Tiefenlager. Annette Hug

Tiefenlager - Annette Hug


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Stammhaus steht uns noch klar vor Augen, wir träumen alle davon. Kurt kannte es am besten. Er wurde anfangs als Hausmeister verpflichtet, als Angestellter, und ist dem Orden dann unverhofft beigetreten. Mit Anatol, der als vierter ankam, arbeitete er im Simulatorium. Als die Pioniere ihre Ämter benannten, erhielt Kurt den Titel »Maschinist«. Er sorgte für den Hof mit allem Drum und Dran.

      Der Bauer, dem das Land gehört hatte, war in den 1960er Jahren ermuntert worden, sein kleines Haus im Dorf zu räumen und auf freiem Feld technisch aufzurüsten. Da er kein Ackerland verbauen wollte, zog er in den ehemaligen Steinbruch. Dort ließ er eine Maschinenhalle errichten, einen großen Stall und ein Einfamilienhaus. Letzteres war zu klein für den Orden. Kurt baute den Keller aus, als sich Anatol angekündigt hatte, und als auch Céline anreiste, wurde der Dachstock isoliert und wohnlich eingerichtet. Petra ging Kurt zur Hand, wo sie konnte, Betty kümmerte sich um den Garten. Viel studiert haben alle, gelesen, gerechnet und geschrieben. Die Ersten Fünf gingen davon aus, dass sie zu wenig wussten. Sie wollten alles besser verstehen und genossen es, dass sie dafür unglaublich viel Zeit hatten.

      »Ein Kloster lagert kein totes Wissen«, versprachen sie den Neuen, die sie anwarben. »Jede Generation wird übersetzen, anreichern und prüfen. Wir werden immer wieder die richtigen Sprachen finden.«

      Im Sommer ’16 kamen zehn Neue dazu. Wir füllten die Ämter auf, sorgten für neue Einnahmen und erhöhte Aktivität. Auch Streit brach aus. Aber wir fanden wieder zur Einheit, legten Regeln fest. Die meisten von uns nahmen nicht wahr, dass sich ein Zerwürfnis mit dem Konsortium anbahnte. Nur wenige bekamen die Nachrichten zu Gesicht, die Petra mit der Finanzabteilung unserer Auftraggeber wechselte. Bis die bekannt gaben, unser Versuch sei gescheitert. Da schrieben wir den Frühling ’17. Das Gebilde, das uns konzipiert hatte, schien weit weg. Unter uns sprachen wir nur noch abfällig von den Konsorten. Den Namen des Zuständigen sprachen wir gar nicht mehr aus. Die uns geprüft haben wollen, hatten keine Vorstellung davon, was bei uns gedieh. Sie verstanden nicht, was es heißt, ein Gelübde abzulegen, sein restliches Leben einer Aufgabe zu widmen. Sie konnten uns nicht abschaffen.

      Wir finden neue Brüder und Schwestern. Wer irgendwo aufgerieben wird zwischen panischer Hektik und ängstlicher Starre, findet bei uns eine Insel der Vernunft. Wir lernen und arbeiten. Was uns antreibt, findet sich in klassischen Werken von Irmtraud Morgner und Alexander Kluge, auch im altchinesischen Zhuangzi, es zeigt sich in morgendlichen Übungen, in Losungen und Lektionen, in den Regeln der Gemeinschaft. »Anatols große und erweitere Formelsammlung« liefert die Grundlage für Simulationen, die zuerst in der Maschinenhalle des Stammhauses Gestalt annahmen. Jedes Mitglied musste dort in einen verkabelten Anzug schlüpfen, einen Helm aufsetzen, sich mit dem digitalen Hirn eines Roboters vereinen, nach einem Alarm in Kavernen absteigen, in sicherem Abstand von jedem Lebewesen Risse im Fels vermessen, einen Wassereinbruch bekämpfen oder Schweißnähte prüfen.

      Im Nachwort von Anatols Formelsammlung steht die Bezeichnung »Mindere Forscher«, die dem Orden, seiner Demut und seinem unendlichen Ehrgeiz am besten entspricht.

      4.

      Anatol wusste genau, was für eine Kirche er sicher nicht gründen würde. Keinen einzigen Tod werde er schönreden, sagte er gleich bei seiner Ankunft zu Petra, sein Innenleben sei streng privat, Rechenschaft werde er nur über seine Taten ablegen. Auch singe er nur, wenn ihm danach sei.

      »Wird hier gesungen?«

      »Bisher nur privat«, gab Petra zur Antwort.

      »Wer versteht etwas von Nuklearphysik?«

      »Kurt. Vom Praktischen her.«

      »Und sonst?«

      »Niemand.«

      Anatol war Nuklearphysiker. Er kannte sich aus. »Mehr vom Theoretischen her«, sagte er nach einigen Wochen zu Kurt, denn er hatte nur kurze Zeit in einem Atomkraftwerk gearbeitet. Das war in den 1990 er Jahren gewesen, also schon lange her. Damals hatten die jüngeren Ingenieure und die Hilfsarbeiter für höhere Zulagen protestiert. Bald hatten sie alle gegen sich aufgebracht: die Alten, die Kommunisten, die Kapitalisten, Präsident Jelzin persönlich. Seither wusste Anatol auch ganz genau, was für einer Gewerkschaft er bestimmt nie beitreten würde: Einer Staatsgewerkschaft, die sich wie ein wankender Stahlturm auf jeden Funken Unruhe fallen lässt, alles platt macht, selbst wenn es den Staat, dem sie angehört, gar nicht mehr gibt.

