Tiefenlager. Annette Hug

Tiefenlager - Annette Hug


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erwähnten sie nur kurz, hüllten sich dann in Schweigen, sodass es Betty überlassen war, sich aufgeschlitzte Bäuche und abgetrennte Köpfe selbst auszumalen. Den Vätern der Jungen, die abends vor dem Haus spielten, sei nicht zu trauen. Eine Freundschaft mit Kindern, die zu Hause keinen chinesischen Dialekt sprachen, war verboten. Aber Betty konnte ihre Augen nicht von den Jungen nehmen, die in erster Linie mit dem Basketball verwandt schienen, in kerngesunder Linie, denn unter dem zerfetzten, ausgebleichten Korb bewegten sich die Jungen flink und kräftig, ihre Glieder schienen perfekt zusammenzuwirken, da brach nichts aus. Ihr Spiel ließ jeden Mord vergessen. Und Betty mochte die Sprache des Kindermädchens lieber als das Mandarin, das ihnen in der chinesischen Schule eingebläut wurde, mit wenig Erfolg. Die Lehrerin misstraute ihren Schülern. Sie verdächtigte sie, den Einheimischen ähnlich zu werden, die sie als lebenslustig, aber faul beschrieb, gutmütig, aber verlogen, den Chinesen in allen wesentlichen Belangen unterlegen.

      Das Kindermädchen war nicht nur gutmütig, sondern auch sehr herzlich, sie machte gern Witze, verballhornte nicht nur die Worte ihrer eigenen Sprache, sondern auch die chinesischen, die sie nicht verstand, sie schlug weniger hart zu als der Vater oder die Mutter. Und sie glaubte Betty sofort, als diese mit neun Jahren verkündete, ein männliches Herz in ihrer Brust zu tragen. Das sei nicht schön, sagte das Kindermädchen scheu zu den Eltern, aber es komme vor. Nicht selten sogar. Dieses Männerherz war dem Vater ein wüstes Omen, ein weiteres Zeichen des Untergangs. Als liege sein Kaiserreich einmal mehr in Trümmern. Die fremde Stadt, ihre Hitze, die Regenfluten, die Gewalt und das Laster hatten von seiner Tochter Besitz ergriffen. Sie verschloss sich allen Ermahnungen. Begrüßte insgeheim den Niedergang des vulcanizing shop, den Übertritt in die günstigere Volksschule, sie blühte auf unter den tagalog-sprechenden Kameradinnen. Von einem der Mädchen wurde sie besonders geliebt. Unter ihrem Blick soll sich Betty zum ersten Mal schön gefühlt haben, und wenn sie so eng beieinandersaßen, dass sie sich von den Oberschenkeln bis zu den Schultern berührten, schien die Zukunft golden.

      Gemeinsam bewarben sie sich für einen Studiengang in Krankenpflege und ein Stipendium. Sie wurden angenommen. Mit achtzehn hatte Betty genug von den Schlägen, die ihr das Männerherz austreiben sollten. Sie lief weg, begann ihr eigenes Leben. In der »Vita« erscheint Manila als erste Meisterin, als überragende Gestalt eines Tantenhimmels, der Bettys Glauben – und damit den Orden – geprägt hat.

      Erstmals tauchte sie nun allein in die Stadt ein, sie fragte sich durch, wenn sie am Abend Freundinnen traf oder Arbeiten auslieferte, gelangte hinter die Betonfassaden der Einkaufszentren, in die Glitzerwelt und die riesigen Kinosäle. Um Geld zu verdienen, tippte sie nachts und am Wochenende Manuskripte ab, in wechselnden Büros. Eine Lehrerin bot ihr Obdach. Betty lernte, sich selbst vor Entführern zu schützen. Die kriminellen Banden waren reicher geworden. Hatten sich die Eltern Wang noch vor kleinen Gaunern gefürchtet und vor Polizisten, die gern Chinesen schikanierten, so sahen es die neuen Banden auf Millionenbeträge ab. Sie planten ihre Übergriffe genau, beobachteten die Opfer, studierten Verwandtschaftsnetze bis in die Nebenarme, schlugen in Gruppen zu, verfügten über neue Lieferwagen und Scheinfirmen, ausländische Bankkonten, wo das Lösegeld sicher war.

      »Du darfst Dir keine regelmäßigen Routen angewöhnen«, sagte die Lehrerin, bei der Betty untergekommen war. »Die Banden operieren genauso wie einst die Todesschwadronen des Diktators. Sie beobachten Dich wochenlang, um zu wissen, wo sie unauffällig vorfahren können mit ihrem Lieferwagen. Du musst sie also täglich verwirren, indem Du immer wieder andere Wege einschlägst vom Haus zum College, vom College zum Büro. In den Varianten des Heimwegs darf keine Regelmäßigkeit aufscheinen.«

      Die Lehrerin sprach aus Erfahrung. Sie hatte eine Diktatur bekämpft, im städtischen Untergrund. Sie wird Flugschriften verfasst haben. Ob sie selber bewaffnet gewesen sei, hat Betty nie gefragt. Nach einem Volksaufstand musste der Diktator das Land verlassen, eine neue Regierung wurde gewählt, eine Präsidentin. Der Kalte Krieg ging dann bald zu Ende. Die Schwadronen blieben jedoch aktiv, im politischen Untergrund wurde auch die neue Präsidentin bekämpft. Aber Bettys Lehrerin hatte einen persönlichen, einseitigen Waffenstillstand verhängt, ihr Kollektiv verlassen, sie war aufgetaucht, um eine Stelle am College anzutreten. Den Namen, den sie vierzehn Jahre lang getragen hatte, legte sie ab. Es kam noch vor, dass sie nicht reagierte, wenn man sie bei ihrem Taufnamen rief, aber langsam gewöhnte sie sich daran, wieder Celia Magnayon de la Cruz zu heißen. Und sie schien es zu genießen, dass die junge Frau, die ihr zugelaufen war, Verwendung fand für einige der Tricks, die ihr jahrelang geholfen hatten, den Tod ein wenig hinauszuschieben.

