The Who - Maximum Rock III. Christoph Geisselhart
bezogen wir unsere Informationen. Dank John, der erkannt hatte, dass keiner schlafen konnte und sich jeder in seinem Zimmer eingesperrt fühlte, kamen wir allmählich zur Ruhe, indem wir einfach nur zusammenblieben und jemanden zum Reden hatten. Am nächsten Morgen erwachte ich gegen sechs Uhr dreißig und schaltete den Fernseher ein. Namen, Anschriften und Alter der Opfer flimmerten über den Bildschirm. Ich lag im Bett und fing an zu heulen. Das Hotel war voller Presseleute und Kamerateams. Auf dem Weg zum Frühstück lief ich drei Reportern vom Time Magazine in die Arme. Vor Bills Zimmer stauten sich an die dreißig Journalisten, drinnen gab die Band eine kurze Erklärung ab. Dann wollten wir gehen und begaben uns zum Aufzug. Irgendwie war Kenney vergessen worden, also lief ich zurück, holte ihn und bugsierte ihn durch die Presseleute hindurch in den Aufzug. Es war eine bizarre Situation. Pete, Roger, John, Kenney, Rabbit, Bill und noch ein paar andere standen im Lift und warteten, dass der sich in Gang setzte, und uns gegenüber standen wenigstens sechs Reporter, ein Kameramann und die Fotografen, die unentwegt filmten, knipsten und fragten. Die Band war geschockt und rührte sich nicht. Endlich sagte Bill: ,Würden die Herren von der Presse jetzt bitte zurücktreten?‘ Nach einer Reihe weiterer Fragen gingen die Reporter endlich, und der Aufzug fuhr ins Erdgeschoss. Umgeben von Wachleuten wurden wir vom Hotelmanager an verdutzten Köchen und Mülltonnen vorbei durch Wäschezimmer und Küche in den Hinterhof zu einigen wartenden Autos geschleust. Wir rasten davon und ließen die meisten Presseleute zurück. Ein Fernsehteam folgte uns bis ins Flugzeug, das wir für den Flug zum nächsten Auftritt in Buffalo gebucht hatten. Die Fluggesellschaft verweigerte aber die Erlaubnis für Interviews an Bord. Bei der Ankunft warteten schon wieder Kamerateams, aber die Gruppe verließ die Maschine über eine eigene Treppe, die direkt zu den vorgefahrenen Autos führte.“
Richard Barnes’ Schilderungen spiegeln nachvollziehbar wider, weshalb die Schuldgefühle bei der Band immer größer wurden. Verfolgt und getrieben von den bohrenden Fragen der Journalisten – ein Veranstalter wollte sogar, dass sie die Stadt bei Nacht und Nebel wie Verbrecher verließen – gewannen Pete, Roger und John den Eindruck, dass sie persönlich am Tod von elf Menschen Anteil trugen. Je mehr über die Opfer bekannt wurde, desto stärker wurden ihre Schuldgefühle: Jacqueline Eckerle und Karen Morrison, fünfzehnjährige Freundinnen, waren gemeinsam zum Who-Konzert gegangen; sie kamen nicht mehr nach Hause. Brian Wagner, siebzehn, starb, sein Bruder überlebte. Connie Sue Burns, einundzwanzig und Mutter von zwei kleinen Kindern, war mit ihrem Ehemann unterwegs gewesen. Eine weitere junge Mutter hinterließ zwei kleine Kinder. Die elf Toten waren zwischen fünfzehn und siebenundzwanzig Jahre alt geworden – sieben Teenager, vier Erwachsene; sieben männlich, vier weiblich: „Ein repräsentativer Querschnitt der Who-Fans“, wie Dave Marsh in seiner Biografie kühl vorrechnet.
Man kann es auch taktvoller ausdrücken: dass nämlich ein Teil von The Who in dieser Tragödie, der furchtbarsten in der Geschichte US-amerikanischer Rockkonzerte, zweifellos mit den Opfern starb.
Um es klar zu sagen: The Who trugen keinerlei messbare Schuld. In den umfangreichen Untersuchungen, die auf das Unglück folgten, wurde nie ein Fehlverhalten der Band oder ihrer Manager erwähnt. In der abschließenden neunzigseitigen Dokumentation, an der eine zur Vermeidung ähnlicher Katastrophen einberufene Kommission in Cincinnati zwei Jahre gearbeitet hatte, tauche die Gruppe nicht einmal namentlich auf. Doch das änderte nichts daran, dass die Toten das Gewissen der Musiker nachhaltig bedrückten.
