Tiefenlager. Annette Hug

Tiefenlager - Annette Hug


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Wildes Herumhacken war ihm ein Gräuel. Mit Betty teilte er die Devise: »Man muss den Kopf bei der Sache haben.«

      »Das falsche Ventil geöffnet, schon steigt der Druck. Zwei Eimer verwechselt, schon fließt verstrahltes Material, wo es nicht sollte. Ein kleiner Fehler reiht sich an den nächsten, das gibt noch keinen GAU, aber die Strahlung steigt, die Nervosität auch und die Fehlerquellen nehmen zu. Kühlen Kopf bewahren, heißt es dann. Und wenn du Pech hast, rasieren sie dir abends diesen Kopf, damit dich die eigenen Haare nicht verstrahlen. Wie ein Sträfling kommst du aus der Schicht und weißt, dass die Gesamtdosis in deinem Körper wieder stark angestiegen ist. Wenn es so weitergeht, entlassen sie dich Jahre vor der Pension.«

      Kurt hatte nicht nur im nahe gelegenen AKW gearbeitet, sondern auch in einer Anlage in Frankreich. Er hatte geholfen, einen alten Meiler abzubauen, war dann heimgekehrt und auf einen recht viel jüngeren Vorgesetzten getroffen, der ihm Floskeln servierte, neue Beurteilungskriterien. Es kam zu Störungen und zu Rückenschmerzen. Die hielten im Kloster nicht lange an. Betty zeigte ihm Übungen. Auch im Garten konnte jede Kniebeuge, jedes Anheben der Schubkarre, jede einzelne Bewegung mit Konzentration, muskelstärkend und kräfteschonend ausgeführt werden. Bald turnte der ganze Orden vor dem Frühstück. Kurt und Betty lieferten ab und zu einen Schaukampf.

      Sie brachten die anderen Gründungsmitglieder aber nicht dazu, den Lieblingsfilm der beiden zu mögen: »Die Rückkehr zu den 36 Kammern der Shaolin«. (Ein Film, dessen chinesischer Titel, image, von einem Journalisten als geheimer Name des Ordens missverstanden worden ist.) Hier sei sein Prinzip sehr schön dargelegt, sagte Kurt zu Petra: Ein Junge namens Ah Chieh kann sich nicht vorstellen, dass er in einen Orden aufgenommen würde. Also versucht er sich hineinzuschmuggeln, fliegt aber auf. Der Abt schickt ihn nicht fort, verknurrt ihn stattdessen dazu, das ganze Kloster einzurüsten. Drei Jahre lang arbeitet er am Baugerüst, das er ganz allein aus Bambusstangen aufrichtet, mit starken Schnüren sind die Stangen zu verknoten, bald kann er im Schlaf zwei Stangen übers Kreuz zusammenbinden. Niemand weiht ihn in Geheimnisse ein, kein Meister zeigt ihm etwas. Aber von seinem Gerüst aus schaut er den Mönchen zu, die im Innenhof trainieren. Wie von allein erledigen seine Hände schließlich die Arbeit und ganz nebenbei fließen die Übungen der Mönche in seine Bewegungen ein. Monatelang turnt er auf dem Gerüst herum, wird immer stärker, immer geschickter. Schließlich ist er, ohne es zu merken, ein begnadeter Kämpfer geworden. Mit einem eigenen Stil: Niemand sonst bindet seine Gegner mit starken Schnüren an Möbeln, Säulen und Pfosten fest.

      Petra mochte die Idee, die Kurt und Betty mit diesem Film verbanden, aber sie zerschlug weiter Geschirr in der Küche, weil sie in Gedanken abschweifte und die Hände mitten in einer Bewegung etwas anderes taten, als sie sollten. Sie machte die Übungen mit, aber kaum saß sie an einem Gartenbeet, dachte sie an Bankkonten, ein Leck im Dach oder die kommende Eiszeit. Schon war die Wurzel einer mehrjährigen Rauke entzwei. Dabei hatte sie gehofft, mit dem Eintritt ins Kloster innere Ruhe zu finden. »… ein geruhsames Leben führen …«, hatte der Zuständige gesagt, an jener Bar in Hongkong. Nachdem Petra alle Verträge unterschrieben hatte, vernahm sie nur noch wenig aus der Zentrale, und doch schien sich die ganze Nervosität des Konsortiums im Klosterhof zu entladen. Die technischen und organisatorischen Probleme des Tiefenlagers vermehrten sich mit jedem Planungsschritt und es dauerte Monate, bis Petra erstmals daran glaubte, dass sich der Orden finanzieren ließe. In jener ersten Zeit mochte sie sich treulich hinter Betty stellen und ihre langsamen Schritte imitieren, tief in den Bauch atmen, ausatmen, die Hände schwenken lassen, als seien sie von höheren Kräften getragen. Aber kaum hatte sie den ewigen Atem der Welt aus ihrer Brust entlassen, stürzten Sorgen auf sie ein. Nachts lag sie noch lange wach im Bett – bis die erste Million zusammen war und Céline eine eigenwillige Pentatonik einführte. Von den Fünftonreihen alter Mönchsgesänge und chinesischer Elegien wollte sie nichts wissen. Besinnliches machte sie nervös. Aber eine Obsession mit der Zahl Fünf war von Betty auf sie übergegangen. Fünf Klangspuren sollten es sein: metallische Geräusche, Vogelstimmen, Wummern und Schlagen. Manchmal sang jemand mit. Anatol hatte einen wunderbaren Bass.

