Venedig. Geschichte – Kunst – Legenden. Max R. Liebhart
pietra d’Istria zu schaffen. Spätestens nach 1204 ist man dazu übergegangen, Steine geradezu zu sammeln, weswegen überall dort, wo die Möglichkeit dazu bestand, Spolien erworben oder geraubt wurden. Doch dienten diese Stücke weniger als Baumaterialien, sondern vielmehr als Zierstücke, wovon man sich insbesondere an San Marco überzeugen kann – mehr als vierzig verschiedene Steinarten sind dort an den Fassaden verbaut. Weitere Baustoffe waren Kalk, Sand und Wasser, die Bestandteile von Mörtel und Gips. Der Kalk kam aus den Gegenden von Padua und Treviso. Den Sand bezog man nicht, wie eigentlich zu erwarten, von den Küsten der Lagune – die Entnahme hätte dort zu einer Erosion insbesondere der lidi geführt –, sondern aus den Flussbetten, z. B. der Brenta, die dadurch gleichzeitig ausgebaggert wurden. Süßwasser war in Venedig immer ein großes Problem, das durch die Anlage von Zisternen praktisch unter jedem campo nur zum Teil gelöst werden konnte. Wie schon erwähnt, mussten zusätzlich ganze Flotten von Transportschiffen eingesetzt werden. Es gab sogar Überlegungen, einen Aquädukt von den Alpen in die Stadt zu bauen. Es ist allerdings nicht bekannt, aus welchen Gründen dieses Projekt nicht verwirklicht wurde.
Architektur
Wie kaum in einer anderen Stadt gab es in Venedig während der gesamten Zeit ihres Bestehens eine immense schöpferische Tätigkeit. Auf Grund des jahrhundertelangen ungeheuren Reichtums war man in der Lage, die besten Künstler anzuwerben. Schon aus diesem Grunde sind alle Stilrichtungen in Venedig vertreten. So stammt die Krypta von San Marco, das älteste Bauwerk der Stadt, aus vorromanischer Zeit, nämlich aus dem 9. Jahrhundert. Die Romanik ist in Venedig byzantinisch geprägt, was an den sogenannten „gestelzten Bögen“ erkennbar ist, bei denen die Wölbung der Bögen nicht unmittelbar am Kapitell, sondern erst nach einem weiteren senkrechten Intervall beginnt. Beispiele hierfür gibt es recht viele, sie sind unter anderen an SS. Maria e Donato auf Murano, S. Maria Assunta auf Torcello, dem Fondaco dei Turchi, an der Ca’ Farsetti und der Ca’ da Mosto zu sehen. In der Gotik entstanden riesige Kirchen wie SS. Giovanni e Paolo oder S. Maria Gloriosa dei Frari, daneben aber insbesondere eine große Zahl von Palästen mit reichem und fantasievollem Maßwerkschmuck der Fassaden, allen voran der Dogenpalast selbst. Die Renaissance ist mit vielen Beispielen vertreten, sowohl im Sakralbau (S. Giovanni Crisostomo, Miracoli, Palladio-Bauten) als auch mit scuole (Scuola Grande di San Marco, Scuola Grande di San Rocco) und Palästen (Vendramin-Calergi, Grimani, Ca’ Grande, alle am Canal Grande). Im Barock entstanden beispielsweise die Kirche S. Maria della Salute sowie die Ca’ Pesaro am Canal Grande, im Rokkoko die Ca’ Rezzonico, ebenfalls am Canal Grande. Klassizistisch ist die Kirche S. Maddalena, die noch aus der Zeit der Republik stammt, sowie der Bischofspalast neben San Marco, weiterhin der Ballsaal Napoleons am Markusplatz in der Ala Napoleonica.
Sakralbauten
Drei architektonische Grundformen prägen das Gesicht der venezianischen Sakralbauten, nämlich die der Zentralkuppelkirche, der Basilika und der Saalkirche. Solange diese Baugedanken von Venezianern oder von solchen Architekten formuliert wurden, die sich der lokalen Bautradition angepasst hatten, sind die Sakralräume streng geformt und erstaunlich nüchtern. Das gilt sogar auch für die im Barock erbaute Kirche Santa Maria della Salute. Ein neuer Ton kam erst mit der Kirche Gesuiti oder mit der Scalzi-Kirche in die Stadt, deren Baugedanke mehr von römischem Stilempfinden bestimmt wurde.
Für die Zentral- oder auch Kreuzkuppelkirche gibt es zahlreiche Beispiele. Mutter dieser Bauform ist San Marco, somit ein Bauwerk, das unmittelbar aus der oströmisch-byzantinischen Tradition abgeleitet ist, handelt es sich hier doch um eine frühe Kopie der 1453 zerstörten Apostelkirche zu Byzanz aus dem 6. Jahrhundert. Daneben seien erwähnt S. Giacomo del Rialto, S. Maria Formosa, San Felice, San Giovanni Crisostomo und San Salvatore (letztere stellt eine Übersetzung der Formensprache von San Marco in die der Renaissance dar). Der architektonische Grundgedanke ist einfach: Ein zentraler Raum mit quadratischer Grundfläche und überwölbender Kuppel wird an seinen vier Seiten von vier niedrigeren, tonnengewölbten Kompartimenten flankiert. Auf diese Weise entstehen in den Ecken vier Zwickel, die niedriger als der Zentralraum sind und von kleinen Kuppeln überfangen werden. Projiziert man die fünf Kuppeln auf den Boden, so ergibt sich das Bild der quincunx, entsprechend der „5“ des Würfels. Die vier kleineren Kuppelräume werden durch Tonnen verbunden, die wiederum den Zentralraum flankieren und fassen. Im Grundriss stellen sich diese Tonnen rechteckig dar. Bei San Marco, San Salvatore und bei San Fantin sind mehrere solcher „Bausteine“ miteinander verknüpft, und zwar in der Weise, dass jeweils ein Tonnengewölbe zu zweien der Bausteine gehört.