„So etwas kann bei einem Fußballspiel passieren oder bei einer Universitätsfeier“, erkannte Pete. „Es war mehr ein Zeichen für die Jugendlichen, die zu Rockkonzerten gingen, sich betranken und wahllos Drogen einnahmen. Aber das bedeutete nicht, dass wir uns nicht schuldig fühlten. Es war ein symbolischer Augenblick, und wir hätten ihn entsprechend würdigen sollen. Leider taten wir das nicht. Ich trank damals so viel, dass mir nicht bewusst war, was ich sagte. Ich sagte einige dumme Sachen, was die Familien der Opfer verletzte. Ich sagte zum Beispiel: ‚Alle wollen anscheinend, dass wir uns eine theatralische Träne aus dem Auge wischen, während wir aber nichts anderes tun können, als weiterzumachen.‘ Das ist nicht richtig. Wir hätten durchaus anhalten können. Wir hätten in Cincinnati bleiben müssen. Wir hätten den Familien beistehen können. Ich weiß auch nicht genau, warum wir das nicht taten. Wahrscheinlich weil so viel Geld hinter der Tour steckte. Es hätte ein riesiges rechtliches Durcheinander gegeben, wenn wir die weiteren Auftritte abgesagt hätten. Unsere Vorstellung war: Wir fahren nach Buffalo, und wir tun das für die gestorbenen Jugendlichen. Das war natürlich Blödsinn. Unsere Berater, unsere Anwälte lagen komplett falsch. Die Plattenfirma, die Manager, mein Anwalt, die Fans, alle. Und über allen thronte ich selbst als König der Dummheit. Das Erstaunliche für uns war, dass wir für einen kurzen Moment, als man uns nach dem Konzert mitteilte, dass elf Kids gestorben waren, unseren Schutzschild aufgaben. Nur für eine Sekunde. Dann war sie wieder da, unsere ‚Tour-Rüstung‘. Wir sagten uns: Scheiß drauf, durch so eine Sache lassen wir uns nicht aufhalten.‘ Wir mussten das Geschehen vor uns selbst klein reden, denn wenn wir uns seine wahre Bedeutung eingestanden hätten – nicht im Sinn von ,so ist Rock’n’Roll‘, sondern: ,Die Tragödie geschah bei einem unserer Konzerte, und deswegen betrifft sie uns‘ – wenn wir uns das eingestanden hätten, dann hätten wir nicht weitermachen können. Aber das mussten wir. Wir waren eine Rock’n’ Roll-Band. Wenn du auf Tour gehst, wirfst du dich in eine Rüstung und agierst wie in Trance.“
Wie Pete angedeutet hat, gibt es in der Geschichte der Rockmusik andere Beispiele für das Verhalten nach Katastrophen. Beim Roskilde-Festival 2002 wurden während des Auftritts von Pearl Jam, die zweifellos zu den besten Livebands der neunziger Jahre gehörten, neun Menschen erdrückt. Das Festival galt als einer der sichersten Konzertorte Europas; entsprechend groß waren der Schock und das Gefühl von Hilflosigkeit. Das Festival wurde zwar ebenfalls nicht unterbrochen, um ein Chaos zu verhindern, aber die neunzigtausend Besucher und die teilnehmenden Musiker erhielten die Möglichkeit, die Tragödie in einer gemeinsamen Zeremonie aufzuarbeiten. Pearl Jam sagten den Rest der Tournee ab und erklärten, sie würden nie wieder auf einem Festival auftreten. Heute erinnern neun Birken und eine Gedenktafel mit der Aufschrift „So zerbrechlich sind wir“ an das Unglück.
Das Riverfront Coliseum gehört inzwischen einem großen amerikanischen Kreditunternehmen und trägt keine Gedenktafel. Es durchlebte nach 1979 eine wechselvolle Geschichte. Die Stadt Cincinnati hatte es zunächst schwer, neue Veranstaltungen für die Halle zu buchen, obwohl die Verwaltung sofort ein wegweisendes Verbot für das folgenschwere Festival-Seating erließ. 1980 gastierten im Coliseum die unerschrockenen Südstaatenrocker von ZZ Top, ein Jahr später Black Sabbath – und jedes Mal waren alle sechzehn Eingangstüren durchgehend geöffnet. Die Halle blieb Bestandteil eines Sportkomplexes, der im Dezember 2002, fast genau dreiundzwanzig Jahre nach dem tragischen Who-Konzert, abermals für Schlagzeilen sorgte, als das angeschlossene Baseballstadion unter dramatischen Umständen einstürzte. The Who hatten damals (im Herbst 2002) gerade ihre erste Tournee nach dem plötzlichen Tod von John Entwistle abgeschlossen. In der Berichterstattung wurde der Bassist, der einst auf der Bühne mit seinem makabren Skelettlederanzug für Aufsehen gesorgt hatte, zwar meist schmerzlich vermisst, aber es hieß auch: „The Who, die schon 1982 ihr angeblich letztes Konzert gegeben hatten, kamen zurück – mit zwei Stunden und fünfzehn Minuten leidenschaftlicher, lauter und zumeist erregender Musik.“
Der Tod hat diese Band anscheinend schon immer eher inspiriert als abgeschreckt. Immer weiter zu spielen, das war ihre große Stärke, auch wenn es unter menschlich-moralischen Gesichtspunkten manchmal fragwürdig wirkte. Aber das waren Kriterien, die für gewöhnliche Sterbliche gelten mochten; für Unsterbliche wie The Who galten sie nicht.
4.: Empty Glass: Die wilde Tour der leeren Gläser und die Frage, ob Pete im Alleingang die besseren Who-Songs macht
„Die meisten meiner Songs handeln von Jesus.“
Pete Townshend
„Genau besehen macht Pete Townshend sowieso bessere Who-Platten als die Who selbst.“
Keith Richards, Rolling-Stones-Gitarrist
„Völliger Blödsinn.“
Johns Antwort auf Keith Richards
„Ich