      5.

      Niemand schien so unverrückbar an den Auftrag des Ordens zu glauben wie Betty Wang. Sie sprach selten, dann aber ausführlich und verästelt, sie sang leise, fast zu vorsichtig, arbeitete im Garten, übte sich im Kampfsport und versah das Amt der Medica. Woher ihr Glaube kam und wie man ihn nennen sollte, war schwer zu sagen.

      In Manila war sie aufgewachsen. Als sie dort geboren wurde, galt sie noch als Ausländerin. Viele Jahre sah sie nichts als einen kleinen Ausschnitt ihres Viertels, ein kurzes Straßenstück und ihren Schulweg. Stundenlang schaute sie aus demselben Fenster auf den gegenüberliegenden Gehsteig, die sanft gerundete Kante, die alle paar Jahre weiß bemalt wurde, damit der Randstein wieder frisch aussah und mit ihm die ganze Straße. Auch von den Schachtdeckeln kannte sie jeden einzelnen, rechteckige Zementblöcke, die mit einer eisernen, eingegossenen Schlaufe versehen waren. Alle paar Jahre kam jemand, um den Deckel hochzuheben. Wenn die Regenzeit begann und die ersten Stürme über die Stadt fegten, trat Wasser aus den Kanälen, es stieg durch die Löcher in den bröckelnden Schachtdeckeln und verband sich nachmittags mit dem niederprasselnden Regen. Aus der Nachbarschaft tauchten Kinder auf, die kreischend vor Freude in der Überschwemmung plantschten, als sei das ihr Swimmingpool. Denn jetzt war der Sommer vorbei, die Hitze vorüber, das musste gefeiert werden.

      Betty, ihre Schwestern und Brüder fragten erst gar nicht, ob sie auch nach draußen dürften, um mit den Kindern im Wasser herumzuhopsen. Sie saßen nur still hinter dem Fenster und schauten zu.

      Auch Monate später, als es immer noch regnete und die Kinder verschwunden waren, das Wasser aber tagelang wie ein ruhiger, schmutziger Strom durch die Straße floss, saß Betty am selben Platz. Sie sehnte sich nach dem Sommer, den gelben Blüten der Bäume, die im Garten des Nachbars wuchsen. Sie freute sich auf das Weiß des Randsteins, sein fluoreszierendes Leuchten in der Sonne. Dann würden auch die Kinder zurückkommen, die Jungen vor allem, und abends vor dem Fenster spielen, bis es dunkel wurde.

      Wenn sie sich vom Fenster ab und dem Fernseher zuwandte, sah sie auf dem kleinen Bildschirm, dass es jenseits ihrer Straße Boulevards gab, sechsspurig. Sie führten sternförmig in die Außenstädte; es gab ein Meer, neue Brücken, blitzblanke Einbauküchen, dicht bevölkerte, stählerne Fußgängerüberführungen, Einkaufszentren, Glitzerwelten, die sich hinter hohen Betonfassaden verbargen, Konzerthallen, Hochhäuser, Baukräne, Armen- und Villenviertel, die vom Meer her die Hügel hochwuchsen, sich in Wälder und Felder hineinfraßen.

      Ihr Vater hatte ein eigenes Geschäft. Er lackierte Autos und blies Luft in ihre Reifen. Vor dem Geschäft stand, in roten Lettern auf orangem Grund: »vulcanizing shop« und Betty verstand nicht, was die Autopneus mit Vulkanen verband, was ihren Vater aus dem uralten Land hinterm Meer vertrieben hatte, aus jenem China, das er jeden Tag verteidigte, mit jeder Mahlzeit, jedem Balsam, den er einem seiner fünf Kinder einrieb, mit jedem Eintrag ins Kassenbuch. Er verbunkerte sich im Geschäft, das nicht weit vom Wohnhaus entfernt lag, am nächstgelegenen Boulevard, und gebot auch den Kindern Vorsicht. Betty wurde von großen Geschwistern, einem Onkel oder Cousin begleitet, wenn sie das Haus verließ.

      Diese Geschichte hat Betty Petra diktiert. Oder vielleicht auch nur skizziert, ich meine beim Lesen oft Petras Stimme zu hören: »Vita of Betty Wang or the beginning of our common life« heißt das schmale Buch, das auch über den Orden hinaus zirkuliert. Seit wir verstreut sind, müssen wir viel mehr aufschreiben.

      Mit dem Titel »Vita« bin ich nicht einverstanden, schließlich lebt Betty noch. Sie treibt uns weiter an. Nur das, was dasteht, ist abgeschlossen. Aus den verwirrenden Momenten eines Lebens hat sich eine feste Ordnung gefügt.

      Als kleines Kind konnte Betty nicht wissen, wem in jener Straße von Manila die andern, die einheimischen Kinder verpflichtet waren, diese Jungen, die abends vor dem Haus auftauchten, sobald die Regenzeit vorbei war, Basketball spielten und dabei genauso plötzlich und schnell in die Luft sprangen, wie der harte Ball vom Boden abprallte. Betty beobachtete sie durch das Fliegengitter vor dem Fenster und durch die massiven Stäbe, die sie vor den Einbrechern schützten, vor den Entführern.


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