The Who - Maximum Rock III. Christoph Geisselhart
der freudianischen Spekulation.
Fakt ist, dass Lambert deutlich länger als drei Monate in Louise Fitzgeralds Wohnung lebte. Während dieses Aufenthalts, so bestätigt seine Versorgerin, suchte er mindestens noch ein weiteres Mal Bill Curbishley auf, um seine Wiedereinsetzung als Who-Manager zu bewerkstelligen. Logischerweise ließ sich der gradlinige und professionell denkende Curbishley auf keinerlei Zusagen ein. Keiner in der Who-Entourage, außer dem mitfühlenden und selbst in ein Psychodrama gleitenden Pete vielleicht, hätte Kit Lambert noch ernstlich zugetraut, dass er einer geordneten Arbeit nachgehen könnte. Zumal die Analyse, die Lambert in Cannes aufgestellt hatte, keineswegs zutraf: Die Geschäfte des Who-Konzerns liefen nämlich mit weltweit zwei Filmen in den Kinos und einer gleichzeitig anstehenden Tournee wie geschmiert.
Zehn Tage nach dem Konzert in Nürnberg startete der erste Teil der USA-Rundreise, ein zweiwöchiger Trip an die Ostküste mit Auftritten in New Jersey und im Mekka der kommerziellen Unterhaltungsindustrie, im Madison Square Garden von New York City. Über hunderttausend Menschen sahen dort sieben spektakuläre Aufführungen. The Who hatten zusätzlich eine dreiköpfige Bläsergruppe engagiert, um ihr musikalisches Spektrum auf der Bühne zu erweitern, und sie nutzten die Freiheiten, die ihnen die größere Besetzung gab, weidlich aus. Ihr ohnehin sehr anspruchsvolles Best-of-Set reichte von „Boris The Spider“ bis „Trick Of The Light“ mit Johns sensationellem Powerspiel am achtsaitigen Bass, zu dem Pete den regulären Basspart übernahm; es reichte von „I Cant’t Explain“ bis „Long Live Rock“, von „Substitute“ bis „Won’t Get Fooled Again“, von „My Generation“ bis „Magic Bus“ und von „Pinball Wizard“ bis „5:15“ – und zu diesem traumhaften Medley aus den erfolgreichen Who-Alben Tommy, Who’s Next, Quadrophenia und Who Are You kamen noch die Sechzigerjahrehits, die sie souverän herunterrotzten und je nach Lust und Laune abwandelten.
Außerdem gab es noch völlig neue Klänge. Schon am zweiten Abend in New Jersey fiel die Band scheinbar wie aus dem Nichts in „All Right Now“ von Free ein, wohl um Rabbits frühere Verdienste zu würdigen; dazu kamen das lange nicht mehr auf der Bühne gehörte Stück „Road Runner“, „Pictures Of Lily“ und „Big Boss Man“ von Willie Dixon – eine Premiere wie der zwei Tage später in New York aus dem Songkatalog gezauberte neue Titel „Cats In The Cupboard“, der im Jahr danach auf Petes Soloalbum Empty Glass erscheinen sollte.
Weitere Auszüge aus Petes eigenem Schaffenszyklus folgten am 16. September im Madison Square Garden. Hier vernahm man mit „Dance It Away“ ein Stück, das Pete auf seinem übernächsten Soloalbum, All The Cowboys Have Chinese Eyes, veröffentlichen sollte; zwei Tage später gab es eine erste Kostprobe von „I’m An Animal“, das sich ebenfalls 1980 auf Empty Glass wiederfand. Der Komponist dokumentierte damit nicht nur seine Souveränität, sondern auch ein Stück weit seine Unsicherheit und Wankelmütigkeit. Er schien erst ausprobieren zu müssen, welche Titel er für die Who opfern sollte und welche er für sich zurückbehalten durfte.
Doch auch alte Nummern intonierte die Band munter weiter. Am liebsten bedienten sie sich der frühen Coverversionen, die sie zu gekonnten Improvisationen im Anschluss von „My Generation“ ausbauten. Am 18. September waren dies beispielsweise „Shakin’ All Over“ und „Please Don’t Touch“ von Johnny Kidd & The Pirates sowie „Sweets For My Sweet“ von den Searchers; darauf folgte die Motown-Nummer „Dancing In The Street“ (Martha And The Vandellas) aus der Feder von Marvin Gaye, die sie zuletzt 1966 in Stockholm gespielt hatten. Diese Reminiszenz konterkarierten sie schließlich knallhart mit „Pretty Vacant“ von den Sex Pistols.
Am erstaunlichsten an dieser Show mit dreißig Titeln aber war, dass Pete sich mittendrin nach einer besonders heftigen Windmühlen-Attacke bei „Who Are You“ schwer an den Schaltknöpfen seiner Gitarre verletzte und mit einer bluttriefenden Hand die Bühne verlassen musste. Backstage nähte ein Arzt die aufgeschlitzte Hand, während die verbliebenen vier Musiker unter Leitung von Roger improvisierend die Zeit überbrückten. Die Stegreifvorführung mündete im ersten Who-Schlagzeugsolo von Kenney Jones; Roger wechselte sodann von der Mundharmonika an Petes Gitarre, begann „My Generation“, und John schloss sich mit einem ausgedehnten Soloritt über den langen Hals seiner Bassgitarre an.
