Tiefenlager. Annette Hug

Tiefenlager - Annette Hug


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sie es beide begrüßt hatten, plötzlich weiße Haare zu haben. Gerne wären sie abgeklärt gewesen, weise und imstande, Eruptionen von Vulkanen, Militärgewalt und Volkszorn vorauszusehen.

      Persönlich war Petra von Gefühlsausbrüchen getrieben. Weil sie sich verliebt hatte, war sie in Manila gelandet. Im gekühlten Büro, in dem sie Arbeit gefunden hatte, trug sie eine alte Angst ab. Einen guten Teil ihrer Kindheit war sie davon ausgegangen, dass ein Atomkrieg ihr Leben früh beenden würde. Eine Bombe war angekündigt. Feuersbrünste würden den europäischen Kontinent verheeren, hatte sie gehört, und jeder Donner weckte fortan die Erwartung, dass der Himmel bersten könnte. Bomben einzumotten, schien ihr jahrelang das Wichtigste auf der Welt. Es erfüllte sie mit tiefer Freude, dass die amerikanischen Kampfjets in der Nähe von Manila unter Vulkanasche verschwanden. Von Gesetzen, die Börsenkurse mit Hunger und Truppeneinsätzen verbanden, meinte sie eine ungefähre Ahnung zu haben und beim Übertragen von Handnotizen in Excel-Tabellen entdeckte sie, dass sie den Zahlen, die sie prüfen konnte, mehr vertraute als allen Worten. Wenn sich wirklich Geld verschob, Eigentümer wechselten und ungeahnte Ausgaben finanzierbar wurden, sah Petra tieferen Sinn, Besänftigung und Möglichkeiten von Glück. Das Wohlstandsgefälle wollte sie Posten um Posten abtragen. Und sie gewann Freundinnen. In Bierschuppen und privaten Gärten trafen sich damals Studentinnen und Studenten aus der Stadt, aus den Provinzen und aus Übersee, Juristen, die gerade ihre ersten Fälle betreuten, verarmte Töchter auf der Suche nach einer Aufgabe, angehende Expertinnen aus Japan, Nepal oder Vietnam, verquere Ökonomen; alle sprachen irgendwie Tagalog oder Englisch. Die meisten protestierten auch gegen die Regierung, die ihnen mutlos und korrupt erschien. Sie verketteten sich in Viererreihen, die Arme schmerzhaft eingehakt, bewaffnete Polizisten im Blick, und sie diskutierten nächtelang, man durfte in jenen Bierschuppen abschweifen beim Erzählen, den Faden verlieren, weil ihn bestimmt jemand anders aufnehmen würde, irgendwann kam das Gespräch zurück zur Frage, was zu tun sei. Jetzt, da der Kalte Krieg zu Ende gegangen war. An einigen Orten der Welt, zum Beispiel in Manila, hielt die Hoffnung auf einen großen Frieden an. Fernen Massakern sah man ungläubig zu.

      Betty Wang trug ihr Haar damals hüftlang. Sie studierte Krankenpflege, sah dem Berufsalltag in blassgrüner Uniform mit gemischten Gefühlen entgegen. Stumm und steif stand sie dabei, wenn andere in einem privaten Garten tanzten. Nur wenn die Nächte lang wurden, kam Betty manchmal ins Reden. Einmal sagte sie klar und deutlich, dass sie für nichts in der Welt zur Waffe greifen würde. Petra erinnerte sich an den Eklat: Betty wurde von einer älteren Dame gescholten, gab laut zurück, stieß dabei Worte aus wie Pressluft, die sich in jahrelanger Ehrerbietung angestaut hatten. Und sie übernachtete manchmal wie Petra im Büro. In einem kleinen Hinterzimmer wurden Seegrasmatten ausgerollt. Darauf lagen auch drei Kinder und eine Mutter. Kleine Jungen, noch nicht acht Jahre alt, sprangen herum, als sei der harte Flur ein Trampolin, sie ließen sich auf die kreischenden Frauen fallen. Bevor sie nicht in eine Wand gekracht und laut weinend zusammengesackt waren, fielen sie nicht in den Schlaf. Daran erinnerte sich Betty, in der hintersten Nische eines Kaffeeladens in Hongkong.

      Als der Kalte Krieg zu Ende gegangen war, zogen die amerikanischen Truppen aus den Philippinen ab. Patrioten aller Couleur jubelten, auch Frauenverbände und Kreditgenossenschaften. In ihren Büros wurde gefeiert. Dann standen Mütter vor der Tür und sagten: »Wir haben mit euch die Amerikaner vertrieben, jetzt hungern unsere Kinder.« Aus den verlassenen Bars der Truppenstützpunkte waren sie in die Hauptstadt gezogen und quartierten sich in Hinterzimmern ein, übernahmen Hausarbeit, die auch in Büros anfiel. Nachts breiteten sie Seegrasmatten aus und gewährten den jungen Angestellten Obdach, wenn allgemein gewarnt wurde; damals, als Betty und Petra gleichzeitig den nächtlichen Heimweg scheuten, machten Polizisten Jagd auf junge Frauen, die zwischen elf und ein Uhr nachts ihre Schicht beendeten. In Hongkong erinnerten sich beide ohne Schrecken an die Mordserie. Ihre Angst hatte sich in der Erinnerung an die springenden und lachenden Jungen aufgelöst.

      »Unglaublich schlecht erzogene Kinder«, sagte Betty.

