Tiefenlager. Annette Hug

Tiefenlager - Annette Hug


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sie nur noch als Spiel. Wenn andere im vollen Ernst die Entwicklung der mittleren Einkommen auf Punkt und Komma vorhersagten, lächelten sie müde. Der Bekannte hörte geduldig zu, als Petra von einem alten Chinesen erzählte, den sie gerade las. Ein verbannter Beamter, ein Verrückter, der nicht mehr wusste, wer er war. Seit es Kaiser gab im Reich der Mitte, hoben sie Untergebene aus dem Amt. Schickten sie in hinterste Provinzen. Und da entdeckten die Verbannten endlich den Regen und den Mondschein. Sie schrieben richtig schöne Bücher. Petra gestand dem Bekannten ihren absurden Wunsch, ein Kaiser möge sie ihres Amtes entheben. Am Nebentisch grölten Rugbyspieler.

      »Aber Du darfst die Institutionen nicht aufgeben«, entgegnete der Spezialist für Wahrscheinlichkeiten.

      Ein Konsortium, für das er manchmal arbeite, stehe kurz davor, ein altes Problem für immer zu lösen. Er sprach von Energie und von Stoffen. Petra gab sich einen Ruck und versuchte sich Sätze ins Gedächtnis zu rufen, die sie gerade eben, aber nur undeutlich vernommen hatte. Dazu schloss sie die Augen und meinte, in ein Loch zu fallen. Er beschrieb Kavernen. Richtig wach wurde sie, als sich seine Hand schwer auf ihre Schulter legte. Sie hob die Augen, um dem Bekannten direkt ins Gesicht zu blicken. Er sagte: »Ehrlich. Du kannst ein geruhsames Leben führen und damit die Welt retten. Überleg Dir das.«

      Am nächsten Morgen fand Petra ein Konzeptpapier auf ihrem Rechner. Sie las es beim Frühstück. Nach dem technischen sei das menschliche Problem zu lösen. »Vision: Kein Mensch wird durch die Strahlung eines Endlagers für nukleare Abfälle getötet.« Sie erinnerte sich vage, dass an der Bar auch Ausnahmen zur Sprache gekommen waren und die Gefährdung von Mäusen. Das Wort »Opfer« war Petra ungut in Erinnerung geblieben. In der Skizze folgten nun mehrere Passagen, die vom Allgemeinen zum Konkreten abstiegen, vom »Outcome« zu »Grenzwerten« und zur Notwendigkeit, die Gefahren des Atommülls den künftigen Generationen, Völkern oder Spezies zu übermitteln. Die Frage war: wie?

      »Ways and means: Zur Umsetzung der Ziele wird ein Orden gegründet.«

      Der Autor erlaubte sich einen Ausflug in die Geschichte, Petra las von irischen Wandermönchen, die im verheerten Europa am Rande der Zeit Abteien gründeten. »Ein Kloster ist die zuverlässigste bisher bekannte Methode, Wissen zu sichern und von Generation zu Generation zu übermitteln«, stand in der Skizze. »Zielgröße: eine Million Jahre.« Dann würde die Strahlung nicht mehr gefährlich sein. Ein Orden würde die Zeit überdauern und gegen die Gefahren warnen, die einem Endlager blühten: Erdbeben und Verblödung, Bandenkriege oder Meteoriteneinschlag, Korrosion.

      »Do no harm: Das Konsortium legt Wert darauf, mit diesem Projekt keine zusätzlichen Gefahren in die Welt zu setzen. Jede Form von Fanatismus ist zu vermeiden.« Ausgeschlossen sei, an bestehende Organisationen anzuknüpfen. »Respekt vor der Wissenschaft wird vorausgesetzt«, hatte der Bekannte an der Bar betont und war dann zur Sache gekommen, seine Hand angespannt am Glas. Sie, Petra, entspreche nicht ganz, aber doch weitgehend den Kriterien, sie kenne sich mit Wahrscheinlichkeitsrechnung aus, habe Führungserfahrung und Phantasie, sei ungebunden und wirtschaftlich bewandert, betriebs- und hauswirtschaftlich, der Orden müsse einen Alltag entwickeln, unabhängig werden, nach zwei Jahren selbsttragend.

      Betty Wang las das Konzept im Kaffeeladen. Auf dem kleinen Bildschirm von Petras Telefon stachen die Zwischentitel grün hervor. Betty nickte da und dort, lächelte auch. Schließlich wollte sie über alles nachdenken und fragte: »Wie soll der Orden denn heißen?«

      »Das weiß ich nicht.«

      »Hüter des Ewigen Feuers?«

      Petra schüttelte zaghaft den Kopf.

      3.

      In Europa lud der Zuständige zu Verhandlungen ein. Er präsentierte eine Liegenschaft. Den Namen, den er provisorisch gewählt hatte, ließ Petra in den Verträgen stehen. Sie nannte ihn aber nicht, wenn sie mit Betty über den Orden nachdachte. Niemals sprach sie von einer »Arbeitsgruppe Transtemporaler Kompetenzerhalt«.

