine religiöse Schrift. Vielleicht war es der einzige Glaube, der mir geblieben war: die Evangelien von Paul Morley und Ian Penman, Charles Shaar-Murray und Tony Parsons. Ermuntert von Freunden und inspiriert durch die Plattensammlung meines verstorbenen Bruders, begann ich mit dem Schreiben. Eher halbherzig hatte ich mir das vage Ziel gesetzt, Musikjournalist zu werden.
Anfang 1983 erschien im NME mein Artikel über das Lebenswerk von Gaspar Lawal – jenes afrikanischen Schlagzeugers, dessen Musik John Peel spielte und den meine Mutter verehrte. Darauf folgte eine Kritik des Debütalbums einer Band namens The Box, die aus der Asche der beeindruckenden Sheffielder Gruppe Clock DVA entstanden war (deren „4 Hours“ auf Fetish eine der großen vergessenen Singles ist).
Es war ein Anfang, wenngleich ich mich wie ein Unfallopfer fühlte, das wieder aufs Motorrad stieg, und ich kam immer noch nicht ohne Stützräder aus. Ich bemühte mich, mein Leben zu genießen, weinte aber immer noch an Bushaltestellen und trank, um meinen Schmerz zu betäuben. Kurz, ich klammerte mich an den Scherbenhaufen einer unwiederbringlichen Vergangenheit. Ich hasste die Welt dafür, dass sie sich einfach weiter drehte, als wäre nichts geschehen, und hatte Schuldgefühle, weil auch ich selbst versuchte, weiterzuleben. Es war, wie Samuel Beckett am Schluss von Malone stirbt schreibt: „Ich kann nicht mehr. Ich mache weiter.“ (In seinem Exemplar des Buches hatte mein Bruder Don danach das Wort „irrational“ an den Rand geschrieben.
Im Sommer 1983 hatte Rose Rouse, eine Exfreundin von mir, für die Zeitschrift Sounds zu schreiben, die mir ganz ähnlich wie der NME erschien, aber ohne den Geschmack, das Sendungsbewusstsein, die Intelligenz oder den Anstand. Man versuchte, die eigene Rock-Vergangenheit der Siebziger abzuschütteln, als das Blatt mit den auf seinen „Live“-Seiten abgebildeten Titten und Ärschen vor allem heranwachsende Jungen erfreute. Als erklärte Feministin betrachtete Rose Sounds als echte Herausforderung, was typisch für sie war. Sie hatte begonnen, über Künstler zu schreiben, die von der alten Sounds-Redaktion als wenig interessant eingestuft wurden, und widmete sich vorrangig kreativen Gruppen wie den Thompson Twins und den Eurythmics.
An einem Herbstabend Ende September 1983 versuchte sie mich zu überreden, das Venue in der Nähe der Victoria Station in London zu besuchen. Dort trete „eine neue Band aus Manchester“ auf, „mit dem seltsamen Namen The Smiths.“ Ich hatte bereits von ihnen gehört, dachte jedoch, negativ wie ich damals eingestellt war, dass es eine Band mit dem Namen „The Smiths“ wohl kaum besonders weit bringen würde. Was hatten sie sich bloß dabei gedacht? Die meisten erfolgreichen Bands der damaligen Zeit hatten komplexe, geheimnisvolle Namen wie Depeche Mode, Blue Rondo A La Turk, Orchestral Manoeuvres In The Dark, Duran Duran, Spandau Ballet, vielleicht sogar noch Kajagoogoo. Aber The Smiths?!? Ich fragte mich sogar, ob sie vielleicht irgendetwas mit dem allgegenwärtigen Robert Smith von The Cure zu tun hätten, der auch bei Siouxsie & The Banshees spielte.
Ich erinnerte mich, dass ich Jim Shelleys Kritik im NME gelesen hatte, laut welchem die Band sämtliche „Independent“-Kriterien erfüllte. Zynisch, wie ich damals war, hatte ich jedoch angenommen, dass es sich bei Shelley nur um einen weiteren Schreiberling aus Manchester handelte, der für ein paar seiner Post-Punk-Kumpels die Werbetrommel rührte. Auf dem Cover ihres Debütalbums dankten die Smiths Shelley.
Zunächst wies ich Roses Einladung ab. Es war nicht allein meine Geldknappheit oder mangelndes Interesse, vielmehr das schicksalhafte Wort „Manchester“. Ich hatte es so noch nicht formuliert, doch offenbar verband ich die Stadt mit dem Faible meines Bruders für Joy Division und New Order, mit dem Club Hacienda, mit den schaurigen Bildern von Ian Curtis auf Granada Television, in denen er zu „Shadowplay“ oder „Transmission“ hohläugig und wie wahnsinnig tanzt; mit der sich schließenden Tür im Video zu „Love Will Tear Us Apart“; mit dem zum Sterben schönen, aber finsteren Begräbnis-Puls von Atmosphere.
Offen gestanden wäre ich an jenem Abend gar nicht aus dem Haus gegangen, wenn nicht Rose und – ebenso wichtig – die Go-Betweens gewesen wären. Don hatte mir ihre auf Postcard veröffentlichten Singles hinterlassen, und „Hammer The Hammer“ war früher in jenem Sommer eine der besten Neuerscheinungen auf Rough Trade gewesen. Ich