Tiefenlager. Annette Hug

Tiefenlager - Annette Hug


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ein neuer Kung-Fu-Streifen lief, musste Betty allein ins Kino. Ihre Freundinnen zogen Woody Allen vor, alles mit Jodie Foster oder Susan Sarandon. Sie verstanden nicht, was Betty daran fand, die ganz alten Filme von Jackie Chan, die sie vom Fernsehen kannte, auf Kassette zu suchen, im Wohnzimmer von Celia immer wieder anzuschauen. Sie seien doch kaum von einander zu unterscheiden: Immer läuft der dumme Junge von zu Hause fort, wird weggejagt, weil er zu blöd zum Leben ist. Und dann findet er seinen Meister – streng, stumm und gütig. Stundenlang sieht man den Jungen üben, bis er wirklich kämpfen kann und ein Einsehen hat, ein bisschen weise wird – gerade rechtzeitig, um den bösen Feind seines Meisters zu besiegen.

      Betty liebte die eine Szene, die in keinem Film fehlen durfte: Der dumme Junge muss eine kleine Teetasse auf Stecken balancieren, dabei turnen, die Tasse von einem auf den andern Stecken springen lassen, bald jongliert er mehrere Tassen, bewegt sich immer schneller, aber nie gehetzt, schließlich scheint er zu tanzen. Nichts darf zu Boden fallen.

      Einen Meister des Kampfsports fand Betty lange nicht, aber sie behauptete sich in der Stadt und sie bewunderte ihre neuen Tanten, die sie alle Tita nannte, die vielen Freundinnen von Celia, Frauen über vierzig, die ihr Vater als verrückt bezeichnet hätte, denn sie trugen ab und zu ein buntes Stirnband und Glitzerschmuck, färbten graue Haare nicht schwarz, vertraten stur ihre Meinung, tanzten noch immer auf Partys, ab und zu tranken sie recht viel.

      Tita Rosa legte allen die Karten. Zahlen, Junker und Königinnen verbanden sich mit Waldgöttern, verwehten Feen, Spielern und Guerilleras zu einem Netz, das die ganze Welt umspannte, sich ständig bewegte, keine Verbindung war fest geknüpft, stets musste ein neuer Ausweg gesucht werden aus der Nacht der Seelen. Rosa blickte in der Regel mit verschlossenem Gesicht auf ihre Karten und bat die Besucherinnen, den Eingang selbst zu wählen. Sah sie die Zukunft klar, versteifte sich ihr Rücken und sie sprach mit einer tieferen Stimme, in kurzen Sätzen.

      Man musste ihr nicht glauben. Tita Marilyn lehnte alles ab, was an Vorsehung und Weihrauch erinnerte. Wenn sie schon etwas getrunken hatte, erzählte sie von ihrem Buch, das alles enthielt, was zur Zeit des Diktators geschehen war, was aber niemand zu sagen wagte, weil es wenig heldenhaft war. Sie nannte es Autobiographie und schickte die Kapitel, die sie fertig geschrieben hatte, an eine Freundin in Übersee, verlor ständig ihre Kopien, Festplatten gingen kaputt, Disketten verloren. Dann schickte ihr die Freundin aus Übersee die alten Kapitel zurück. Sie waren stets kürzer und farbloser, als Tita Marilyn gehofft hatte. So war es ihr egal, wenn sie nochmals verloren gingen. Das Buch, das sie schreiben wollte, bestand weiter als Ahnung. Neue Seiten, die entstanden – alle paar Monate – gingen per Luftpost ab. Im Kreis der Freundinnen erzählte sie davon. Betty hatte nie etwas zu lesen gekriegt.

      Wie die anderen jungen Frauen, die sich um die älteren scharten, erhielt sie bezahlte Aufträge von Tita Gloria. Mit Tonbandgeräten streiften sie durch die Armenviertel der Stadt, sammelten Aussagen, schrieben Berichte, Tita Gloria reiste zu Konferenzen der Vereinten Nationen und trug ihre Schlüsse daraus vor. Machte Vorschläge. Manchmal versammelten sich alle Tanten vor dem Regierungsgebäude und demonstrierten gegen eine Preiserhöhung, gegen Armut, Atomwaffen, Imperialismus, Vergewaltigung und Bordelle. Junge Frauen trugen dann die Transparente.

      Betty stellte sich vor, dass sie Jet Li als Onkel neben sich hatte, wenn sie an Soldaten vorbeigingen, die ihre Maschinenpistolen in Anschlag hielten. Sie blickte in die dunklen Visiere und brüllte weiter Parolen, wurde heiser dabei und träumte von einer ruhigen kleinen Wiese vor Hongkong, von einem letzten Kampf, der ganz geordnet stattfand, in chinesischen Gewändern mit weit geschnittenen Ärmeln. Nach dem verdienten Sieg könnte sie langsam über die Wiese gehen, eine Strähne aus dem Gesicht streichen und im Wald verschwinden.

      Im Schatten der Bäume würde sie auch Ruhe finden vom ständigen Aufruhr der Liebschaften. Und vom Heimweh. War sie nachts einmal allein im Haus von Tita Celia, sah sie den kleinen Hausaltar vor sich, den die Mutter täglich pflegte. Die ausbleichenden Fotos der Großeltern. Früchte, die ihnen dargeboten wurden. Räucherstäbchen und eine kleine Statue der heiligen Jungfrau Maria. Manchmal weinte Betty, bis ihr die Augen brannten. Vor jenem Altar hatte sie sich früher abgeschirmt gegen den Lärm der Straße und die Hektik des Fernsehprogramms, auch gegen die Stimmen der Geschwister. Wenn sie sich im Anblick der weißgrauen Fotografien verlor, reagierte sie auf gar nichts mehr, was an sie herangeredet wurde.