      »Amselverein« steht in ihrem Tagebuch. Sie notierte wenig zu den Entscheidungen, die sie traf, aber viel zur Natur. Im Sommer ’15 sah Petra das Stammhaus zum ersten Mal und besuchte es vor dem Einzug öfters, saß gern in seiner Nähe unter einem Nadelbaum. Die ersten zwei Jahre des Ordens hielt sie in kleinen Beobachtungen fest.

      Auf einen langen trockenen Sommer, in dem Wespen halbreife Birnen aushöhlten, folgte ein Herbst, aber kein Winter. Das Gras wuchs auch im Januar und Wühlmäuse fielen in die Bienenstöcke ein, ließen sich nicht totstechen, fraßen Waben leer. Petra erwartete den Frühling ungeduldig. Aber es wurde dann doch noch Winter, Schnee fiel bis weit in den April. Fröstelnd saß sie unter Mirabellenblüten und träumte von einem Jahreskreis, der den Orden aus der Zeit hob. Es sollte immer Blüten geben im Frühling, man würde sich immer hinsetzen und sie bewundern können:

      »… jedes Jahr werden die Perseiden zu sehen sein im Sommer, irgendwann Mitte August wird der Himmel nachts aufklaren, Sternschnuppen werden in lockerer Folge Glück versprechen. Es wird etwas zu ernten geben im Herbst, man wird sich nicht unterkriegen lassen, die Kartoffeln feiern, das Obst einlagern und ausgiebig trinken unter dem Mond, der im September, Oktober, November besonders groß und klar erscheint.«

      Als Betty zusagte, nach Europa zu ziehen, wurde Petra zur Geschäftsführerin einer juristischen Person ernannt. Der Zuständige versprach, als guter Geist im Konsortium zu wirken und dem Orden von oben her zuzudienen. Das Stammhaus lag in einem ehemaligen Steinbruch im Wald versteckt, weit ab von allen Feldern. Am Eingang der weiten Grube waren die Hänge beidseitig abgerutscht und schlossen den Hof fast vollständig ein. Den einzigen Sonnenhang, einen Schotterkegel, hatte der Bauer, der hier siedelte, terrassiert. Er sei ein Spinner gewesen, hieß es im Dorf, und ein Verräter, sonst hätte er dem Konsortium nicht freiwillig Land verkauft.

      Als Betty und Petra im Oktober ’15 den Hof bezogen, nannten sie sich »Müllmänner«. Betty lernte Deutsch. »Wir sind hier die Müllmänner«, sagte sie häufig, etwas ironisch, aber das änderte sich, als tatsächlich Männer dazustießen. Von nun an wurden im Alltag die neutralen englischen Namen »trashers« und »dumpers« verwendet. Der Müll, dem der Orden seine Gründung verdankt, hieß und heißt manchmal Abfall, Ressource, Dreck, Güsel, Grümpel, Schrott, Kehricht, Wertstoff, Ramsch, rubbish, waste, Schutt oder einfach Rest. Dass ein Ordensmitglied irgendwann begonnen haben soll, von Reliquum zu sprechen, ist nicht wahr.

      Tief unter dem Stammhaus zieht sich eine dunkle Gesteinsschicht durch den Grund, sie ist 174 Millionen Jahre alt und beweglich. Es ist ein Wundergestein mit einem schönen Namen: Opalinuston. Schlägt man eine Höhle in diese Schicht und legt einen Behälter hinein, gießt Mantelmaterial in die Lücken, dann wird auch der Stein ein klein wenig aufquellen. Er wird den strahlenden Inhalt abschotten wie in einem uralten Bauch.

      Vor zehn Millionen Jahren wurde dieses dunkle Band hochgehoben; mehrere, parallel laufende Bergketten haben sich gebildet. Dann krochen die Gletscher von Süden heran, deckten die Gegend zu. Sie schoben Geröll vor sich her, das zurückblieb, als die Gletscher schmolzen. Moränenhügel liegen jetzt quer, manchmal parallel zu den älteren Bergketten, ein unübersichtliches Hügelland mit breiteren und schmaleren Tälern ist entstanden. Die Flüsse und Bäche halten sich nicht an die Täler, die schon da sind, sie brechen durch die Hügelzüge, fressen sich neue Quertäler, ruhig liegt nur der Opalinuston, tief unter allem Land, das Wirtgestein. Es soll den strahlenden Müll aufnehmen und ewig sichern.

      Südlich des Rheins, der sich durch dieses Hügelland zieht, werden die Bauarbeiten in zehn Jahren beginnen – es sei denn, die Pläne des Konsortiums würden von wirtschaftlichen Schwierigkeiten oder einer Volksabstimmung durchkreuzt. Seit Kurzem wissen wir, dass auch nördlich des Rheins ein Lager gebaut werden könnte. Im Tongestein. Rund um den Globus suchen Konzerne einen sicheren Ort. Und wir machen uns bereit für die vollständige Dokumentation. Wir sammeln uns und fragen, wie die Eigenschaften der Tiefenfracht festzuhalten seien. In einem universalen Code? In allen möglichen Sprachen?

      Wenn beim Stammhaus irgendwann die Baumaschinen auffahren, werden wir das aus der Ferne verfolgen, denn wir haben uns vorzeitig zerstreut. Auf drei Kontinenten halten wir unseren Tagesablauf ein und erinnern uns an


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