Gestalten mit Licht und Schatten. Oliver Rausch

Gestalten mit Licht und Schatten - Oliver Rausch


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– Kurzzusammenfassung

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      Linienführung

      Die senkrechte Schattenlinie auf der Stirn wirkt wie ein »Hinweispfad«, auf dem das Auge des Betrachters zum Auge der Schattenseite des Modells hingeführt wird – mit der Folge einer weiteren Betonung. Die Schattenlinie beschreibt im weiteren Verlauf von oben nach unten eine mehrfach geschwungene S-Kurve, beginnend bei der Stirn über die Nase und die Lippen bis hinunter zum Kinn und die Halspartie, wodurch die Gesichtsformen deutlich modelliert werden. Diese S-Kurven sind zum Beispiel auf den Lippen und am Kinn wichtig, um diesen Körperteilen im flachen Bild Dreidimensionalität zu verleihen.

      Flächenaufteilung

      Die Schattenlinie teilt die Stirn in etwa ein Drittel zu zwei Dritteln, was eine spannende und zugleich harmonische Teilung ergibt. Die dunkle Gesichtshälfte – gestalterisch eine große, langweilige, dunkle Fläche ohne besondere Struktur – wird durch das Auge »durchbrochen«, was ihr Spannung und Lebendigkeit verleiht.

      Bilder, die mit Seitenlicht ausgeleuchtet werden, wirken aufgrund der großen Flächen, die im Schatten liegen, sehr düster, melancholisch, gedrückt, depressiv. Sie können aber auch Gefahr oder das Unheimliche zum Ausdruck bringen, da in den dunklen Schatten eher Bedrohliches als Erfreuliches vermutet wird. Ist das Motiv im ansonsten dunklen Bildraum eher klein dargestellt, kann Seitenlicht das Verlorene, Einsame und Verlassene unterstreichen. Die oben genannten Schritte zur Platzierung der Lampe sagen zunächst nichts über die Kameraposition aus. Sie können sich mit Ihrer Kamera nach erfolgter Ausleuchtung 180° frei um Ihr Modell herumbewegen. Sie sollten lediglich darauf achten, dass Sie mit Ihrer Kamera auf der Schattenseite des Modells bleiben. Das Licht steht dann auf der abgewandten, der kurzen Seite des Modells.

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      Abbildung 2–5

      Seitenlicht aus unterschiedlichen Kamerastandpunkten gesehen

      

      Kameraposition bei Seitenlicht

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      In diesem Abschnitt werde ich auf einige klassische »Fehler« eingehen, die Ihnen immer wieder begegnen können. Dabei weise ich darauf hin, dass all diese »Fehler«, wenn sie bewusst eingesetzt werden, sehr wohl spannende Bilder erzeugen können. Es sind »Fehler« in dem Sinne, dass man sie in aller Regel nicht machen sollte, wenn man ein natürlich wirkendes, das Tageslicht in harmonischer Weise nachahmendes Bild erhalten möchte. Es sind insofern Fehler, als sie sich oft unbeabsichtigt einschleichen und dann zu Irritationen im Bild führen können. Oft stehen sie der beabsichtigten Wirkung oder Aussage dann entgegen.

      Seitenlicht auf der langen Seite

      Positionieren Sie sich mit Ihrer Kamera auf der hellen Seite des Modells, fällt das Seitenlicht also auf die lange Seite, wirkt das Bild meist spannungslos und wenig plastisch. Die Wange erscheint als große, für das Auge des Betrachters langweilige Fläche. Der uralte Merksatz »Große langweilige Flächen, die solltest du durchbrechen« ist nicht mehr realisiert. Das zweite Auge ist kein magisch leuchtender Akzent mehr. Auf das der Kamera zugewandte Auge verweist nun auch keine Schattenlinie auf der Stirn, die das Auge des Betrachters dorthin leiten könnte. Dafür ist nun das Ohr des Modells prominent im Bild vertreten und der Blick des Betrachters wird durch den Haaransatz dorthin geführt. Das Modell vermittelt bei dieser Ausleuchtung zudem einen »einäugigen« Eindruck.