      Petra sprach kurz von beruflichen Stationen: Sie hatte oft die Stelle gewechselt. Mit vierzig hatte sie begonnen, Ratschläge zu erteilen. Sie berechnete Zukunftsaussichten und Alterskapital, reiste von Land zu Land. Nach Hongkong kam sie häufig. Wenn sie einmal nach Hause zurückkehrte, wohnte sie dort in einer Pension.

      Mütter waren gestorben. Petra sprach davon, dass die Luft zum Atmen dünner geworden sei. Betty nickte, als sei ihr das Gefühl bekannt.

      »Liebe?«

      Betty schüttelte den Kopf und kam dann auf das Hinterzimmer jenes Büros zurück: »Da war doch auch das kleine Mädchen …«

      »Hieß sie Baby Lu?«

      »Die Jungen waren eingeschlafen, da stand sie vorsichtig auf. Sie kam auf uns zu und sagte ganz leise, fast flüsternd: ›Ratet mal, wer ich bin!‹ Sie schien selbst gespannt auf die Antwort. Und wusste nicht: Würde sie gleich jemand anders werden? Noch bevor wir antworten konnten, sagte sie: ›Ich bin …‹, hielt den Atem an. Ein einziges Wort würde ihr einen neuen Körper bescheren. ›Ich bin ein Vogel‹, sagte sie mit aufgerissenen Augen, ausgestreckten Armen. ›Guten Abend, Frau Vogel‹, sagten wir leise, um die Jungen nicht aufzuwecken. Daran habe ich oft gedacht: An den Blick in ihren Augen. Ich habe sie beneidet um den Schauer und den Mut, mit dem sie sagte: ›Ich bin ein Vogel.‹ Immer wieder sagte sie das, zwanzig, fünfzig Mal. Der Zauber schwächte sich nicht ab.«

      Petra erinnerte sich nicht an die Szene, aber das Gesicht des Mädchens sah sie deutlich vor sich. In jenem Hinterzimmer schien alles ausgesetzt, was unaufhaltsam und zermürbend seinen Lauf nahm: Morde und Truppenverschiebungen, heiser gebrüllte Reden. Betty entzog sich den politischen Wallungen. Aus dem Büro wechselte sie in einen strengen Schichtplan. Mit leisem Neid hörte Petra, dass Betty mehr als fünfzehn Jahre im selben Spital gearbeitet hatte.

      »Das, was ich da machte, war immer notwendig.«

      »Und jetzt, in Hongkong?«

      »Kein Vergleich.«

      Zum ersten Mal blitzten Bettys Augen auf, als stünde sie wieder kampfbereit in einer Menge, die ihr gespannt beim Streiten zusah. Hongkong sei ein Patient auf der Intensivstation, er werde mit Pumpen am Leben erhalten, alles sei auf Dialyse durch künstliche Nieren angewiesen, auf Sauerstoffzufuhr, Impulse fürs Herz. Würde man die Maschinen alle auf einmal abstellen, wäre der Patient sofort tot. Der Umstieg auf die eigene Atmung müsse sorgfältig eingeleitet werden. Wie überall. Einen sachten Ausstieg aus der künstlichen Überhitzung der Welt skizzierte sie und wirkte zuversichtlich. Sie würde gern wieder in einem High-Tech-Spital arbeiten, in einer internationalen Organisation vielleicht auch, egal wo auf der Welt. Seit zwei Jahren sei sie ohne Uniform, beruflich in der Schwebe. Hongkong sei der falsche Ort für das Leben, das sie sich noch vorgenommen habe.

      »Wir könnten zusammen ein Kloster gründen«, sagte Petra.

      So sind wir in die Welt gekommen. Hätte Betty in jenem Moment gelacht oder das Gesicht verzogen, dann gäbe es uns nicht. Sie blickte aber ausdruckslos, doch irgendwie offen, sonst hätte Petra nicht den Mut gefasst, von einem Plan zu erzählen, den sie seit einem Tag und einer Nacht in Erwägung zog. In einem schwachen Moment war er ihr zugefallen.

      Sie hatte in Hongkong über die Zukunft von Altersrenten diskutiert, in wechselnden Sprachen. Prognosen gingen weit auseinander. Zahlen wurden an die Wand projiziert, die niemand belegen konnte. Trotzdem wurden sie von markigen Worten begleitet, von großen Tönen. Petra versackte. Lustlos saß sie da, stahl sich dann weg, verirrte sich in die Zwischenetage eines Hochhauses, das an Plattenbauten erinnerte – dort habe sie sich nicht verloren gefühlt, erzählte sie uns später, mit plötzlicher Neugier habe sie die Reste vergilbter Klebestreifen an den Wänden betrachtet und die erstbeste Tür geöffnet. Sie trat auf den spiegelnden Boden einer Einkaufspassage, ging durch eine Parfumwolke in die Partymeile, dort lockte eine mexikanische Bar mit freien Hockern. Und da saß auch schon ein anderer Teilnehmer der Konferenz, ein alter Bekannter, Spezialist für die Berechnung von Wahrscheinlichkeiten. Später nannten wir ihn »den Zuständigen«, irgendwann konnten wir seinen Namen nicht mehr aussprechen, ohne zu fluchen.

      In Hongkong trank er mit Petra eine Flasche Wein, dann härtere Absacker. Der Alkohol sorgte dafür, dass Statistiken entgleisten,


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