Tiefenlager. Annette Hug

Tiefenlager - Annette Hug


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      Die Arbeit an diesem Roman wurde von der Stadt

      Zürich mit einem Werkjahr und von der Robert Bosch

      Stiftung im Rahmen des Programms »Grenzgänger

      China – Deutschland« unterstützt.

      Die Publikation des Romans wurde von

      der Fachstelle Kultur Kanton Zürich unterstützt.

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      © 2021 Verlag Das Wunderhorn GmbH

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      Gestaltung & Satz: philotypen

      eISBN: 978-3-88423-650-5

      Annette Hug

       Tiefenlager

      Roman

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       Große Einsiedler verbergen sich in der Stadt

      Wang Kangju

      Inhalt

       Kapitel 1

       Kapitel 2

       Kapitel 3

       Kapitel 4

       Kapitel 5

       Kapitel 6

       Kapitel 7

       Kapitel 8

       Kapitel 9

       Kapitel 10

       Kapitel 11

      1.

      Bald werden wir in Ruhe arbeiten. In neuen Häusern. Dort beginnen wir nicht von vorn, denn die Ordensregel steht. Sie ist aus unseren Fehlern gewachsen. Auch die Zahlen stimmen. Was wir einander bisher zugeflüstert oder vorgetragen, was wir aufgeschrieben, berechnet oder gesungen haben, auch was wir uns immer wieder ausgemalt haben, stelle ich hier zur Verfügung.

      2.

      Mit einem glücklichen Zufall hatte alles begonnen. Hongkong war der perfekte Ort dafür, denn dort kreuzten sich viele Wege. Es war ein Kommen und Gehen aus allen Richtungen. Zwischen den Wolkenkratzern des zentralen Bezirks besetzten Frauen in Freizeitkleidung die Gehsteige, die Parkanlagen, Sitzbänke, die Unterführungen und die abgesperrte Chater Road. Sie saßen auf Pappkartons und in Zelten, hatten sich in Decken gewickelt und mit Mützen bewehrt gegen den Wind, der im Januar richtig kalt geworden war. Eine seltsame Thermik sorgte dafür, dass die Böen zwischen den hohen Fassaden abfielen, aber auch waagrecht über den Teer fegten. Die Fußgängerpassage unter dem Turm von HSBC wurde zum Windkanal.

      Die Frauen in Freizeitkleidung waren Hausangestellte und kamen aus den südlichen Nachbarländern. Sie hatten jeden Sonntag frei, aber keine eigenen Räume, um sich darin aufzuhalten. Also verbrachten sie Stunden im Zentrum der Stadt. Sie saßen nicht nur auf, sondern auch zwischen Pappkartons. Wände wurden aufgerichtet und mit dem Kartonboden vernäht, man versammelte sich in dachfreien Zimmern. Und doch auf offener Straße. Leises Gemurmel war zu hören und Musik aus verstärkten Mobiltelefonen, oft brach in einem Kabäuschen Gelächter aus.

      Auch ein Tunnel, der die Chater Road mit der Uferpromenade verband, war dicht besetzt. Frauen massierten sich gegenseitig. Thermoskannen und Ghettoblaster heizten die Luft auf. Wer wollte, nahm einen Aufzug, um aus der Menschenmenge in die Höhe zu gelangen. Eine Passerelle gab den Blick frei auf das Ufer und das aufgeraute Wasser der Bucht. Dahinter erhoben sich die matt glänzenden Fassaden von Kowloon. Rolltreppen führten von der Passerelle hinab auf Rasenflächen. Auch dort saßen Leute eng beieinander und duckten sich. Größere Gruppen trotzten dem Wind und der Kälte durch Bewegung. Streng choreographiert und trotzdem elegant sprangen sie auf, warfen die Arme von sich, schwangen den Kopf hin und her und traten an Ort. Der Wind zerschlug die Musik, zu der sie tanzten.

      Vier Gestalten nah am Ufer hoben sich still von allen anderen ab. Ihre Bewegungen passten nicht in die Szenerie. Da turnte jemand vor, der an einen chinesischen Stadtpark in den frühen Morgenstunden erinnerte. Schwer zu sagen, wie alt die Person war; eine grellblaue Strähne fiel über ihr kurz geschnittenes, schwarzes Haar. Die Arme bewegte sie unerhört langsam hin und her, waagrecht auf Schulterhöhe, auch im Rumpf drehte sie sich nach links, dann wieder nach rechts. Übungen, die sonst nur von Rentnerinnen und Rentnern ausgeführt wurden, brachten eine seltsame Ruhe in den Wind und in die verschepperte Musik. Wobei die drei Frauen, die alles nachturnten, aus dem Takt fielen. Eine täuschte sich in der Richtung, eine andere hob den falschen Fuß. Dank der Leiterin strahlte das Grüppchen trotzdem Geschlossenheit aus.

      Über eine Rolltreppe kam eine Frau im Hosenanzug auf die Rasenfläche, bewegte sich in ungeeignet eleganten Schuhen über den Rasen und reihte sich hinter der Frau mit der grellblauen Strähne ein. Ihre Handtasche sank zu Boden, bevor sie mit den andern in die Knie ging, die Beine weit auseinander. Bald gerieten auch ihr die Richtungen und Füße durcheinander.

      Als die Vorturnerin ihre Übung beendet hatte, drehte sie sich um und stockte, sah die Fremde in ihrer Gruppe überrascht an. War das Pierina, Pina – oder hieß sie Petra? Wie kam sie auf einen Rasen in Hongkong?

      »Betty Wang?«, fragte die Frau im Hosenanzug. Sie hieß tatsächlich Petra.

      Vor langer Zeit hatte sie sich in Manila mit Kleinstkrediten beschäftigt, mit mühsam berappten Darlehenskassen in Armenvierteln. Im Hinterzimmer eines gekühlten Büros hatte sie Zahlen von Handlisten in Excel-Tabellen übertragen, Anträge und Auswertungen in europäischen Jargon übersetzt. Neben ihr war damals eine Studentin der Krankenpflege gesessen, die für etwas Geld Protokolle abtippte. Betty Wang. Beide waren knapp über zwanzig. Der Kalte Krieg war gerade zu Ende gegangen.

      Ein Vierteljahrhundert später zogen sie von der grünen Uferpromenade Hongkongs in einen Kaffeeladen. In einer verborgenen Nische saßen sie zwischen Bücherregalen und versuchten sich zu erinnern. Als sie sich kennengelernt hatten, war in der Nähe von Manila gerade ein Vulkan ausgebrochen. Eine seltsame Stille hatte sich auf die Stadt gelegt. Die Haare von Menschen, die sich im Freien aufhielten, färbten sich weiß. Ströme von Schlamm begruben Dörfer unter sich. Amerikanische Kampfflugzeuge, die unter dem Vulkan stationiert waren, verloren ihre Konturen unter dichtem Grau. In jenen Tagen


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