      In der Praxis wird Seitenlicht dennoch oft auf der langen Seite eingesetzt – vermutlich weil so der Bildkontrast deutlich geringer erscheint und damit die Belichtung einfacher zu kontrollieren ist. Das bedeutet aber oft, den Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben. Denn was bringt Ihnen ein gut belichtetes Bild mit vielen Grauabstufungen, wenn das Modell flächig erscheint und keine Spannung im Bild herrscht, der Blick des Betrachters sogar von den Augen des Modells weg und zu den Ohren gelenkt wird?

      Ich plädiere eher für die Lösung, das Licht auf der kurzen Seite zu setzen, um die oben beschriebenen gestalterischen Vorteile voll zu nutzen, die technischen Nachteile durch gezieltes Aufhellen der Kontraste in den Griff zu bekommen und bei dieser Arbeit die Histogramme immer im Blick zu behalten.

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      Abbildung 2–6

      Seitenlicht auf der langen Seite

      

      Exkurs

      Es gibt ein Porträt von Irving Penn, das Pablo Picasso zeigt. Geben Sie bitte in der Bildersuche bei Google die Begriffe »Picasso« und »Penn« ein oder verwenden Sie den nebenstehenden QR-Code. In diesem Bild steht das Seitenlicht auf der langen Seite. Die der Kamera zugewandte Wange wird aber mit einem Mantelkragen durchbrochen und teilweise verdeckt, wodurch sie kein gestalterisches Problem als große leere Fläche mehr darstellt. Das Ohr wird ebenfalls teilweise verdeckt, wodurch der Betrachter nicht mehr so stark darauf gelenkt wird. Dadurch, dass die kurze Seite nahezu schwarz erscheint und das zweite Auge im tiefen Schatten nur noch zu ahnen ist, entsteht ein eindringliches Porträt von Picasso. Er scheint ganz Auge zu sein, das zudem den Mittelpunkt des Bildes einnimmt.

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      Penn ist ein Meister des Porträts und fast alle seine Aufnahmen zeigen die Modelle mit Licht von der langen Seite aus beleuchtet. Er achtet dabei sehr genau auf plastische Bildwirkung, Akzentsetzung, Linienführung und darauf, wie der Blick des Betrachters gelenkt wird. Weichen auch Sie von der Regel ab, dass ein Porträt eher auf der kurzen Seite beleuchtet werden sollte, so ist es sinnvoll, wenn Sie auf all diese Aspekte bewusst Ihr Augenmerk legen. Auch in der Malerei des Barock sind zahlreiche Porträts mit Licht auf der langen Seite der Modelle entstanden. Diese tragen oft Perücken, Hüte, Federn, Schals oder Fächer, die das Ohr als störenden Akzent verdecken, Schatten auf die erleuchtete Wange werfen und diese dadurch brechen. Bei den Damen wird die flächig beleuchtete Wange durch ein auffälliges Rouge plastisch modelliert. Der Schönheitsfleck bricht zudem die sonst flächige Wange und bietet dem Auge des Betrachters Halt. Bei den Herren wird die beleuchtete Wange der langen Seite mit einem zarten Schattenwurf gemalt, der sich bei dieser Ausleuchtung nicht ergeben würde. Stellen Sie ein solches Porträt nach, ergeben sich in einem Foto dort kaum Schatten, wo der Maler sie zur plastischen Modellierung in künstlerischer Freiheit sehr einfach annehmen kann. Geben Sie einfach »Porträt Barock Malerei« in die Bildersuche bei Google ein oder klicken Sie hier.

      Dennoch möchte ich erwähnen, dass Licht auf der langen Seite großartige Bilder möglich macht, wenn Sie sich der damit verbundenen gestalterischen Schwierigkeiten bewusst sind und diese zu nutzen oder zu umgehen verstehen.

      Licht auf der kurzen Seite ist krisensicher, da es von sich aus keine derartigen zu korrigierenden Aspekte schafft. Versuchen Sie also zunächst all die positiven Effekte kennenzulernen, die eine Ausleuchtung von der kurzen Seite mit sich bringt. Und wenn Sie im Erkennen von Lichtwirkungen sicher sind, experimentieren Sie selbst ganz


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