      Eines Nachts, als sie im Haus von Tita Celia zu weinen aufgehört hatte, rief sie ihre Mutter an. Die flüsterte in den Apparat. Fortan trafen sie sich heimlich in einem Einkaufszentrum, um Nachrichten auszutauschen.

      Am Sonntagmorgen stand Betty besonders früh auf und ging ziellos spazieren. Es erhob sich kein Verkehr. Selbst die Boulevards blieben seltsam leer. Man sah fast nur Menschen, die zu Fuß gingen. Vögel waren zu hören und die Dunstglocke, die sich an Wochentagen über alles legte, lichtete sich gegen Mittag. Es kam vor, dass am Sonntag ein Stück blauer Himmel zu sehen war. Aus den offenen Kirchen waren Lieder zu hören. Kinderchöre und einsame Priesterstimmen, Hallelujatruppen, klassische Motetten. Alles verband sich auf den Straßen, angenehm ausgedünnt und leise verhallend, mit den Vogelstimmen. Betty hielt es mit Tita Rosa, die sich als Heidenkind bezeichnete, wenn sie die Karten legte. Den großen Religionen stand sie nicht feindselig, aber vorsichtig distanziert gegenüber. Sie sei ab und zu in eine Kirche getreten, habe vom Rand her zugehört, was da gemurmelt, gepredigt oder gesungen wurde, habe hin und wieder ein Gebet gesprochen und sei dann weitergegangen. Am Sonntagmorgen ging Betty von einem Quartier ins andere, sah überall kleine Altäre und zollte ihnen, ohne sich etwas anmerken zu lassen, ihren Respekt. Auf dem Armaturenbrett jedes Jeepneys, der leer herumstand, fand sich eine kleine Statue aus fluoreszierendem Material; wohlriechende, blühende Rosenkränze baumelten über den Auslagen der Straßenverkäufer, daneben verschwammen die dunkel tränenden Augen von Saint Francis. So verlor sie sich in den Straßen und war nicht erreichbar für Zoten, die ihr nachgerufen wurden. Tita Celia kritisierte sie scharf. Man dürfe nicht leichtsinnig werden. Dieser Stadt sei nicht zu trauen, dem frommen Gesäusel schon gar nicht.

      Es standen Prüfungen an. Betty zog sich in ihr Zimmer zurück und lernte. Ihre Freundin kam nicht mehr vorbei, weil sich Betty stets neu verliebte, aber schnell eifersüchtig wurde, wenn das der Freundin auch geschah. Bettys Stadt war nach innen gewachsen, in die Häuser hinein, die Studentenheime auf dem weiten grünen Campus der Staatsuniversität, in verschachtelte Häuser im Hinterhof einer Bäckerei. Betty lernte, in einem Zimmer, in dem fünf Leute schliefen, einen Orgasmus zu genießen, von dem niemand, der nicht beteiligt war, etwas mitbekam. Sie nannte das Implosion. Im Innersten der Stadt zerfiel sie im Glück, fand sich in einem dunklen Himmel wieder, in einer unbekannten Stille. Die suchte sie auch in Stundenhotels, die reichere Freundinnen zahlten, sah sich nackt im Spiegel, der über dem Bett an der Zimmerdecke angebracht war; oder in einer Villa am Stadtrand und in einem Raum, den eine Prinzessin eingerichtet hatte. Ein sanftes Paradies in Rosa und Hellblau, mitten in einem wuchernden Quartier aus ärmlichen Hütten.

      Die »Vita« behauptet, dass Betty in jener Zeit auf eine Entscheidung zusteuerte, einen Ausbruch. Sie soll begonnen haben, an den Ratschlägen der Titas zu zweifeln und offen mit ihnen zu streiten. Die Kritik an ihrem Lebenswandel nagte an ihr; vor den Prüfungen hatte sie Angst, das Geld war knapp, es regnete in Strömen. Nur Jet Li schien unverwüstlich über allem zu thronen. Er sprang nicht nur, er flog durch die Nacht über dem Boulevard und den Passagieren, die nass gespritzt wurden, während sie auf eine Fahrgelegenheit warteten.

      Manchmal fuhr Betty eine Freundin unwirsch an, die nach ihrem Befinden fragte. Von einer Party lief sie weg, ohne irgendjemandem gesagt zu haben, dass sie plötzlich nichts mehr hörte. Als seien ihre Ohren dicht. Nachts schlief sie schlecht. Sie träumte von bleiernen Jeeps, die im Meer versanken. Still ergaben sich die Passagiere dem Wasser. Betty erwachte schreiend. Aber es sei ihr gelungen, den Atem zu beruhigen. Betty habe auch Worte gefunden, um murmelnd Mut zu schöpfen. Eine Ahnung von etwas Größerem habe sich eingestellt und breit gemacht. Eine neue Rührung. Eines Tages sei sie zu Tita Celia ins Wohnzimmer getreten und habe verkündet, von nun an wolle sie sich dem Ernst des Lebens stellen. Noch in derselben Woche zog sie in ein Personalzimmer des größten städtischen Krankenhauses. Es wurde schwierig, den Kontakt zu Freundinnen zu halten, die in anderen Quartieren wohnten. Aus den Volksmassen, die Tita Gloria in ihren Berichten an die Vereinten Nationen beschworen


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