      »Dunkel«, sagte Betty auf Deutsch, als ihr Anatol erzählte, wie es damals gewesen sei in dem russischen AKW, wo er Anarchosyndikalist geworden war.

      Petra bat ihn, das Amt des Forschers zu übernehmen, Physik und einiges mehr zu unterrichten. So begann Anatol, an seiner Formelsammlung zu arbeiten, Lektionen zu entwickeln, und mit Kurt saß er täglich zusammen, bis die erste Simulation lief.

      »Worauf gründest Du Deine Hoffnung?«, fragte ihn Betty am ersten Tag.

      »Auf uns und unsere Bereitschaft zum Opfer.«

      Die Aufnahmebedingungen des Ordens hatten ihm sofort eingeleuchtet: Ein Mensch, der eintritt, muss mindestens 45 Jahre alt sein. Allfälligen Erben ist ein Pflichtteil auszuzahlen, das restliche Vermögen ist einzubringen. Von der Möglichkeit, in diesem Leben noch einmal Vater oder Mutter zu werden, ist glaubhaft Abschied zu nehmen.

      Als das erste gemeinsame Gewand eingeführt wurde, sprach sich Anatol für einen kyrillischen Schriftzug auf der rechten, äußeren Hosennaht aus. Das Wort, das da stehen sollte, hieß auf Russisch und auf Deutsch »Liquidator«. Die Hose konnte sehr günstig und in großen Mengen im Laden des landwirtschaftlichen Genossenschaftsbundes gekauft werden. Es war eine graue Arbeitshose mit schwarzen Taschen. Ликвидатор sollte stets daran erinnern, dass der Träger dieser Hose zu sterben bereit war.

      Wenn Anatol betete, dann für die Seelen jener Männer, die in Tschernobyl auf das Dach von Block 3 gestiegen waren, als Block 4 schon durchgebrannt war, und für die Bauarbeiter, die mit Beton einen Sarkophag errichteten und dabei verstrahlt wurden, für die Krankenschwestern, die Patienten auch dann noch pflegten, wenn sie zu gefährlichen Strahlenquellen geworden waren. Niemand konnte alle Namen der Toten nennen, es waren Tausende, Zehn- vielleicht Hunderttausende. Aber einige Namen nannte Anatol im zweiten April, als wir unsere Arbeit unterbrachen, um der Liquidatoren von Tschernobyl zu gedenken.

      Weil er keinem Staat mehr angehören wollte, der Tausende von Menschen unwissend in den Tod schickt, war Anatol zum Orden gestoßen. Irgendjemand musste im Notfall freiwillig tun, was zu tun war.

      Kurt sah das genauso, aber er hatte eine bessere Meinung von AKWs, von Staaten und von Kirchen. Sogar dem Konsortium brachte er zu Beginn ein gewisses Vertrauen entgegen. Ein Konzern, der dem Konsortium angehörte, betrieb in der Nähe des Stammhauses einen Atommeiler. Dort war Kurt jahrelang angestellt gewesen. Als ihm ein Zerwürfnis mit seinem Vorgesetzten die Arbeit erschwerte, boten sie ihm eine Stelle als Hausmeister der neuen Außenstelle an. So schied er aus dem Dienst im AKW aus, kümmerte sich im alten Steinbruch um die Gebäude des Ordens, um das Wohnhaus und die Maschinenhalle. Im Garten arbeitete er Seite an Seite mit Betty Wang. Er kannte den Boden besser und das Gemüse. Sie war ihm körperlich überlegen. Das hätte er nicht erwartet.

      Im AKW war Kurt der Hektik stets mit Ruhe begegnet. Nur so sei ein Unfall zu vermeiden, ermahnte er Petra, wenn sie klappernd und stolpernd unterwegs war. Das wusste auch Betty. Sie kam aus einem Land, in dem die Leute abfällig sagten: »Der hat wohl pressiert«, wenn einer von einer Leiter stürzte, auf der Treppe stolperte oder einen Teller fallen ließ. »Nöd jufle«, war einer der wenigen alemannischen Ausdrücke, die ins Alltagsenglisch des Ordens eingingen: »Nichts überstürzen. Nicht huddeln. Don’t hurry«.

      Kurt arbeitete nicht langsam, aber in einem steten Rhythmus. Bevor er ein Gerät ablegte, schaute er genau hin, ob da Platz war. Er hob auch nichts auf, ohne sich zuerst zu vergewissern, ob wirklich das Werkzeug bereitlag, das er sich vorgestellt hatte. Vier Bildschirme konnte er stundenlang parallel und aufmerksam betrachten, ohne etwas in eine Tastatur zu tippen, auch ohne einzunicken. Bei Routinearbeiten führte er die Handgriffe so exakt aus, als sei er selber eine Maschine. Automatisch, aber nicht gedankenlos.

      Im


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