Leitet sich die Zentralkuppelkirche aus östlicher Überlieferung ab, so steht die Form der Basilika in der Tradition Westroms. Sie ist von den Markt- und Gerichtshallen römischer Foren abgeleitet, aus deren Architektur die katholische Kirche im 3. Jahrhundert den für sie typischen Sakralbau entwickelte. In der Sakralarchitektur Venedigs drückt sich also die Zwischenstellung der Stadt zwischen Ost und West aus. Grundgedanke der Basilika ist der eines langrechteckigen Raumes, der durch Säulen- oder Pfeilerstellungen in ein breiteres, höheres Mittelschiff und zwei (oder auch vier) schmälere und niedrigere Seitenschiffe gegliedert wird. Das Presbyterium, der dem Priester und dem Sakrament vorbehaltene Raum, wurde zunächst durch das Halbrund der Apsis vor dem Mittelschiff gebildet. Dieses System wurde später in mannigfaltiger Form erweitert, so durch Seitenapsiden, durch Zwischenschaltung eines meist quadratischen Chorraums sowie durch die Einfügung eines Querschiffes. In Venedig gibt es zahlreiche Kirchen in Form einer Basilika, als Beispiele seien SS. Maria e Donato auf Murano aus romanischer Zeit, die Bettelordenskirchen aus gotischer Zeit und die Palladio-Kirche S. Giorgio Maggiore aus der Renaissance genannt.
Der Saalbau verzichtet, wie der Name sagt, auf jegliche Unterteilung des Innenraumes. Die Innenarchitektur des schlichten Baukörpers beschränkt sich auf die Gliederung der Wände, sei es durch Pilaster, Halbsäulen, Nischen in der Vertikalen, durch Gesimse in der Horizontalen, sei es durch die stets vorhandenen Seitenaltäre. An den „Saal“ schließen sich regelmäßig Presbyterien an, die meist dreiteilig sind. Oft finden sich soffitti, reich verzierte und bilderreiche Deckenarchitekturen. Auch dieser Kirchentypus ist in Venedig ausgesprochen häufig; Beispiele sind San Giuliano, San Moisè und SS. Apostoli.
Will man die venezianische Sakralarchitektur zusammenfassend beschreiben, so lässt sich sagen, dass der Venezianer einen weiten, möglichst unverstellten Raum liebt, was die große Zahl der Saalkirchen beweist. Auch die Art, wie die beiden anderen Architekturformen in Venedig abgewandelt werden, unterstreicht diese Vorliebe. So existiert in San Marco nur scheinbar eine „Schiffigkeit“ durch die seitlichen Säulenstellungen vor der Vierung. In Wirklichkeit spricht in diesem Raum nur die Weite der fünf großen Kuppelräume. Ähnlich ist es in San Salvatore. Auch die Innenräume der Basiliken sind häufig nur scheinbar in drei Schiffe unterteilt, da die hier gliedernden Stellungen der Stützen oft weit und hoch sind, so dass man sie nicht als trennende Elemente empfindet, sondern den Raum eher als Einheit erlebt. Longhena hat diese Art, Räume zu deuten und zu empfinden, in der Salute-Kirche mit einem riesigen Zentralbau umgesetzt, dessen Umgang nicht als „Schiff“ in Erscheinung tritt.
Zur Kirche gehört in aller Regel ein Glockenturm, der traditionell hier wie im übrigen Italien freisteht und deshalb als campanile bezeichnet wird. Er wird verschiedentlich auch durch einen Aufbau mit Arkaden ersetzt. Die Glocken hängen in offenen Glockenstuben, eine pyramiden- oder kegelförmige, auch polygonale Spitze bekrönt das Ganze. Die Türme sind die Wahrzeichen der Stadt und wichtige Orientierungshilfen. Häufiges und wichtiges Gestaltungsmittel ist die Gliederung der Mauerflächen durch Lisenen, also durch senkrechte, schmale, flache Mauerverstärkungen. Betont werden soll, dass nur wenige Kirchen in ihrer Urform auf uns gekommen sind, während viele der Türme noch zum ersten Baubestand gehören.
Scuole
Es wäre irrig, den Begriff scuola mit „Schule“ zu übersetzen. Vielmehr handelt es sich um Bruderschaften, um Vereinigungen von Personen mit gleicher Interessenlage im weitesten Sinn. Die Gebäude, in denen sich die Mitglieder versammelten, wurden meist in unmittelbarer Nachbarschaft der Kirchen errichtet und sind ebenfalls als eine Art von Sakralbauten anzusehen. Der Ausdruck scuola bezeichnete „in spätrömischer Zeit eine Vereinigung nach gleicher Berufstätigkeit“ (Kretschmayr) und wurde von Byzanz übernommen. Jedoch waren es nicht nur Berufe, die das verbindende Moment darstellten, es gab daneben auch scuole bestimmter Nationalitäten (z. B. degli Schiavoni