Bei „Magic Bus“ hatte der Arzt in den Kulissen seine Arbeit an der rechten Gitarristenhand verrichtet, und Pete stürmte zurück ins Rampenlicht. Er demonstrierte alsgleich mit „Pinball Wizard“, weshalb er in erster Linie für die Saitenarbeit bei den Who zuständig war und nicht Roger, der Petes Wunsch nach einem zweiten Gitarristen beseelt aufgegriffen hatte und nun selbst wieder gelegentlich wie in alten Detours-Zeiten die Saiten zupfte. Tags darauf stellte Pete gegen Ende der letzten Show die Dinge mit einem kleinen „Saitenhieb“ endgültig klar: „Letzte Nacht wurden alle, die dabei waren, mit einem ungewöhnlichen Anblick belohnt. Roger Daltrey spielte Gitarre, während ich meine Hand richten ließ. Also halte ich eine kleine Aufmerksamkeit für angemessen. Herausrollen, bitte!“ Und auf Petes Geheiß schob ein Roadie eine billige E-Gitarre und einen winzigen Verstärker auf die Bühne und schloss das wenig imposante Ensemble an den Strom an. Roger spielte einen Akkord, worauf Pete protestierte: „Viel zu laut!“ Dann ging es mit „Shakin’ All Over“ weiter, und bei „Road Runner“ wurde ein Kuchenbüffet auf die Bühne gekarrt, das groß genug war, um ein Männerwohnheim zu verköstigen und infolgedessen ausreichend Munition für die abschließende Tortenschlacht lieferte.
Das Time Magazine widmete „der triumphalen Rückkehr der Who“ einen ausführlichen Bericht, wobei es besonderes Augenmerk auf die offenbar sehr speziellen Fans der Gruppe legte: „The Who spielen für ein Publikum, das alterslos scheint. Für diese Kids ist Rock’n’Roll weit davon entfernt, bloße Unterhaltung zu sein; eher ist es für sie eine Frage von Leben und Tod.“ Die buchstäbliche Richtigkeit dieser Feststellung sollte sich bald tragisch bewahrheiten.
Nach einer dreiwöchigen Pause in London und vier Auftritten, die dem britischen Modpublikum geschuldet waren, setzen The Who ihre USA-Tournee fort. The Kids Are Alright und Quadrophenia kamen im Herbst in Amerika in die Kinos, und so waren Eintrittskarten für die dreizehn Konzerte Mangelware, obwohl die Gruppe in Arenen spielte, die bis zu fünfzigtausend Personen Platz boten. Tourbegleiter Richard Barnes erinnert sich:
„Mir fiel auf, wie unterschiedlich die Zuschauer in den USA und in England waren. In Großbritannien herrschte trotz der Treue der Fans nicht diese schiere Begeisterung. Das Publikum in England war viel kritischer als in den Staaten, wo die Kids entschlossen wirkten, sich einfach nur gut zu amüsieren. Niemand fühlte sich wie in einer Jury, die am Ende Punkte zu vergeben hat. Zudem hatte in England die Punk-Revolution stattgefunden und bewirkt, dass etablierte Bands noch argwöhnisch beobachtet wurden. Logischerweise spiegelte sich das im Auftritt der Gruppe wider. In den USA begann ein gewaltiges Gebrüll, kaum dass der erste Akkord angeschlagen wurde, und die Energie schwappte zurück auf die Bühne, so dass selbst relativ kleine Zuschauerzahlen ausreichten, um eine überwältigende Atmosphäre zu erzeugen.“
Bereits die erste Show im eher kleinen Masonic Auditorium in Detroit wurde zu einem von Hysterie und Euphorie getragenen Rockspektakel, wie es nur ganz große Bands zelebrieren können. Überraschungssongs dieses Abends waren „I Can See For Miles“, „Young Man Blues“ und „Dancing In The Street“, das mit Petes Stück „Dance It Away“ kombiniert wurde. „Ihr – oder eure Eltern – habt damals unserer ersten Platte in Detroit zum Durchbruch verholfen“, erinnerte Pete die örtlichen Fans an eine lange Beziehung, die 1965 mit „I Can’t Explain“ begonnen hatte.
Am 3. Dezember machten The Who nach einem Auftritt in Pittsburgh Station in Cincinnati im Bundesstaat Ohio. Das dortige Riverfront Coliseum, ein erst vier Jahre zuvor erbautes ovales Hallenstadion, in dem normalerweise die örtliche Eishockeymannschaft Cincinnati Stingers vor bis zu zehntausend Zuschauern ihre Heimspiele austrug, bot an diesem Abend fast neunzehntausend Personen Platz. Auch die Karten für dieses Who-Konzert waren innerhalb kürzester Zeit verkauft gewesen. Fast alle Tickets kosteten gleich viel, etwa zehn Dollar, und garantierten dem Inhaber nicht mehr, als dass er in die Halle passte.
Für US-Rockkonzerte war das damals die gängige Praxis. Man nannte diese Platzverteilung Festival Seating. In