      Betty war oft sehr gut gelaunt, wenn sie Celias Haus verließ und kurz überlegte, ob sie zum Jeepney, einem Kleinbus, gehen sollte, der blühenden Bougainvillea entlang oder zum Stand der Motorradtaxis; vielleicht war ein langer Spaziergang angesagt. »Nicht immer nur dann schlendern, wenn das Wetter schön, aber nicht zu heiß ist«, sagte sie sich. Spazieren bei Regen war ebenfalls auffällig. Man könnte jemandem ins Auge springen, der sonst gar nicht bemerkt hätte, dass da eine junge Frau mit deutlich chinesischen Gesichtszügen durchs Quartier ging. Bei guter Laune waren solche Überlegungen aufregend, ihr neues Leben erschien ihr abenteuerlich. Und sobald sie in einem Jeepney Platz nahm, fühlte sie sich sicher.

      Der Verkehr im Großraum Manila sei mündlich organisiert gewesen, heißt es in der »Vita«. Zahlreiche Fahrer hätten Sitzplätze in umgebauten, bunt bemalten Militärjeeps angeboten. Zwölf bis zwanzig Leute seien seitlich aufgereiht im langen Schiff des Gefährts gesessen. Draußen prangten religiöse Botschaften und Pin-Up-Girls, drinnen saß eine kleine Gemeinschaft, deren Regeln jeder verstand, der neu dazukam. Betty und Petra verwendeten die Jeepneys oft als Metapher. Genauso unverwüstlich, weil einfach, stellten sie sich die Regeln des Ordens vor. Du fragst, erhältst eine Antwort, reichst das Geld durch, das Wechselgeld wird dir zurückgereicht. Alle sind Schaffner und Passagier in einem. Es braucht nichts Schriftliches, solange man reden kann und Leute ein- und aussteigen.

      Als junge Frau mochte Betty nächtliche Fahrten, wenn eine schwache Glühbirne mit wackelndem Licht das Innere des Jeepneys erhellte und die Gesichter der müden Passagiere zu sehen waren, ihre geschlossenen Augen oder verschleierten Blicke. Sie lernte, sich so an einer Deckenstange festzuhalten, dass sie ihren Kopf in die Armbeuge legen und ein wenig schlafen konnte. Dann war sie aber nicht zur Stelle, wenn Geld für den Fahrpreis oder Wechselgeld durchgereicht wurde, von einem zum andern. Betty fühlte sich im nächtlichen Jeep an urzeitliche Kähne erinnert, an die malaiischen Seefahrer, die von Westen her weitere Inseln ansteuerten, jeder Kahn ein Dorf. Wochenlang fuhren sie von Java her übers Meer und besiedelten Insel um Insel, eng zusammengekauert in einem riesigen Hohlbaum waren sie in der Bucht von Manila angekommen, um hier heimisch zu werden. So schaukelte auch Betty durch die Stadt, als sei sie auf dem Weg zu ihrer Insel, die sie besiedeln würde, umgeben von fremden Leuten, die so eng saßen, dass sie sich gegenseitig stützten; unter diesen Passagieren konnte man nicht vom Sitz fallen. »La pobre inocencia de la gente«, sang Mercedes Sosa auf einer alten Musikkassette, die Celia manchmal einschob. Jede Schnulze, die ein Jeepneyfahrer laut scheppernd laufen ließ, schien Betty zu versprechen, dass dieses arme Volk unschuldig sei.

      Aber an schlechten Tagen, wenn sie müde und mit Kopfschmerzen erwachte, hangelte sie sich kraftlos in den Jeep, verdammte die Lautsprecher, die plärrend ihre Schmerzen verstärkten. Manchmal war sie den Tränen nahe, wenn sie eineinhalb Stunden am Boulevard stand, unter lauter Leuten, die ebenfalls auf eine Gelegenheit warteten, nach Hause zu kommen, und verregnet wurden, weil es nichts nützte, unter dem Unterstand zu warten. Der war zu klein und kein Jeep fuhr bis zum Unterstand. Man musste sich auf die Fahrbahn hinauswagen, einem Jeep nachrennen und aufspringen, sonst war er voll und brauste an den nassen Leuten vorbei, die da unglücklich warteten. An solchen Tagen schien sich die Stadt gegen sie zu wenden. Dann klammerte sich Betty an ihrer Tasche fest, um nicht auch noch bestohlen zu werden. Es kam vor, dass sie auf die Wasserlachen nicht mehr achtete und knöcheltief in dreckiger Brühe stand. Das war auch nicht schlimmer als scheel angeblickt zu werden, weil ihr Tränen übers Gesicht liefen.

      Aber selbst an solchen Tagen wurde sie froh, wenn an einer Kreuzung auf einer Plakatwand, haushoch über allen Wartenden das Gesicht von Jet Li zu sehen war. Von Hand gemalt, mit hellroten Backen und leuchtendem Blick thronten stets Filmstars über dem Verkehr. Übermenschlich. Sharon Cuneta. Fernando Po Junior. Und manchmal auch der Kämpfer aus Beijing,


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